Montag, 15. Februar 2021

Der Professor aus Heidelberg (Teil 2)

Dem Referat anschließend erfolgte eine Auswertung in kleineren Gruppen. Der Zufall führte mich in eine Gruppe von 8 Personen. Das Resümee, um es vorweg zu nehmen, würde ich so bezeichnen: „Die Botschaft hört´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“.

Die Gespräche waren interessant. Eine junge Pastorin nutzte die Gelegenheit, um die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen vorzustellen. Die Idee wurde als interessant empfunden, weil man der Meinung war, dass Menschen auf jeden Fall sinnvoll tätig sein möchten, das Grundeinkommen also nicht zum Nichtstun verleite. Ein andere Frau sagte, dass ihr der Vortrag gut gefallen habe, eigentlich wäre sie gleicher Meinung wie der Professor (von der in Zukunft nötigen Abschaffung der Geldwirtschaft), sie könne sich aber nicht vorstellen, wie das verwirklicht werden solle. Ein Pfarrer beklagte, dass er erst nach der Wende das Wort „Besitzstandswahrung“ kennen gelernt hatte. Denn die westdeutschen Pfarrer hatten, um eben jenen zu wahren, es abgelehnt, einen Teil ihres Gehaltes zu opfern, um ostdeutschen Pfarrern ein ebenso hohes Gehalt wie sie selbst es hatten, zu ermöglichen. Ob unser Moderator, ein Pfarrer mit „Westsozialisation“ darüber beschämt war, weiß ich nicht, zum Glück war er in einem Alter, wo damals seine Besitzstände noch nicht allzu hoch gewesen sein können.

Im Stillen dachte ich an eine Episode von vor gut 25 Jahren, als mir ein Synodaler lebhaft geschildert hatte, wie auf einer pommerschen Synode ein Pfarrer den Vorschlag gemacht hatte, 5 % des Gehaltes, auch wenn es leider nur 80 % des Westgehaltes betrug, für einen Fond bereit zu stellen, der dem damaligen Abbau von Pfarrstellen hätte entgegenwirken können. Die Empörung seiner ostdeutschen Amtsbrüder war nicht geringer als zuvor die der westdeutschen. Gern hätte ich auf meinen Zettel – denn wir spielten ein in kirchlichen Kreisen unvermeidliches Zettelspiel – geschrieben: „Eher wird ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, als dass ein Pastor, egal ob Ost oder West, von seiner Besitzstandswahrung ablässt“, aber ich wollte niemanden verunsichern.

So behielt ich meine Gedanken für mich, sagte aber, dass ich nichts gegen Geld habe, denn ich hätte diese Tausch- und Beziehungswirtschaft in der DDR immer als sehr umständlich gefunden. Und dass ich der Meinung sei, es wäre eine persönliche Entscheidung jedes einzelnen Menschen, wie er zum Geld stehe und wie er damit umgehe. Und dass der Zwang, sein Leben mit finanziellen Mitteln zu bestreiten, zwar oft mit Unannehmlichkeiten verbunden sei, aber dass es auch in unserem Land Menschen gäbe, die sich die Freiheit nähmen, z.B. in Kommunen zu leben, von datumsverfallenen Lebensmitteln zu leben oder sich auf ein ausgeklügeltes Tauschsystem einzulassen. Ab und zu werden solche Menschen sogar in den Medien vorgestellt. Fast jeder in der Runde hatte schon von solchen Menschen gehört, und so wurden meine Ausführungen mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, und es wurde ihnen nicht widersprochen. Zum Schluss meinte man, dass das bedingungslose Grundeinkommen eines Versuches Wert sei. Da ich danach zu einem Termin eilen musste, der ausgerechnet dem Geld verdienen diente, konnte ich an der allgemeinen Endauswertung nicht teilnehmen.

So holte mich diese Auswertung auf den Boden der Realität zurück und bestätigte, dass Menschen interessanter sind als Theorien und dass man zwar mit einer Theorie „im Luftraum des Traums“ schweben kann, aber dass Träume von der Realität eingeholt werden.

Mittwoch, 10. Februar 2021

Der Professor aus Heidelberg (Teil 1)

Ob Heidelberger Professoren eine besondere Affinität zur Beschäftigung mit den Auswirkun-gen der Finanzwirtschaft entwickelt haben? Der als der „Professor aus Heidelberg“ bekannte Paul Kirchhof, Finanz- und Steuerrechtler, war 2005 für den Posten des Finanzministers vor-geschlagen und wollte das deutsche Steuerrecht radikal reformieren. Der andere, seines Zeichens ebenfalls Professor aus Heidelberg und zwar im Fach Theologie, Ulrich Duchrow, möchte am liebsten das Geld überhaupt abschaffen und sieht in ihm die Wurzel allen Übels in der Welt. Zu einem Studientag, den dieser hier in der Nähe in einem kirchlichen Bildungszent-rum hielt, fuhr ich trotz Warnungen von verschiedener Seite hin.

Ulrich Duchrow, der mich im Aussehen und Duktus an einen gezähmten und geglätteten Hans Christian Ströbele erinnerte, bestritt seinen Vortrag in mehreren Abschnitten, die jeweils von kleinen Fragerunden aufgelockert wurden. Sein Status war der eines Befreiungstheologen. Das zentrale Wort Jesu im Neuen Testament sei, man könne entweder Gott oder dem Mam-mon dienen. Um diese These rankte sich der gesamte Vortrag.

Der Vortrag beinhaltete erst einmal eine Auseinandersetzung mit Luther und seiner 2-Reiche Lehre. Darüber hinaus spielte das Thema „Befreiung“ eine Rolle. Der Gedanke an Geld durchwob die gesamten Ausführungen mit Sätzen wie: „In der Bank regiert der Gott Geld!“ oder Luther habe gesagt „Die Thora ist heilig, Mammon ist tödlich.“ oder mit Begrif-fen wie „gierige Raubtiere des Kapitalismus“, „Herrschaft des Geldes“. Das Aufkommen des Geldes vor Jahrtausenden sei eng verquickt mit der Professionalisierung des Kriegswesens. „Gier ist in Geld institutionalisiert“, damit meinte er insbesondere das Geld, das verbunden ist mit den Banken, den Zinsen und der Finanzwirtschaft. In dieser Hinsicht fühle er sich dem Propheten Mohamed verbunden, der das Zinswesen angeprangert habe, und überhaupt - wir, die wir das Gute wollen (worunter wohl das Gute in verschiedenen Religionen gemeint war), sollten zusammen halten. Als Demonstration lag auf einem Tischchen neben der „Bibel in ge-rechter Sprache“ ein Koran aus. Außerdem lagen da verschiedene Bücher aus, die man ausgerechnet für Geld kaufen konnte, einige (wohl des Professors Habilitationsarbeit in mehreren Bänden) waren mit jeweils 24,90 € ausgepreist, während sein Buch „Gieriges Geld“ stark verbilligt angeboten wurde.

Manches, was ich vernahm, ließ in mir Erinnerungen an den Inhalt des Staatsbürgerkundeun-terrichtes meiner Schülerzeit aufkommen. Beispielsweise verkündete U. D. folgende These: Der Kapitalismus könne historisch überwunden werden, weil er ja auch historisch gewachsen sei. Die „antiimperiale Zuspitzung“ des Neuen Testaments wurde betont, was mich wiederum an den proletarischen Internationalismus erinnerte. Interessant war die Annahme, dass die Abschaffung des Geldes nicht radikal und auf einmal erfolgen könne, sondern dass sie ein Fernziel in mehreren Etappen sei (so dass er seine Bücher noch für Geld verkaufen müsse, schlussfolgerte ich). Auch so etwas hatte ich im Schulfach „historischer Materialismus“ gehört. Demnach befanden wir uns damals in der Vorstufe namens Sozialismus, der nach wissen-schaftlicher Erkenntnis zwangsläufig in den Kommunismus münden werde.

Die Bemerkung des Professors, dass er mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (welche der Partei der „Linken“ sehr nahe steht) zusammen arbeite, ließ mich manches besser verstehen. Interessant fand ich die Tatsache, dass sich der Vortragende kritisch bis hin zu abfällig über die Partei der Grünen äußerte: Grüne Ökonomie sei verlogen, weil sie kurzfristige Verbesserungen anbiete, die Menschen dadurch von einer radikalen Umkehr abhalte und deshalb das System stabilisiere. Das waren genau die Argumente, die Kommunisten einst gegen Sozialdemokraten angewandt hatten und sie deshalb Sozialfaschisten nannten. Auch der Anstrich von Wissenschaftlichkeit im Vorgehen - immerhin war der Referent ein Professor - erinnerte mich an die Wissenschaftlichkeit, die wir über den Marxismus vernommen hatten.

Kurzum, die Ausführungen schienen mir wie pure Ideologie zu sein.
(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 4. Februar 2021

Aus der Schule geplaudert

Da die Geschichte schon etwa 30 Jahre her ist, und manche Protagonisten nicht mehr leben, kann ich ein wenig aus der Schule plaudern. Unsere Familie befleckte die Schule mit einem unverzeihlichem Makel. Unsere Kinder waren keine Pioniere. Das belastete weniger uns als die Schule, die sich ja für „Aufmüpfige“ vor höheren Instanzen verantworten musste. Mit verschiedenen Tricks versuchte man uns dazu zu bringen, den Entschluss zu revidieren. Um ein paar Ecken herum wurde mir mitgeteilt, dass man unser Verhalten nur akzeptieren könne, wenn wir ein öffentliches Bekenntnis ablegen würden, dass wir aus „religiösen Gründen“ so handeln. Das ignorierte ich, denn es gab keine religiösen Gründe, sondern wir wollten unseren Kindern vermitteln, dass man auch leben kann, wenn man etwas „nicht mitmacht“.

Doch eines Tages hielt es die Lehrerin nicht mehr aus. In der Elternversammlung fragte sie mich, wann denn nun unsere Tochter endlich in die Pioniere einträte. Ich antwortete, dass ich keine Veranlassung sähe, hier darüber zu sprechen. Umgehend ging ich zum Direktor und beschwerte mich wegen Nötigung. Da die Ära der DDR sich schon dem Ende zuneigte – es grummelte schon in der Bevölkerung - , war der Direktor gezwungen, die Lehrerin zurecht zu weisen. Sie musste in Begleitung des Elternratsvorsitzenden, einem Offizier, zu einem Elternbesuch bei uns erscheinen, und sich entschuldigen. Das Gespräch war hoch interessant, lief aber in Wirklichkeit auf eine erneute Anklage gegen uns hinaus. Der Offizier war ungleich einsichtiger als die Lehrerin. Unser Standpunkt war, dass man sich nicht rechtfertigen muss für etwas, was man nicht macht, sondern dass man, im Gegenteil, mit einem Eintritt in eine Organisation ein Bekenntnis ablegt oder eine Entscheidung trifft. Ohne gegenseitiges Verständnis aber in freundlicher Manier gingen wir auseinander.

Schon ein Jahr später war alles obsolet, Pioniere gab es nicht mehr. Nachdem sich Grund- und Realschule voneinander trennten, wurde die besagte Lehrerin Direktorin der Grundschule. Wir hatten inzwischen schon nichts mehr mit der Grundschule zu tun, aber es kam doch noch einmal zu einer Begegnung. Diesmal waren wir Delinquenten. Unser unbändiger Sohn hatte mit einem Freund in einem Anfall von Vandalismus (vielleicht wollte er sich auch an der Schule rächen) den Schulgarten, der zur Grundschule gehörte, zerstört. Beete zertrampelt, Bohnenstangen ausgerissen. Wir mussten zu einer Aussprache mit dem Ordnungsamt, der Grundschuldirektorin und Lehrern, Insgesamt wurden wir sehr milde behandelt, unserem Sohn wurden soziale Strafstunden aufgebrummt.

Nie werde ich aber meine Verblüffung vergessen, als die ehemalige Klassenlehrerin unserer Tochter folgendes sagte: „So lange haben wir uns die Freiheit gewünscht! Jetzt haben wir sie. Aber man darf sie nicht missbrauchen.“

Freitag, 29. Januar 2021

Holocaustgedenken 2021

Auch in diesem Jahr fand anlässlich des Holocaustgedenktages eine Feierstunde am Mahnmal des KZ-Außenlagers in dem kleinen Städtchen in der Nachbarschaft statt. Es war wegen Corona nur eine Mini-mini-Stunde, aber selbst unter diesen sehr eingeschränkten Bedingungen kamen Menschen zusammen, um ihrem Anliegen Gestalt zu geben. Da es keine allgemeine Werbung gegeben hatte, waren nur etwa 15 Teilnehmer zusammen gekommen: der stellvertretende Bürgermeister als Veranstalter, der Pfarrer und Mitglieder von relevanten Vereinen und ihre Angehörigen. Vor Beginn der Veranstaltung stand man wie gewöhnlich in kleinen Gruppen zusammen und unterhielt sich über das aktuelle Befinden. Was dabei das Hauptthema war, kann man unschwer erraten. Pünktlich um 10 Uhr zogen alle korrekt ihre Masken über und schritten feierlich den Weg von Straße zur Mauer mit den Messingreliefplatten neben dem inzwischen in die Jahre gekommenen Turm der Anlage. Da diesmal keine Schüler teilnahmen, entfiel das begleitende kulturelle Programm. Auch auf die Musikanlage hatte man verzichtet, so dass beide Redner sozusagen „nackt“ sprachen. Nach der feierlichen Blumenniederlegung las der stellvertretende Bürgermeister eine kleine Rede, etwas ungelenk, aber dafür sicher selbst geschrieben. Er erwähnte alle Gruppen von Opfern, die in der Zeit des NS-Regimes umgebracht wurden und mahnte, dass es in der Gesellschaft nicht wieder zu einer so schlimmen Geisteshaltung und Gewalt kommen dürfe. Da die Rede allgemein gehalten war und keine Schuldzuweisung an gesellschaftliche Gruppen enthielt, konnte man sie akzeptieren, sie wirkte glaubhaft. Allerdings war der Redner nicht auf den Gedanken gekommen, ganz konkretes Versagen zu benennen, denn genau an diesem Mahnmal war es im vergangenen Sommer zu einer schwerwiegenden Sachbeschädigung gekommen.

Der Pfarrer hielt keine Rede, sondern er sprach ein Gebet. Er betete um Vergebung. Nicht für Geschehnisse aus der Vergangenheit, sondern er bat um Vergebung für Dinge, die jetzt und heute geschehen und für Dinge, die heute unterlassen werden. Auch das war nicht mit Schuldzuweisung verbunden, sondern er bat im Namen von uns allen. Das Gebet schloss er mit dem Vaterunser ab. Ein Vaterunser als Abschluss hatte ich noch nie erlebt oder vielleicht in der Einbettung in die allgemeine „kulturelle Umrahmung“ nicht wahrgenommen. Sicher war dieser oder jener Teilnehmer erstaunt, aber alle, die das Vaterunser einst erlernt hatten, fielen etwas verlegen murmelnd in das Gebet ein.

So kamen auch in diesem von Corona beeinträchtigtem Jahr Menschen zusammen, jeder hat auf seine ganz persönliche Weise diese Stunde erlebt und seine eigenen Gedanken dazu gehabt. Wie jeder mit seinen Gedanken umgeht, wird sich in seinem Verhalten widerspiegeln.

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Holocaustgedenken: 2017, 2019, 2020

Mittwoch, 27. Januar 2021

Über den Bürgerrechtler Andrej Amalrik (Teil 3)

Damals, um 1970 herum, kam eine möglicherweise in Moskau ausgedachte Idee bei uns gerade zum Tragen. Mehrere kleine LPGs (landwirtschaftliche Genossenschaften) mussten zu einem Großbetrieb zusammengeschlossen werden. Ich denke, viele landwirtschaftliche Großbetriebe haben heute sowieso etwa diese Größe, sind aber ganz anders organisiert. Diese sozialistischen Großbetriebe mussten nun aber in zwei Teile unterteilt werden, und zwar in Tier- und Pflanzenproduktion, genannt „Pflanze“ und „Tier“-(Produktion). „Pflanze“ musste „Tier“ mit Futter beliefern. Beide waren, glaube ich, wirtschaftlich voneinander getrennt. Ständig gab es Streite zwischen „Pflanze“ und „Tier“, weil „Pflanze“ kein ordentliches Futter oder zu spät oder zu wenig lieferte. Die Tierproduktion rächte sich dann irgendwie dafür.

Als landwirtschaftliche Schülerin hatte ich mich bereitgestellt, eine Ökonomiearbeit anzufertigen, in der bewiesen wird, wie hervorragend diese ausgeklügelte Produktionsweise funktioniert. Dabei hatte ich Gelegenheit, die entferntesten Winkel dieser einst kleineren Produktionsbetriebe kennen zu lernen. Ich spürte keinen Widerstand gegen den Zusammenschluss, kann aber aus der zeitlichen Entfernung nicht mehr herausfinden, ob es wirklich keinen Widerstand gab. Die vorherige Stufe der Vergesellschaftung, der Zusammenschluss von Einzelbauern zur Genossenschaft, war sicher ungleich schwieriger gewesen.

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Mich selbst interessierten die verborgenen Ecken und Winkel der Betriebe viel mehr, als ob etwa die Trennung zwischen „Tier“ und „Pflanze“ sinnvoll wäre, und so habe ich die Abschlussarbeit im Sinne des Erfinders mit einer recht guten Zensur abgeschlossen. Meine Prüfer amüsierten sich nur, dass ich in der Beschreibung der Entwicklung der einzelnen LPG immer wieder über „Bankeinbrüche“ berichtete, von denen mir wiederum die LPG Vorsitzenden erzählt hatten. Ebenso wie die Produktionsbetriebe war auch die landwirtschaftliche Ausbildung in „Tier“ und „Pflanze“ aufgeteilt, und so konnte ich als Fachfrau für Pflanzenproduktion nicht wissen, dass die „Bang´sche Rinderkrankheit“, kurz Bangeinbruch genannt, die Betriebe in ihrer Entwicklung oft für eine Weile zurückgeworfen hatte.

Das Buch von Amalrik beinhaltet noch viel mehr als die Beschreibung der landwirtschaftlichen Arbeit und der Lebensbedingungen von Bewohnern und Verbannten in einem Kolchos im Sibirien der 60-ger Jahre. Man hat den Eindruck, dass Andrej Amalrik überall, wohin ihn das Leben verschlug, ob im Gemeinschaftswohnquartier in Moskau, in der Kulturszene in der er heimisch war, in Untersuchungshaft, in Gerichtsverhandlungen oder in der Verbannung sich sofort auskannte, sich mit den Regeln der jeweiligen Einrichtung auseinandersetzte und über eine Verbesserung im Sinne der Menschlichkeit nachdachte. Ich wünsche sehr, dass es Menschen gibt, die sich auch heute noch für Andrej Amalrik und seine Welt interessieren und den Wert seines kurzen Schaffens erkennen können.
(Ende)

Dienstag, 26. Januar 2021

Über den Bürgerrechtler Andrej Amalrik (Teil 2)

Das Buch „Unfreiwillige Reise nach Sibirien“ ist für mich persönlich das interessantere, weil es einige Verbindungen zu meinen früheren Jahren aufweist. Der Autor beschreibt, wie er als junger Mann in den 60-ger Jahren in Moskau festgenommen und verurteilt wird und anschließend knapp zwei Jahre in Sibirien in der Verbannung in einem Kolchos arbeitete. Vieles, was einem heutzutage wie aus einer fremden Welt vorkommt, haben ich oder meine Verwandten noch selbst erlebt: „Schmarotzertum“, das war die Begründung für Amalriks Verurteilung. Viele meiner Verwandten in der damaligen Tschechoslowakei haben in „niederen“ Berufen arbeiten müssen, als Kanalreiniger, als Reinigungskraft in der Nachtbar. Wenn sie Glück hatten, bekamen sie eine Stelle als Heizer. Nach der politischen Wende waren sie dann wieder Professor, Pfarrer oder in künstlerischen Berufen tätig. Der Grund für diese Arbeiten, die für ihr Leben eigentlich nicht passend waren: der kommunistische Staat hat sie aus ihren Arbeitsstellen entlassen, und wenn sie keine andere Arbeit angenommen hätten, wären sie wegen „Schmarotzertum“ verurteilt worden. Eine Verbannung nach Sibirien drohte nicht, Gefängnis aber schon. Ich kann mich noch erinnern, wie ein Onkel zu uns sagte: „2 Monate muss ich in meiner schweren Arbeit noch durchhalten, dann bin ich endlich Rentner“. 5 Monate später war er Professor an der Karlsuniverstät. Ich kann mich auch noch an einen Augenblick erinnern, als jemand in der Familie sagte: „Jetzt haben sie den Havel schon wieder verhaftet!“. Ein dreiviertel Jahr später war er Präsident der Tschechoslowakei.

Amalriks Leben verlief leider anders, aber er konnte einige Jahre nach seiner Ausreise in den Westen in der Freiheit leben und er konnte Zeugnis ablegen. Besonders interessierten mich in dem Buch „Unfreiwillige Reise nach Sibirien“ die Verhältnisse im Kolchos, habe ich doch selbst drei Jahre in der sozialistischen Landwirtschaft und das um nur fünf Jahre zeitversetzt, gearbeitet. Es ist erstaunlich, wie viele Parallelen es in so einem großen Gesamtsystem, wie es die „sozialistische Staatengemeinschaft“ war, zwischen dem fernen Sibirien und dem westlichsten Zipfel des Systems, also der DDR, gegeben hat. Natürlich waren die Arbeitsbedingungen hier unvergleichlich besser. Denn es gab noch viele Arbeitsmethoden aus der früheren Zeit. Der Grad der Mechanisierung war in dieser Zeit sogar in Sibirien nicht so sehr unterschiedlich von dem hiesigen: Melkmaschinen, Traktoren, Pumpen gab es auch im Kolchos.

Für mich das Auffälligste war die Tatsache, dass sowohl im fernen Osten als im viele tausend Kilometer entfernten Westen viele gleiche Methoden angewandt wurden, die sich etwa in der Mitte davon, in Moskau, irgendjemand ausgedacht hatte. Plakate mit leeren Parolen hingen hier wie dort überall herum. Unser Betriebsleiter stritt sich andauernd mit dem Parteisekretär, weil der eine landwirtschaftlich dachte, der andere die Parteilinie durchsetzen wollte. Auch sehe ich noch, wie uns bei Versammlungen allen der Kopf auf den Tisch fiel, weil der landwirtschaftliche Leiter gezwungen war, politische Reden zu halten, und aus Unvermögen, eine gute Rede zu halten, zog er diese endlos in die Länge.
(Fortsetzung folgt)

Freitag, 22. Januar 2021

Über den Bürgerrechtler Andrej Amalrik (Teil 1)

Den viel zu frühzeitigen Tod des russischen Dissidenten und Schriftstellers Andrej Amalrik (1938-1980) sehe ich als eine große Ungerechtigkeit an, die die Geschichte geschrieben hat. Nur vier Jahre nachdem er es nach großem Widerstand gegen das sowjetische Regime geschafft hatte, in den Westen auszureisen, ist er bei einem Autounfall in Spanien auf dem Weg nach Madrid zur Menschenrechtskonferenz (KSZE) tödlich verunglück. Allem Anschein nach fand dieser Unfall nicht durch Fremdeinwirkung statt, aber er kam wohl durch Übermüdung nach einer stundenlangen Grenzkontrolle zustande. Seine letzten 10 Jahre vor der Ausreise verbrachte er bei Strafprozessen, in Gefängnissen und in sibirischer Verbannung.

Der Welt hat er zwei kleine aber hoch interessante Bücher hinterlassen: seine Beschreibung, wie in den 1960-ger Jahren Strafverfolgung und Verbannung in der Sowjetunion verlief: „Unfreiwillige Reise nach Sibirien“ und ein sehr hellsichtiges Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ Auch wenn Letzteres uns heute als obsolet vorkommt, so kann man – wenn man sich in die damalige Zeit versetzt -, es fast nicht für möglich halten, dass jemand damals so vorausschauend gedacht hat. Heute erscheint es uns als logisch.

In den 60-ger Jahren konnte ich mich schon bewusst mit der Welt auseinandersetzen. So lernte ich es durch meinen Schulatlas: Zusammengestellt waren auf einer Atlasseite die drei Stufen der Ausbreitung des Sozialismus auf der Welt anhand von drei auseinander gezogenen Weltkarten. In allen Ländern, die rosa ausgefüllt waren, dort war der Kommunismus/Sozialismus schon verwirklicht. Die obere Karte zeigte das Jahr 1917: Russland war rosa. Auf der nächsten Karte waren die bis 1922 dazu gekommenen Staaten dann ebenfalls rosa. Die dritte Karte zeigte die Erweiterung des sowjetischen Machtbereichs nach dem 2. Weltkrieg an. (Afrikanische Staaten rechnete man, glaube ich, damals noch nicht dazu). Wegen der Auseinanderfaltung der Erdkugel waren die Perspektiven zudem noch sehr verzerrt.

Das viele Rosa beängstigte mich. Wer innerhalb der rosa Gebiete lebte, war meistens von dem Rosa nicht so begeistert. Aber ich Schulkind dachte resigniert: ´Dann wird es ja wohl nur noch einige Jahrzehnte dauern, bis alles rosa ist`. Froh war ich darüber nicht, aber ich nahm es fatalistisch hin. Ich kannte es nicht anders, ebenso wie Andrej Amalrik es nicht anders kannte, denn sein Leben fiel ja ganz und gar in die Zeit des Kommunismus. Umso mehr ist seine Hellsichtigkeit anzuerkennen. (In einem Essay, schon im Jahr 1990 herausgegeben, sah ein Freiburger Geographieprofessor die Sowjetunion noch als einen stabilen Staat, in dem sich nur etwas ändern muss, an, und das obwohl ein großer Teil des Machtbereichs gerade dabei war, abzubrechen).
(Fortsetzung folgt)

Montag, 18. Januar 2021

Advent – Epiphanias

Zum Advent 2020 schrieb ich eine kleine Betrachtung über den Adventsstern in unserer Kirche. Noch haben wir die Epiphaniaszeit. Das Epiphaniasfest verbindet sich in meiner Vorstellung auch mit dem besonderen Stern, der von den „heiligen drei Königen“ (oder auch „Weisen“) aus dem Morgenland wahrgenommen wurde, wodurch diese von der Ankunft eines besonderen Königs erfuhren. Das Licht des Sterns durchzieht die Epiphaniaswochen. Ich kenne fromme Christen, die ihren Herrnhuter Stern erst zu Ende der Epiphaniaszeit abnehmen. Darum ist durchaus noch die Zeit, um eine kleine Fortsetzung zu der Betrachtung über den Stern zu schreiben.

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Meine Betrachtung hatte ich auf eine selbst gefertigte Karte gedruckt, um sie als Weihnachtsgruß an verschiedene Bekannte zu schicken. Entweder an Bekannte mit christlichem Hintergrund, und weil ich schließlich keine anderen geeigneten Weihnachtskarten mehr hatte, auch an „unchristliche“ Bekannte, so auch an eine (unreligiöse) Schulfreundin. Ich war auch gespannt, ob dieser oder jener eine Bemerkung dazu zurückschreiben wird. Es kamen relativ wenige Bemerkungen, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Ausgerechnet diese Schulfreundin, die ich jetzt zu ihrem Geburtstag anrief, sagte mir noch einmal extra, wie gut ihr die Karte gefallen hat und dass sie sie gleich kopiert hat, um an ihren Bruder weiter zu schicken.

Diese erneute Episode ergänzte genau meine Schlussbemerkung vom Advent 2020: Das Licht, das fast unbemerkt in der Dunkelheit leuchtet, wahrgenommen wird und seinen Schein über die Welt verbreitet.

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