Montag, 11. Januar 2021

Vorschulerziehung in der DDR (Teil 5 - Ende)

Die insgesamt 4 Jahre Kindergartenzeit verliefen unspektakulär. Einmal wechselte in der Zeit die Kindergartenleitung, wovon ich aber nicht viel mitbekam. Darum fiel ich fast um, als mir jemand – es war schon nach der „Wende“ - sagte: „Weißt du, dass wegen dir damals Frau E. als Kindergartenleiterin abgesetzt wurde?“ Was hatte ich mit ihr zu tun gehabt? Nichts, außer zwei mal, dass ich Beschwerde eingelegt hatte.

Meine Tochter kam nach Hause und trällerte fröhlich ein im Kindergarten neu gelerntes Lied: „Wenn ich groß bin, dann gehe ich zur Volksarmee…..dann fahr ich mit dem Panzer, ratata, dann lad ich die Kanone, bum,bum,bum….“ Ich lief umwendend zum Kindergarten. Die Kindergärtnerin verwies mich etwas verwirrt auf die Leiterin, bei der ich mich beschwerte, dass die Kinder „kriegsverherrlichende Lieder“ lernen. „Aber Frau C., das ist doch ein Lied über unsere Nationale Volksarmee, die für die Landesverteidigung da ist. Unsere Kinder müssen doch mit der Lebenswirklichkeit vertraut werden!“ „Dann zeigen sie bitte den Kindern auch zerschossene Menschen in Großaufnahme und führen ihnen Sirenengeheul vor!“ „Aber Frau C.!“ (Letzteren Satz hatte ich in verschiedenen Nuancen, die jede nach Tonfall eine Aussage für sich waren, mehrmals gehört). Ich schrieb noch etwas ins „Muttibuch“ (für „ Anregungen und Beschwerden“, das es dort erstaunlicherweise gab), und damit war für mich die Angelegenheit erst einmal beendet. Normalerweise wurden solche Lieder nicht gesungen, nur laut Lehrplan eingelernt.

Beendet war die Angelegenheit damit doch nicht, denn nach einem Jahr hörte ich es meinen Sohn mit viel verve singen. Diesmal legte ich nicht den Umweg über den Kindergarten ein, sondern wir schrieben gleich eine Eingabe an das „Ministerium für Volksbildung“. ´Eingabe´: der Schrecken aller DDR-Behörden. Vielleicht wurden so wenig Eingaben geschrieben, dass jede einzelne eine ungeheure Wirkung hatte. Unsere Eingabe hatte jedenfalls die Wirkung, dass die Kindergartenleiterin von ihrer Leitungsfunktion entbunden wurde: …..weil sie es nicht geschafft hatte, die Eingabe zu verhindern…. Jedenfalls wurde es mir so erzählt. Ich denke eher, dass es so gewesen ist, dass sie wegen anderer Dinge auf der „Abschussliste“ stand, und unsere Eingabe als dankbarer Vorwand angesehen wurde, einen Leitungswechsel vorzunehmen. (Ende)

Donnerstag, 7. Januar 2021

Vorschulerziehung in der DDR (Teil 4)

In mancher Beziehung war das Kindergartengeschehen in der DDR relativ frei, jedenfalls auf dem Lande. Ab etwa 5 Jahren gingen die Kinder allein zum Kindergarten. Sie mussten nicht unbedingt abgeholt werden und gingen, manchmal in kleinen Gruppen, zu Fuß nach Hause. In Städten mag das anders gewesen sein. Meine Tochter ging normalerweise mit ihrem Nachbar-Spielfreund zum Kindergarten und auch wieder zurück. Genau ein Jahr nach dem dramatischen Kindergartenerstbesuch der Tochter war nun unser dreijähriger Sohn an der Reihe. Den brachte ich in der folgenden Zeit selbst in die Einrichtung.

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Inzwischen hatte ich dazu gelernt. Weil es mich empörte, wie abrupt die Kinder am Eingang ihren Bezugspersonen entrissen wurden, dachte ich mir eine List aus. Ich wartete mit meinem Sohn immer so lange in der „Eingangsschleuse“, bis ein weiteres Kind ins Haus gebracht wurde. Für dieses Kind wurde nach dem Klingeln die „richtige“ Eingangstür geöffnet, und wenn sich diese Tür öffnete, schlüpfte ich mit meinem Sohn hindurch. Wir gingen dann zur Garderobe, ich half beim Ausziehen und Schuhe umziehen und ließ mir Zeit für einen gelassenen Abschied. Inzwischen kamen manchmal seine Kumpel, die ihn begeistert in Empfang nahmen. Auch diesen Kindern widmete ich mich, und dadurch hatte ich ein gutes Verhältnis zur Kindergartengruppe. Obwohl mein Verhalten von der Kindergartenleitung missbilligt wurde, hat mich nie jemand zurechtgewiesen.

Mit der Zeit hatte sich dieses Ritual so eingespielt, dass ich gar nicht mehr das Kommen eines anderen Kindes abwarten musste. Wenn ich geklingelt hatte, wurden wir beide hineingelassen, und wir wickelten unsere Abschiedszeremonie ab. Ich kann mir vorstellen, dass das „Kollektiv der Kindergärtnerinnen“ beschlossen hatte, mein unbotmäßiges Verhalten zu akzeptieren, da mit mir sowieso nichts zu machen sei. Mich wundert es allerdings bis heute, dass mein Verhalten nicht von anderen Müttern nachgemacht wurde. Damals kannte ich noch zu wenig ähnlich gesinnte Mütter, so dass ich keine „Verbündete“ fand. Von Seiten des Kindergartens gab man sich alle Mühe, zu zeigen, dass mein Verhalten das eines Außenseiters ist, während die anderen, Folgsamen, dem eingeforderten (sozialistischen) Menschenbild entsprechen.
(Fortsetzung folgt)

Montag, 4. Januar 2021

Vorschulerziehung in der DDR (Teil 3)

So kam der große Tag. Mit einem kleinen Kinderfahrrad legten wir die ca. 700 m zum Kindergarten, einer lang gezogenen Zweckbaracke, zurück. Man gelangte durch die Eingangstür in einen kahlen Vorraum, der einzig dazu da war, Kindergartenhaus und die hereintretenden Kinder zu separieren. Die eigentliche Eingangstür hatte einen Knauf, der von außen nicht zu öffnen war. Man klingelte, und nach Öffnen der Eingangstür gelangten die Kinder in die normalen Räume: einen Korridor mit Garderoben, Gruppenräume, Waschräume usw. Wir standen also in jenem kahlen Vorraum, - der kleine Bruder hatte uns auch begleitet -, und ich klingelte. Die Tür öffnete sich, die Kindergartenleiterin kam, um das neu hinzu gekommene Kind zu empfangen. Und das ging so vor sich: Sie fasste das Mädchen am Arm, zog es hinter die Tür, und schon war die Tür wieder geschlossen. Ich hörte nur noch einen gellenden Schrei, und diesen Schrei höre ich bis heute.
(Gerechterweise möchte ich hinzufügen, dass dem Kind hinter der Tür nichts Böses geschah, es war nur die „normale“ Art, das Kind ins Geschehen einzugliedern)

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Wäre ich erfahrener und selbstbewusster gewesen, hätte ich ein „Theater“ veranstaltet, wie ich es später bei anderen Gelegenheiten manchmal praktizierte. So aber ging ich etwas verstört mit dem jüngeren Kind zusammen nach Hause. Erfahren hatte ich aber, dass die Kindergartengruppe vorhatte, den Vormittag am Strand zu verbringen. Ich schlich mich später hinter die Düne und beobachtete die Gruppe. Lärmende, spielende Kinder, und abseits saß ein kleines Mädchen und schaute traurig vor sich hin. Auf die Idee, ein neu hinzu gekommenes Kind etwa mit ins Geschehen zu holen, wäre wohl niemand gekommen (in ähnlichem Bezug hörte ich mehrmals die Aussage: „man merkt gleich, dass es kein Krippenkind ist“, womit gemeint war, dass ein Kind sich nicht automatisch in eine Gruppe einfügen konnte).

Aber - siehe da -, auf einmal kam Bewegung in mein kleines Mädchen. Sie schnappte sich einen Korb und begann Eimerchen und Schaufeln einzusammeln und in den Korb zu legen. Die Kindergärtnerin hatte die Kinder zum Einsammeln der Spielzeuge aufgefordert, was außer der „Neuen“ niemand zur Kenntnis nahm. Sie war einfach ein liebes und artiges Kind, das sofort reagierte, wenn etwas angesagt war. Ja, viel später wurde ihr sogar das höchste Lob zuteil, dass in einem Kindergarten jener Art zu vergeben war: „Sie ist so lieb, man merkt gar nicht ob sie da ist oder nicht da ist“.

Meine Tochter ist später gern in den Kindergarten gegangen, hatte da Freunde und Freundinnen, und vielleicht war der Beginn der Kindergartenzeit für mich traumatischer als für sie. Und – wer weiß -, traumatische Erlebnisse können ja auch dazu führen, dass man Widerstandskräfte entwickelt, die einem später helfen.
(Fortsetzung folgt)

Freitag, 1. Januar 2021

Vorschulerziehung in der DDR (Teil 2)

Normal war es, dass man Kinder sehr früh, nach Ablauf des Mutterschutzes, in die Kinderkrippe gab, um schnell wieder arbeiten zu können. Die Gründe dazu waren verschieden, meistens waren es finanzielle Gründe. Eine gestylte Karriere hatten die wenigsten Frauen im Sinn. Studium war oft ein Grund, das Baby in die Krippe zu geben oder auch Alleinerziehung. Es gab Kinder, die sich als „nicht krippen fähig“ erwiesen, was oft eine familiäre Katastrophe war, die Omas waren ja fast immer selbst im berufstätigen Alter.

Aber egal – eigenständige Frauen, zu denen ich mich zählte, hielten sich viel darauf zugute, ihre Kinder n i c h t in die Krippe zu bringen. „Niemals würde ich mein Kind in die Krippe geben!.....“, ein oft ausgesprochener Satz. (Der Meinung wäre ich heute ebenfalls, auch wenn die „Krippe“ eine liebevolle Tagesmutter sein sollte - aber mir scheint es, dass die getaktete durchstrukturierte Lebensweise dem Kind in seiner Entwicklung viel nimmt).

Trotzdem – auch wenn ich die Krippe für meine Kinder gemieden habe (wie der Teufel das Weihwasser), verbrachte ich mein Arbeitsleben ohne jegliche Unterbrechung. Mir war es immer am wichtigsten, eine Lebensweise zu haben, bei der ich frei über meine Zeit verfügen kann. Meine sehr kleinen Kinder wuchsen in einer privaten bzw. später meiner selbständigen Arbeitsstelle auf, oder bei der geliebten Oma bzw. der „Uroma“ im Haus, auf dem Hof, spielend mit anderen Kindern. Und ehe ich mich´s versah, war die potentielle Krippenzeit vorüber, und meine beiden Kinder konnten nun endlich in die staatliche Obhut des Kindergartens kommen.

Es muss wohl in der DDR als Makel empfunden worden sein, wenn jemand eine Lebensweise ausübte, die nicht mit der angestrebten „gewollten“ übereinstimmte. So war eine Familie, die ihre Kleinkinder sehr unbekümmert ohne staatliche Hilfe aufzog, schon eine Art Außenseiterfamilie. Man gab sich große Mühe, dem entgegen zu wirken, und ich möchte mir gar nicht ausmalen, was h i n t e r unserem Rücken gewispert und überlegt wurde. Um einige Ecken herum drang dieses oder jenes an mein Ohr, was mich nicht beeindruckte.

Eines Tages trat beim Anstehen am Bäcker eine Kindergärtnerin an mich heran: „Sie haben doch eine Tochter, die drei Jahre ist. Ich will sie nur darauf hinweisen, dass das Kind jederzeit zu uns in den Kindergarten kommen kann. Sie bekommen auf jeden Fall einen Kindergartenplatz!“. Ich war ehrlich von dieser Fürsorge gerührt und sagte, dass ich mir das auch schon überlegt hätte, und dass ich meine Tochter, wenn es so weit ist, anmelden werde.

Ich ließ mir trotzdem noch fast ein Jahr Zeit für diesen Schritt, aber eines Tages im Sommer – das Kind war 4 Jahre alt – kam der große Tag: der erste Gang in den Kindergarten.
Dieser Tag ist mir in heftiger Erinnerung geblieben. Das Kind war angemeldet. Auf die Idee, mit einer Kindergärtnerin über die Prozedur des „Ankommens“ und des Eingewöhnens zu sprechen, war ich in meiner Naivität nicht gekommen. Ich war davon ausgegangen, dass ich in den ersten Tagen eine Weile des Vormittags im Kindergarten dabei sein werde, um das Kind mit den anderen Kindern bekannt zu machen (so praktizierte es dieses Kind ca. 25 Jahre später mit den eigenen Kindern), und um ihm so das Eingewöhnen zu erleichtern. Die Idee, dieses im Kindergarten zu besprechen und Abmachungen zu treffen, lag meinem Denken leider fern, und ich hatte keine andere Frau an meiner Seite, die mir ihre Erfahrungen mitteilen konnten.
(Fortsetzung folgt)

Dienstag, 29. Dezember 2020

Vorschulerziehung in der DDR (Teil 1)

In den Weihnachtstagen, trafen ein paar verwandte Frauen aus verschiedenen Generationen, ´Halbgenerationen` und sogar aus verschiedenen Ländern Europas zusammen. Das Kindlein in der Krippe animierte sie zum Thema: `Wie war es damals, als unsere Kinder in der Krippe oder auch nicht in der Krippe waren, was erlebten sie später im Kindergarten? Die jüngeren Frauen hörten voller Ehrfurcht zu, mit welchen Problemen Frauen, die ihre Kinder in der DDR groß gezogen hatten, konfrontiert gewesen sind.

Das Thema wäre zu weit reichend, um alle Aspekte der beschriebenen Unterhaltung zu erläutern, so dass ich mich auf meine eigenen Erlebnisse beschränken werde.

„Das hat uns allen nicht geschadet“, das war nach der Wende so ein viel ausgesprochener Satz, und fast immer war es auch so. Spuren hinterlassen haben die Erziehungsmethoden des Kommunismus in den Menschen durchaus. Was man sich eigentlich nicht vorstellen, aber sich heute auch schon wieder ein wenig vorstellen kann, ist, dass der Staat es sich vorbehielt, den Menschen „von der Wiege bis zur Bahre“ bevormunden, erziehen, indoktrinieren und beherrschen zu wollen. Warum? Ja, das ist die Frage, die ich mir immer wieder stelle, und die ich inzwischen besser begreife, wenn ich auf Methoden stoße, wie Menschen auf verschiedenste Weise „geformt“ werden sollen.

So war es Ziel der DDR, die Erziehung der Menschen als auch die gesamte Lebensweise so zu gestalten, dass die Menschen zu einer einförmigen Masse werden sollten. Auch das würde zu weit führen, es in die Details zu belegen.

- Ein E i n s c h u b: Immer wieder hörten wir von Verwandten, die hier zu Besuch waren, von den vielen Leuten, die auf die eine oder anderer Weise der DDR die „Treue“ hielten, dass ihnen das Land anfangs sehr grau und trist erschien, dass sie aber selten so eindrückliche und lebendige Begegnungen und Erlebnisse hatten, wie gerade hier. Das lag daran, dass die Menschen sich gerade gegen die Vereinnahmung und die Vereinheitlichung zur Wehr setzten, und eine spezielle – vom Staat nicht gewollte – Gegenkultur schufen, die manchen Menschen aus dem „kapitalistischen Ausland“ als verlockend und lebendig erschien. Selbstverständlich war die „Gegenkultur“ kein erklärtes Staatsziel, im Gegenteil, sie war Anlass ständiger Verunsicherung der Behörden und Aufklärungsziel eines ausgeklügelten Spitzelwesens.

Um nicht zu sehr abzuschweifen, konzentriere ich mich jetzt auf das „Kind in der Krippe“ und im Kindergarten. Möglichst sollten die Kinder sehr früh der staatlichen Beaufsichtigung und Beeinflussung ausgesetzt werden. Eine Weile gab es sogar das System der Wochenkrippen, d.h. Frauen gaben ihre Kinder am Montag früh ab, wurden „krippenklinisch“ betreut und am Freitag nachmittag (bzw. am Sonnabendmittag)abgeholt, um dann am Wochenende ein „liebevolles, sozialistisches Familienleben“ zu führen. Das sollte einerseits die Schichtarbeit von Frauen erleichtern, andererseits zur Frühstindoktrination der Kinder helfen. Mangels Kapazitäten und Unwillen der Frauen gab man diese Einrichtung bald wieder auf.
(Fortsetzug folgt)

Freitag, 25. Dezember 2020

Die andere Anne Frank (2)

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Quelle: Sabine Bruckner


Anne Frank – das Mädchen aus dem Hinterhaus -, so kann man es manchmal hören, und diese Bezeichnung ist nicht abwertend, sondern eine Zusammenfassung davon, was man über sie weiß in eine Metapher zusammenfasst. Sollte man eine der heutzutage üblichen statistischen Erhebungen machen, wieviel Prozent der Bevölkerung etwas mit dem Namen anfangen kann, dann - schätze ich -, wären es gar nicht so wenige Menschen, die zumindest etwas darüber wissen.

In den 60-ger Jahren – wie wahrscheinlich immer noch -, war es üblich, anhand des Tagebuchs der Anne Frank Jugendliche mit dem Thema Judenvernichtung und Antisemitismus bekannt zu machen. Auch ich las in der Zeit das Tagebuch, das ich allerdings - damals etwa im gleichen Alter wie die Verfasserin zu ihrer Zeit -, eher als das Tagebuch einer Gleichaltrigen las. So richtete ich mein Augenmerk eher auf die Dinge, die Gleichaltrige interessieren. Wenn ich in meinem jungen Alter eine Aufklärung über Krieg und Holocaust erhalten habe, dann war es für mich das Buch „Im Schatten der Gewalt“ von Anne de Vries.

Anne Franks Lebenslauf ist bekannt. Zwei Jahre lang verbrachte sie mit ihrer Familie und vier anderen Juden versteckt und von nichtjüdischen Holländern versorgt in einem verdeckten Hinterhaus in Amsterdam bis alle verraten, entdeckt und deportiert wurden. Von den acht Personen überlebten - obwohl die Zeit der Massendeportationen sich schon dem Ende zuneigte – nur der Vater von Anne Frank und: ihr Tagebuch. Das wurde ähnlich wie im vorherigen Blogbeitrag von einer Nichtjüdin, fast zufällig gefunden, aufbewahrt und konnte dadurch vielen Menschen zugänglich gemacht werden. Wahrscheinlich ist es das am weitest verbreitete Buch über das Schicksal der Juden im Holocaust. Aus meiner Sicht ist es gut geeignet, Menschen an das Thema heranzuführen. Denn die wirklich schlimmen Dinge werden nur angedeutet, weil für Anne Frank und die Familie in den Tagen des Tagebuchschreibens das Schlimmste noch nicht geschehen war. Bücher von Primo Levi, Richard Glazar oder Ana Novac könnten einen unvorbereiteten Menschen so schockieren, dass er sich des Themas ein für alle Mal entledigt.

Doch es gibt nicht nur die „Anne Frank aus dem Hinterhaus“. Anne Frank ist nicht tot. Aus der ganzen Welt strömen Menschen nach Amsterdam, um sich das „Anne-Frank-Haus“ anzusehen und sich mit ihrem Leben bekanntzumachen. Wie ich erfuhr ist das Interesse an Anne Frank so gewaltig, dass man sich zwei Monate im Voraus (vor Corona!) überhaupt anmelden muss, um hinein kommen zu können. Sabine Bruckner, die sehr viel von der Welt kennengelernt hat, meinte, wohl noch nie so eine lange Schlange gesehen zu haben. Die Menschen warten stundenlang darauf, das Anne-Frank-Haus zu besuchen, um über Anne Frank mehr zu erfahren.

In diesen Tagen wird in der christlichen Religionsgemeinschaft das Weihnachtsfest gefeiert. Der christlichen Religion gemäß erfolgt nach Reue, Vergebung der Sünden und Tod die Auferstehung der Toten. In diesem Sinne kann man durchaus die Behauptung aufstellen: Anne Frank lebt! Sie ist auferstanden, sie lebt und gibt Zeugnis!


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Quelle Sabine Bruckner
(Ende)

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Die andere Anne Frank (Teil 1)

Im jüdischen Kalender las ich - nebenbei - eine Notiz über die „Anne Frank von Polen“, Rutka Laskier, die 14-jährig in Auschwitz ermordet wurde. Bevor man sie mit ihrer Familie ins Todeslager deportierte, hatte sie einige Monate in einem Ghetto gelebt, dort Tagebuch geschrieben (nur 12 Wochen lang!) und dieses ihrer nichtjüdischen polnischen Freundin Stanislawa Sapinska anvertraut. Erst im Jahre 2006 kam dieses Tagebuch ans Tageslicht und konnte an die Öffentlichkeit gelangen.

Im „Rutkas Tagebuch“ kann man erfahren, unter welch barbarischen Bedingungen Juden in der Nazizeit vegetieren und leiden mussten, bevor sie unter grausamsten Umständen in den Tod getrieben wurden. Ebenso wie im Buch von Anne Frank erlebt man, wie ein „normaler Teenager“ unter diesen entsetzlichen Umständen zu einem Menschen von großer menschlicher Reife und Weisheit gelangt, ja gelangen muss: um Zeugnis abzulegen, um die Menschheit zu warnen, um die Menschen aufzuklären, damit sie erkennen, was tief in ihnen schlummert, im Bösen und auch im Guten.

Von einem ähnlichen Schicksal wie dem Anne Franks und Rutka Laskiers weiß ich auch noch, es ist aufgeschrieben im „Das gerettete Buch des Simcha Gutermann“. Und sicher gibt es weitere Zeugnisse. Jedes davon blieb nur durch Verkettungen von unwahrscheinlichen Zufällen erhalten. Das sind aber nur die Zeugnisse, von denen wir erfahren konnten. Der größere Teil von Zeugnissen ist wohl unwiederbringlich verloren.

Rutka Laskier wird als die „polnische Anne Frank“ bezeichnet. Wie viele „Anne Franks“ muss es gegeben haben und in wie vielen Ländern! Wenn es auch nur ein Bruchteil des Ganzen ist, was wir durch sie erfahren konnten, so wird ihr Name und ihre Botschaft - im Gegensatz zu allerhand an „hochtrabenden“ Namen und Botschaften - Bestand haben, wenn wir es wollen!
(Fortsetzung folgt)

Samstag, 19. Dezember 2020

Advent 2020

Wie immer in der Adventszeit leuchtet auch in diesem Jahr im Rosettenfenster unserer Kirche in Zingst der Adventsstern. Manchmal sage ich: „Kuckt da denn jemand hin?“ Durch die Allee, von der aus man ihn am besten sieht, geht doch sowieso kaum jemand. Und wollen die Leute den Stern überhaupt sehen? Für viele bedeuten doch diese Tage „Weihnachtszeit“ mit Glühwein und Einkaufen.

So dachte ich auch in diesem Jahr, und kaum kam es mir in den Sinn, da bekam ich Post von einer Frau aus Bayern, mit der ich in einem losen E-Mail-Kontakt stehe. Sie war hier vor einigen Jahren zur Kur und schrieb, dass sie jetzt, im Advent, so oft an den schönen Herrnhuter Stern in der Zingster Kirche denkt, ob wir ihr ein Foto davon schicken könnten.

Das Foto bekam sie umwendend. Für mich war es ein Zeichen, dass die scheinbar nebensächlichen Dinge doch ihre Wirkung entfalten und in diesem Fall sogar weit bis nach Bayern reichen können. Auch war es eine Bestätigung für den Sinn der Adventszeit. Und dass es Menschen gibt, denen Advent wichtig ist, die seinen Sinn erkennen.

Ist diese Episode nicht ein Symbol dafür, was Advent und Weihnachten bedeuten? Das Licht, das fast unbemerkt in der Dunkelheit leuchtet, wahrgenommen wird und seinen Schein über die Welt verbreitet.



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