Über den Bürgerrechtler Andrej Amalrik (Teil 3)

Damals, um 1970 herum, kam eine möglicherweise in Moskau ausgedachte Idee bei uns gerade zum Tragen. Mehrere kleine LPGs (landwirtschaftliche Genossenschaften) mussten zu einem Großbetrieb zusammengeschlossen werden. Ich denke, viele landwirtschaftliche Großbetriebe haben heute sowieso etwa diese Größe, sind aber ganz anders organisiert. Diese sozialistischen Großbetriebe mussten nun aber in zwei Teile unterteilt werden, und zwar in Tier- und Pflanzenproduktion, genannt „Pflanze“ und „Tier“-(Produktion). „Pflanze“ musste „Tier“ mit Futter beliefern. Beide waren, glaube ich, wirtschaftlich voneinander getrennt. Ständig gab es Streite zwischen „Pflanze“ und „Tier“, weil „Pflanze“ kein ordentliches Futter oder zu spät oder zu wenig lieferte. Die Tierproduktion rächte sich dann irgendwie dafür.

Als landwirtschaftliche Schülerin hatte ich mich bereitgestellt, eine Ökonomiearbeit anzufertigen, in der bewiesen wird, wie hervorragend diese ausgeklügelte Produktionsweise funktioniert. Dabei hatte ich Gelegenheit, die entferntesten Winkel dieser einst kleineren Produktionsbetriebe kennen zu lernen. Ich spürte keinen Widerstand gegen den Zusammenschluss, kann aber aus der zeitlichen Entfernung nicht mehr herausfinden, ob es wirklich keinen Widerstand gab. Die vorherige Stufe der Vergesellschaftung, der Zusammenschluss von Einzelbauern zur Genossenschaft, war sicher ungleich schwieriger gewesen.

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Mich selbst interessierten die verborgenen Ecken und Winkel der Betriebe viel mehr, als ob etwa die Trennung zwischen „Tier“ und „Pflanze“ sinnvoll wäre, und so habe ich die Abschlussarbeit im Sinne des Erfinders mit einer recht guten Zensur abgeschlossen. Meine Prüfer amüsierten sich nur, dass ich in der Beschreibung der Entwicklung der einzelnen LPG immer wieder über „Bankeinbrüche“ berichtete, von denen mir wiederum die LPG Vorsitzenden erzählt hatten. Ebenso wie die Produktionsbetriebe war auch die landwirtschaftliche Ausbildung in „Tier“ und „Pflanze“ aufgeteilt, und so konnte ich als Fachfrau für Pflanzenproduktion nicht wissen, dass die „Bang´sche Rinderkrankheit“, kurz Bangeinbruch genannt, die Betriebe in ihrer Entwicklung oft für eine Weile zurückgeworfen hatte.

Das Buch von Amalrik beinhaltet noch viel mehr als die Beschreibung der landwirtschaftlichen Arbeit und der Lebensbedingungen von Bewohnern und Verbannten in einem Kolchos im Sibirien der 60-ger Jahre. Man hat den Eindruck, dass Andrej Amalrik überall, wohin ihn das Leben verschlug, ob im Gemeinschaftswohnquartier in Moskau, in der Kulturszene in der er heimisch war, in Untersuchungshaft, in Gerichtsverhandlungen oder in der Verbannung sich sofort auskannte, sich mit den Regeln der jeweiligen Einrichtung auseinandersetzte und über eine Verbesserung im Sinne der Menschlichkeit nachdachte. Ich wünsche sehr, dass es Menschen gibt, die sich auch heute noch für Andrej Amalrik und seine Welt interessieren und den Wert seines kurzen Schaffens erkennen können.
(Ende)

Im Luftreich des Traums

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