Freitag, 22. Januar 2021

Über den Bürgerrechtler Andrej Amalrik (Teil 1)

Den viel zu frühzeitigen Tod des russischen Dissidenten und Schriftstellers Andrej Amalrik (1938-1980) sehe ich als eine große Ungerechtigkeit an, die die Geschichte geschrieben hat. Nur vier Jahre nachdem er es nach großem Widerstand gegen das sowjetische Regime geschafft hatte, in den Westen auszureisen, ist er bei einem Autounfall in Spanien auf dem Weg nach Madrid zur Menschenrechtskonferenz (KSZE) tödlich verunglück. Allem Anschein nach fand dieser Unfall nicht durch Fremdeinwirkung statt, aber er kam wohl durch Übermüdung nach einer stundenlangen Grenzkontrolle zustande. Seine letzten 10 Jahre vor der Ausreise verbrachte er bei Strafprozessen, in Gefängnissen und in sibirischer Verbannung.

Der Welt hat er zwei kleine aber hoch interessante Bücher hinterlassen: seine Beschreibung, wie in den 1960-ger Jahren Strafverfolgung und Verbannung in der Sowjetunion verlief: „Unfreiwillige Reise nach Sibirien“ und ein sehr hellsichtiges Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ Auch wenn Letzteres uns heute als obsolet vorkommt, so kann man – wenn man sich in die damalige Zeit versetzt -, es fast nicht für möglich halten, dass jemand damals so vorausschauend gedacht hat. Heute erscheint es uns als logisch.

In den 60-ger Jahren konnte ich mich schon bewusst mit der Welt auseinandersetzen. So lernte ich es durch meinen Schulatlas: Zusammengestellt waren auf einer Atlasseite die drei Stufen der Ausbreitung des Sozialismus auf der Welt anhand von drei auseinander gezogenen Weltkarten. In allen Ländern, die rosa ausgefüllt waren, dort war der Kommunismus/Sozialismus schon verwirklicht. Die obere Karte zeigte das Jahr 1917: Russland war rosa. Auf der nächsten Karte waren die bis 1922 dazu gekommenen Staaten dann ebenfalls rosa. Die dritte Karte zeigte die Erweiterung des sowjetischen Machtbereichs nach dem 2. Weltkrieg an. (Afrikanische Staaten rechnete man, glaube ich, damals noch nicht dazu). Wegen der Auseinanderfaltung der Erdkugel waren die Perspektiven zudem noch sehr verzerrt.

Das viele Rosa beängstigte mich. Wer innerhalb der rosa Gebiete lebte, war meistens von dem Rosa nicht so begeistert. Aber ich Schulkind dachte resigniert: ´Dann wird es ja wohl nur noch einige Jahrzehnte dauern, bis alles rosa ist`. Froh war ich darüber nicht, aber ich nahm es fatalistisch hin. Ich kannte es nicht anders, ebenso wie Andrej Amalrik es nicht anders kannte, denn sein Leben fiel ja ganz und gar in die Zeit des Kommunismus. Umso mehr ist seine Hellsichtigkeit anzuerkennen. (In einem Essay, schon im Jahr 1990 herausgegeben, sah ein Freiburger Geographieprofessor die Sowjetunion noch als einen stabilen Staat, in dem sich nur etwas ändern muss, an, und das obwohl ein großer Teil des Machtbereichs gerade dabei war, abzubrechen).
(Fortsetzung folgt)

Im Luftreich des Traums

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