Über den Bürgerrechtler Andrej Amalrik (Teil 2)

Das Buch „Unfreiwillige Reise nach Sibirien“ ist für mich persönlich das interessantere, weil es einige Verbindungen zu meinen früheren Jahren aufweist. Der Autor beschreibt, wie er als junger Mann in den 60-ger Jahren in Moskau festgenommen und verurteilt wird und anschließend knapp zwei Jahre in Sibirien in der Verbannung in einem Kolchos arbeitete. Vieles, was einem heutzutage wie aus einer fremden Welt vorkommt, haben ich oder meine Verwandten noch selbst erlebt: „Schmarotzertum“, das war die Begründung für Amalriks Verurteilung. Viele meiner Verwandten in der damaligen Tschechoslowakei haben in „niederen“ Berufen arbeiten müssen, als Kanalreiniger, als Reinigungskraft in der Nachtbar. Wenn sie Glück hatten, bekamen sie eine Stelle als Heizer. Nach der politischen Wende waren sie dann wieder Professor, Pfarrer oder in künstlerischen Berufen tätig. Der Grund für diese Arbeiten, die für ihr Leben eigentlich nicht passend waren: der kommunistische Staat hat sie aus ihren Arbeitsstellen entlassen, und wenn sie keine andere Arbeit angenommen hätten, wären sie wegen „Schmarotzertum“ verurteilt worden. Eine Verbannung nach Sibirien drohte nicht, Gefängnis aber schon. Ich kann mich noch erinnern, wie ein Onkel zu uns sagte: „2 Monate muss ich in meiner schweren Arbeit noch durchhalten, dann bin ich endlich Rentner“. 5 Monate später war er Professor an der Karlsuniverstät. Ich kann mich auch noch an einen Augenblick erinnern, als jemand in der Familie sagte: „Jetzt haben sie den Havel schon wieder verhaftet!“. Ein dreiviertel Jahr später war er Präsident der Tschechoslowakei.

Amalriks Leben verlief leider anders, aber er konnte einige Jahre nach seiner Ausreise in den Westen in der Freiheit leben und er konnte Zeugnis ablegen. Besonders interessierten mich in dem Buch „Unfreiwillige Reise nach Sibirien“ die Verhältnisse im Kolchos, habe ich doch selbst drei Jahre in der sozialistischen Landwirtschaft und das um nur fünf Jahre zeitversetzt, gearbeitet. Es ist erstaunlich, wie viele Parallelen es in so einem großen Gesamtsystem, wie es die „sozialistische Staatengemeinschaft“ war, zwischen dem fernen Sibirien und dem westlichsten Zipfel des Systems, also der DDR, gegeben hat. Natürlich waren die Arbeitsbedingungen hier unvergleichlich besser. Denn es gab noch viele Arbeitsmethoden aus der früheren Zeit. Der Grad der Mechanisierung war in dieser Zeit sogar in Sibirien nicht so sehr unterschiedlich von dem hiesigen: Melkmaschinen, Traktoren, Pumpen gab es auch im Kolchos.

Für mich das Auffälligste war die Tatsache, dass sowohl im fernen Osten als im viele tausend Kilometer entfernten Westen viele gleiche Methoden angewandt wurden, die sich etwa in der Mitte davon, in Moskau, irgendjemand ausgedacht hatte. Plakate mit leeren Parolen hingen hier wie dort überall herum. Unser Betriebsleiter stritt sich andauernd mit dem Parteisekretär, weil der eine landwirtschaftlich dachte, der andere die Parteilinie durchsetzen wollte. Auch sehe ich noch, wie uns bei Versammlungen allen der Kopf auf den Tisch fiel, weil der landwirtschaftliche Leiter gezwungen war, politische Reden zu halten, und aus Unvermögen, eine gute Rede zu halten, zog er diese endlos in die Länge.
(Fortsetzung folgt)

Im Luftreich des Traums

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