erlebte meine Freundin Christina. Ihre Lebensumstände hatten dazu geführt, dass sie über längere Zeit allein in einem großen Haus wohnte, in dem noch bis vor Kurzem ihre ganze Familie gelebt hatte. Sie überlegte sich, dass sie mit ihrem zu vielem Wohnraum ein wenig dazu beitragen könnte, sich an der Hilfe für Flüchtlinge zu beteiligen. Sie wandte sich an die Kirchengemeinde und bot an, die Einliegerwohnung, in der einst die Kinder gewohnt hatten, etwa für ein halbes Jahr (bis das Haus verkauft werden sollte) an Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Das Angebot wurde freudig angenommen, Christina bekam sogar eine kleine Miete vom Sozialamt dafür. Ihre Motivation für die Aufnahme fremder Menschen in ihr Haus war, dass sie etwas Gutes tun wollte. Daneben ging es ihr darum, nicht nach der Arbeit in das jetzt sehr leere Haus zu kommen, sich mit ihren Mitbewohnern ein wenig zu unterhalten und eine Beziehung aufzubauen. So war es gedacht.
Zwei Frauen aus Togo wurden ihr „zugeteilt“. Sie hatten keine Kinder (bei sich), und waren in der Situation, dass sie eine „richtige“ Wohnung in Aussicht hatten, dort aber noch nicht wohnen konnten. So passte alles gut zueinander. Christina war ein wenig ärgerlich, dass die Frauen verlangten, dass die Möbel aus der Einliegerwohnung herauskommen, denn die Togoerinnen hatten sich für ihre zukünftige Wohnung schon Möbel angeschafft und wollten lieber diese benutzen. Wie das Problem gelöst wurde, weiß ich nicht.
Die Möbel waren nicht das Problem, sondern das Problem waren die Frauen selbst. Von dem Augenblick an, in dem sie ins Haus gezogen waren, hörten sie auf, mit Christina zu sprechen. Die war für sie einfach nicht mehr vorhanden. Die Frauen hatten nicht das geringste Interesse an ihrer Umgebung. Sie gingen nicht einmal nach draußen, sondern hielten sich den ganzen Tag in ihren beiden Zimmern und im luxuriösem Bad auf. Nur etwa zwei Stunden am Tag waren sie aktiv. Vormittags kochten sie in der Küche, die sich in einer Nische des offenen Flurs befand. Sie kochten ein Gemisch aus Zwiebeln, Knoblauch, Wasser und irgendwelchen Bindelebensmitteln. Das gesamte Haus war von den Gerüchen durchzogen bis in den letzten Winkel. Christina versuchte trotzdem, mit den Frauen irgendwie ins Gespräch zu kommen. Diese konnten ein wenig Deutsch, Christina konnte Englisch, die Sprache wäre also kein Problem gewesen. Wenn Christina in ihre Nähe kam, wandten die Frauen sich schweigend ab. Sie verhielten sich keineswegs feindselig, sondern sie schienen die Situation so zu sehen: wir „überwintern“ hier so lange, bis wir in unsere eigene Wohnung ziehen werden. Sowohl die Menschen als auch die häusliche Situation gehen uns nichts an, und wir wollen auch nichts davon wissen.
Die Frauen wohnten einige Monate in Christinas Haus. Christina erzählte mir, dass sie schon lange keinen so schönen Tag hatte wie der, an dem ihre Besucherinnen das Haus wieder verließen. Sie selbst wohnte auch nicht mehr lange dort. Man kann diese Episode als Partikel im System der gesamten Flüchtlingsproblematik bezeichnen.
anne.c - 15. Aug, 08:08
Vor einiger Zeit schrieb ich über meine
Freundin Gisela, über ihre „Miss-Behandlung“ von Seiten ihres Arbeitsgebers und ihre Beerdigung. Eine Unmenge Menschen waren zu ihrer Beerdigung gekommen. Einige haben geweint, aber niemand hat so geweint, wie ihr Ziehsohn Faisal.
Gisela und ihr Mann standen der Einwanderung 2015 positiv gegenüber. Sie sahen darin eine Chance, ihre christliche Lebenseinstellung in die Tat umzusetzen. Bald schon nach der großen Einwanderung schauten sie sich im Flüchtlingsheim in einer nahe gelegenen Kleinstadt um. Sie versuchten einen Kontakt mit den Flüchtlingen herzustellen und freundeten sich mit einem jungen Syrer namens Faisal an. Ich denke, dabei waren sie von dem Gedanken getragen: wenn auch nur ein Teil der deutschen Bevölkerung die „Patenschaft“ für jeweils einen oder wenige Menschen – so wie die jeweiligen Kräfte und Umstände es hergeben -, übernehmen würde, dann wäre die Flüchtlingsproblematik nicht mehr so ein Problem und eine Integration von vielen Menschen in die Gesellschaft möglich. (Sie waren Idealisten).
Als wir nach einer längeren Pause dort wieder einmal einen Besuch machten, gab es in der Familie ein neues Familienmitglied namens Faisal. Gisela und ihr Mann hatten alles, was ihnen möglich war unternommen, um Faisal beim Start in die Gesellschaft zu helfen. Sie erledigten mit ihm Behördengänge, sie halfen ihm, dass er in einer nahen Stadt eine kleine Wohnung erhielt, sie besorgten für ihn eine Arbeit in einer Wäscherei. Als er nach einiger Zeit das Bedürfnis hatte, mehr zu lernen und sich zu qualifizieren, womit auch ein Umzug in eine weit entfernte Gegend verbunden war, legten sie ihm keine Steine in den Weg, so schwer es ihnen war, dass sie ihn nun weniger sehen konnten. Wer ihm Steine in den Weg legte, das waren die Behörden, denn Faisals Wunsch, eine Ausbildung zum Physiotherapeuten zu beginnen, haben sie ihm sehr schwer gemacht. Immer stimmte etwas in der Ausbildungsbürokratie oder anderes Formelles nicht. Faisal zog in eine Stadt in Süddeutschland, und selbst da hatte Gisela Kontakte, die ermöglichten, dass Faisal in eine kleine Einliegerwohnung ziehen konnte. (Wie die Sache mit der Ausbildung weiter ging, weiß ich jetzt nicht).
Dreimal habe ich Faisal gesehen. Bei einem großen Familienfest habe ich ihn kennen gelernt und über die Geschichte seiner Aufnahme in die Familie erfahren. Das nächste mal war ich zur Kirschenernte auf den kleinen Bauernhof gefahren. Meine Wanne für die Kirschen stand auf einem Schuppendach, von dem aus ich gut an die Unmengen Kirschen am Baum gelangen konnte. Kaum war ich zum Pflücken auf´s Dach gestiegen, da stand auch schon Faisal neben mir und pflückte etwa drei Stunden lang mit mir Kirschen. Ja, und dann sah ich ihn auf Giselas Beerdigung. Sie, von der ich auch einmal den enthusiastischen Ausspruch gehört hatte: „Er ist für mich wie mein fünftes Kind!“, die wurde von allen ihren Kindern beweint, aber von keinem so, wie von ihrem Ziehsohn Faisal.
anne.c - 9. Aug, 07:02
Einige Verwicklungen des Lebens haben es mit sich gebracht, dass sich mein jetziger Zahnarzt in genau demselben Haus befindet, in das ich schon in der Kindheit und Jugend zum Zahnarzt ging. Die Aufteilung des Hauses, von der Patientenaufnahme über die Türen, Fenster, Treppe im Warteraum u.a. hat sich nicht geändert, so dass ich mich um einige Jahrzehnte zurück versetzt fühle, wenn ich dort warte.
Die wartenden Patienten sind von ähnlichem Typ, wie ich es gewohnt war. Als ich vor Kurzem zum Zahnarzt kam, bot sich mir an der Rezeption ein Bild, wie ich es bis dahin dort noch nie gesehen hatte: muslimische Frauen, wahrscheinlich Großmutter, Mutter und deren halbwüchsige Töchter verhandelten längere Zeit mit der geduldigen Rezeptionsschwester. Das Problem war eine Chipkarte, die nicht „durchgezogen“ werden konnte, also genau das, worauf es der Zahnarztschwester ankam. Alles spielte sich fast lautlos ab, das größere Kind fungierte als Dolmetscher. Das Problem wurde schließlich gelöst, beide erwachsene Muslima bekamen später eine Behandlung.
Der Anblick der Gruppe wirkte exotisch: Die Frauen waren in lange schöne Gewänder gehüllt, bei den Mädchen war allerhand Glitzer zu sehen. Die Frauen ersetzten die fehlende „Maske“ durch Auf- oder Abziehen ihrer Kopfverhüllung. (Malerischer als die „Ureinwohner“ sahen sie allemal aus).
Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn sich ca. 50 Jahre zuvor diese Gruppe im Warteraum aufgehalten hätte. Die meisten Menschen hätten vermutet, dass die DEFA hier einen Märchenfilm dreht, manche wären vielleicht in Ohnmacht gefallen. Stadtgespräch für mehrere Wochen wäre es auf jeden Fall gewesen.
So kam mir in den Sinn, dass es ebenso gut möglich wäre, dass in 50 Jahren in immer noch demselben Zahnarzthaus mit der gleichen Raumaufteilung sich wieder ganz andere Arten von Menschen bewegen können. Verschiedene Varianten malte ich mir aus: vielleicht, dass Muslima die Rolle des Zahnarztes einnehmen, oder dass verschiedene Menschen verschiedener Hautfarben als Patienten bunt durcheinander gemischt wären, oder dass man nach Geschlecht getrennt sitzen würde. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Einen Zahnarzt wird man wohl in 50 Jahren auch noch benötigen, und so lange die zahnärztliche Behandlung gewährleistet ist, müssen wir uns – jedenfalls in dieser Hinsicht – keine Sorgen machen.
anne.c - 5. Aug, 14:47
In der früheren Zeit war es oft üblich, dass sich Berufe durch mehrere Generationen ziehen. (Von Ärzten und Pfarrern habe ich es gehört). So denke ich anhand der Verwandtschaft an vier Pfarrergenerationen. Alle habe ich persönlich gekannt oder wenigstens gesehen.
Den Ältesten hat die ganze Wucht von Geschichte getroffen (im Habsburger + Wolhynischen + Tschechischen Bereich) Erster Weltkrieg, Gründung der Tschechoslowakei, Leben in Wolhynien, Kommunismus. Aussiedlung des gesamten wolhynisch-tschechischen Dorfes (Es gab nicht nur Aussiedlungen von Deutschen nach dem zweiten WK, die gab es damals überall). Jahrzehntelang war er derjenige, der die inzwischen Ausgesiedelten in der kommunistischen Tschechoslowakei zusammen hielt, denn sie mussten aus ideologischen Gründen in der neuen Heimat zerstreut leben, damit sie keine Gruppen bilden.
Ich sehe noch seine Beerdigung an einem heißen Julitag 1983: Sein Sarg wurde von mit ihm verwandten Trägern, die sich abwechselten, die ca. 800 m von der Kirche den hohen Hügel zum Friedhof hinaufgetragen. 14 Pastoren im Talar begleiteten den Sarg, und darauf folgte der Trauerzug von mehr als 1000 Personen. (Versammlungen konnten die Kommunisten verbieten, Beerdigungen nicht.)
Sein Schwiegersohn war Dorfpfarrer, die gesamte kommunistische Zeit über. Dessen Frau, Tochter des „Patriarchen“, hatten die Kommunisten wie allen Kindern übel mitgespielt. Sie arbeiteten als: Heizerin, der am meisten Drangsalierte als Kanalreiniger (nach der Wende war er Professor an der Karlsuniversität), einer schaffte es unter unglaublichen Umständen Arzt zu werden, und eben letztgenannte Tochter war Pfarrfrau und arbeitete zuletzt als Schwester in einem Sanatorium.
Mittags kam also unsere Tante von ihrem Dienst im Sanatorium nach Hause. Dann versammelten sich die Frauen in der Küche. Es wurde geschält, gebacken, gekocht unter ununterbrochenem Schwatzen. Verwandte waren da oder einfache Frauen aus dem Dorf, auf jeden Fall war immer jemand da. Die Unterhaltungen drehten sich ums Kochen und Backen, um die Schicksale der Menschen im Dorf oder z.B. um die Erlebnisse, wenn Kommunismus und Kirche aufeinander geprallt waren. Die Machtausübung der Kommunisten auf die Kirche war immens, denn anders als in der DDR, gab es keine selbständige Kirche, sondern die Pfarrer waren Staatsangestellte und direkt vom Staat abhängig.
Auch diese Zeit ging vorbei. Ein Sohn wurde dann wieder Pfarrer. Seine junge Pfarrertätigkeit fiel direkt in die „Wende“. Er hat dann auch schon im Ausland (wohl noch in der DDR?) studiert, hat später sehr aktive und verantwortungsvolle Aufbauarbeit geleistet und war in seinem Sprengel Superintendent. Einer seiner Söhne wurde auch wieder Pfarrer. Den kenne ich nur als kleines Kind und weiß nicht viel von ihm. Wo er überall studiert hat, weiß ich nicht, aber die Welt steht ihm offen. Neulich besuchten wir seinen Vater, und der erzählte uns freudig, dass der Sohn mit seiner jungen Frau und dem Kind gerade Urlaub auf einer griechischen Insel macht und dass er ihm ein Foto davon auf´s Handy geschickt hat. Ein Handyfoto, wie sie täglich millionenfach verschickt werden: ein junges Paar mit kleinem Kind vor Meereskulisse. Aber warum soll eine junge Pfarrersfamilie nicht so leben, wie Millionen andere auch?
Meine Phantasie reichte nicht aus, um mir vorstellen zu können, dass Großeltern oder Urgroßeltern des jungen Pfarrers je auf diese Weise Urlaub gemacht hätten, selbst wenn die Möglichkeit dazu vorhanden gewesen wäre. Damals reisten sie auch: zu ihren Verwandten, mit denen sie eine Zeit lang zusammen lebten, sich gegenseitig halfen oder etwas zusammen unternahmen. Die Kinder wurden in den Ferien gegenseitig ausgetauscht, so dass Cousins und Cousinen wie Geschwister aufwuchsen.
Ich dachte aber auch: `ob einst dem Sarg des jüngsten Pfarrers dieser vier Generationen mehr als tausend Menschen folgen werden?` Doch die Geschichte mag noch allerhand Überraschungen bereit halten, und manchmal wird jemand allein durch die Lebensumstände gezwungen sein, eine Rolle einzunehmen, die ihm die Umstände der heutigen Zeit verwehren.
anne.c - 28. Jul, 17:34
In der nächsten Kleinstadt, in der wie in vielen ähnlichen Städten, eine Reihe von Flüchtlingen untergebracht sind (ich benutze dieses unkorrekte Wort), kann man beobachten: Die Spaltung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen ist ungleich kleiner als die zwischen Arm und Reich. Die Stadt, an einem schönen Gewässer gelegen, hat sich in den ca. 30 Jahren nach der „Wende“ so entwickelt, dass es einen krassen Unterschied gibt zwischen den Stadtgebieten, die am Wasser gelegen sind und den „hinteren Teilen“ der Stadt. Ich bezeichne sie als „Teil Arm“ und „Teil Reich“.
Das gesamte Gebiet am Wasser ist voll von Glanz und Reichtum: Hotels, Ressorts (was immer das sein mag), Eigentumswohnungen für Menschen aus Nah und Fern, Flaniermeile, Kunstwerke; Yachten im Wasser. Dazu das entsprechende Publikum: kulturbeflissene Touristen, Yachtbesitzer usw. Von diesem touristischen Highlith gelangt man durch eine schon etwas verrumpelte Hauptstraße, in der es wechselnde Geschäfte, Dönerläden, vietnamesische Billigkaufhäuser usw. gibt, in den „Teil Arm“. Da sieht es entsprechend aus. Etwas verbessert gegenüber dem desolaten Zustand in der Vorwendezeit, aber nicht viel. Das DDR-Plattenbaugebiet, in dem allerhand Flüchtlinge untergebracht sind, gehört auch dazu.
Gestern erlebte ich in „Teil Arm“ eine anrührende Episode. Ich wartete eine Weile am Bahnhof, weil ich Verwandte vom Zug abholen wollte. In einem sich vor dem Bahnhof befindenden Bushäus´chen „hängten“ drei Kinder „ab“, wie das in Bushäus´chen üblich ist. Sie hatten irgendwelche Elektroroller bei sich und ein Gerät, aus dem laute Musik tönte. Sie waren noch recht jung, etwa 8 bis 10 Jahre, einer davon offensichtlich ein „Flüchtlingsjunge“, dazu zwei Einheimische.
Da ich Zeit hatte, wollte ich erkunden, wie diese Jungs miteinander umgehen und setzte mich mit möglichst unbeteiligtem Blick zu ihnen ins Häu´schen. Nach einer Weile stellte sich der ca. 8-jährige deutsche Junge vor mich und sagte: „Wie geht es dir?“ Ich war verblüfft (und hatte die Erkenntnis, dass Kinder in diesem Alter durchaus daran interessiert sind, dass sie von Erwachsenen wahrgenommen werden, und dass man sich mit ihnen beschäftig). Sofort ergriff ich die Gelegenheit zu einem Gespräch und antwortete: „Gut. Aber geht ihr in eine Klasse oder seid Freunde?“ Bevor eine Antwort kommen konnte, wies ihn der Flüchtlingsjunge zurecht“: „Das heißt: ´wie geht es I h n e n!´, hast du denn keinen Respekt?“ Der kleinere Junge war sehr verlegen und sagte: „Ich verwechsele das immer“. Darauf antwortete ich: „Weißt Du, früher war es so, dass Kinder zu Erwachsenen Sie sagen, aber heute kann man das anders sagen, du hast das ganz richtig gefragt“.
Leider kam dann der Zug. Die Jungs zogen auch ab. Meine Gedanken gingen etwa in folgende Richtung: Wie empfänglich sind doch Kinder (vor der Pubertät), egal ob Flüchtlinge oder Einheimische für das Zusammensein mit Erwachsenen, und wie sehr man kann man sowohl positiv als auch negativ auf sie einwirken. Ob es in der Stadt soziale oder kirchliche Einrichtungen gibt, die sich mit diesen Kindern befassen? Ob die entsprechende Kirchengemeinde, die Millionen für Restaurierung, neue Orgeln usw. ausgibt, auch Personal hat, das sich mit den Flüchtlingskindern und den Kindern von „Teil Arm“ beschäftigt? Damals, als die Flüchtlinge kamen, hatten sich ja in der Stadt verschiedene Flüchtlingsinitiativen gegründet (hauptsächlich aus rüstigen unterbeschäftigen Rentnerinnen). Hoffentlich haben diese den langen Atem und die gesundheitlichen Voraussetzungen, sich weiter mit ihren Neubürgern beschäftigen zu können.
Für mich war es jedenfalls ein sehr schönes Erlebnis an einem langen intensiven Sommertag.
anne.c - 23. Jul, 15:32
Wenn ich zurück denke: Die viel interessantere Zeit in der „Wende“, die im gesellschaftlichen Bewusstsein vom Glanz der „friedlichen Revolution“ überschattet wird, waren die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, bzw. Währungsunion. Es wäre Wert, sich ausgiebig damit zu beschäftigen, von den Brüchen, den Umwälzungen, den Schicksalen. Diese sollte man sich im einzelnen betrachten.
So sage ich manchmal: `Die Zahnärzte sind in eine Goldgrube gefallen, die Tierärzte in eine Jauchegrube`. Im gesellschaftlichen Status etwa gleichwertig, konnte die Zahnärzte in Windeseile -die Krankenkassen bezahlten es -, das aufholen, was sie in Jahren zuvor an Geldverdienen hatten versäumen müssen. Tierärzte dagegen gab es mehrfach so viele, wie in der adäquaten westdeutschen Gesellschaft. Die landwirtschaftlichen Groß-Tieranlagen hatten zu viele Tierärzte angestellt, die inzwischen florierende Haustierhaltung war noch nicht in Gang gekommen, und man wollte seine neu erworbene D-Mark auch nicht unbedingt gleich für Hund und Katze ausgeben. So habe ich in mehreren Dörfern den Verdrängungswettbewerb der zu vielen Tierärzte mit verfolgen können. Manche versuchten den Weg in die Selbständigkeit, manche gaben auf, manche schulten um, manche hielten sich mit interessanten ABM-Aufgaben bis zur Rente über Wasser.
Meine Tierärztin-Freundin Gisela hat es nicht geschafft. In einer sehr strukturschwachen Region lebte sie auf einem Bauernhof von dem aus man sich, um überhaupt zu einer Straße zu kommen, gut 500 m über einen äußerst rumpligen Feldweg quälen musste. Neben ihrem sehr netten aber nicht geld-wirtschaftstüchtigen Ehemann hatte sie vier heran wachsende Kinder zu ernähren. So nahm sie bald einen Job als Betreuerin in einem nahe gelegenen „Alkoholikerdorf“ an. Das war eine soziale Einrichtung der Diakonie, die fast alle Häuser des winzigen Dorfes belegte, und in der alkoholabhängige Menschen, die in Pommern ständig nachwachsen, „für´s Leben fit“ gemacht werden sollten, d.h. in der Regel aufbewahrt wurden. Gut 20 Jahre lang arbeitete sie dort sehr engagiert als Betreuerin. Kurz bevor die Rente nahte, hat sie sich leider durch einen unverzeihlichen Fehler ihren Weggang verdorben.
Die Sache war so: Einmal in der Woche packte Gisela den Kleintransporter voll mit Klienten, fuhr mit ihnen in die nächste Stadt (20 km), damit die Leute im aldi billig für sich einkaufen konnten. Dabei beging Gisela eine unverzeihliche Untat: Anstatt draußen auf ihre Klienten zu warten, schnappte sie sich – pragmatisch - einen Einkaufwagen und kaufte für ihre Familie ein. Schon damit sie sich abends das zweimalige Rumpeln auf dem Feldweg ersparen konnte. Jemand wollte ihr Böses und zeigte an, dass sie in der Arbeitszeit private Einkäufe tätigt. In der Leitung der Diakonie war man außer sich über dieses Arbeitsrechtvergehen. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung gegen die unbotmäßige Mitarbeiterin. Das Ergebnis war ein in die Akten eingetragener Verweis und 30 Strafstunden. Und natürlich viel Bitterkeit dem ehemaligen Arbeitgeber gegenüber. Die Strafstunden waren kein Problem, denn Gisela hatte im weiten Umkreis in vielen sozialen Einrichtungen Freunde und Bekannte, bei denen sie diese 30 Stunden gern verbrachte und ableistete. Den Verweis, der sie in den Ruhestand begleitete, empfand sie als Erniedrigung, aber die Zeit setzt sich über alles hinweg. Ihren Aktivitäten und ihren Freundschaften als Rentnerin tat dieser Verweis keinen Abbruch, später lachten wir darüber.
Leider konnte meine Freundin ihren erfüllten Ruhestand nur 7 Jahren erleben, mit 72 Jahren starb sie an Krebs. Auf ihrer Beerdigung konnte man sehen, was für eine Frau es war, die die Diakonie mit einem arbeitsrechtlichen Verweis verabschiedet hat. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Menschen des Dorfes waren gekommen, dazu Freunde und Verwandte aus der Ferne und aus der Nähe. Der Kondolenzzug am Ehemann und an den inzwischen erwachsenen (und sehr tüchtigen) Kindern war endlos. Ich empfand es so, dass die Diakonie sich mit ihrem Verweis selbst erniedrigt hat.
anne.c - 20. Jul, 16:01
Oft frage ich mich, warum alles Mögliche angeblich „immer schlimmer“ wird: die Spaltung in der Gesellschaft, die Gleichgültigkeit im persönlichen Umgang oder „Hass-und Hetze“ oder sonst etwas. Schon seit Jahrzehnten bekommt man Bekundungen etwa jener Art zu hören: `Brutalität und Gewalt gab es schon immer, aber die Intensität ist jetzt eine ganz andere`. (Dann denke ich: `Von der Brutalität und Gewalt in den 40-ger Jahren hast du wohl noch nie etwas gehört?`) In meinem persönlichen Leben kann ich Feststellungen jener Art nicht treffen, aber es interessiert mich, ob das wirklich mit dem „immer schlimmer“ so ist, und wie das funktioniert.
So kam mir in diesen Überlegungen ein Gespräch mit einer Journalistin sehr entgegen. Wir sind weitläufig miteinander bekannt, es ist eine sehr angenehme und gebildete Frau. Als „Freischaffende“ hat sie es nicht leicht, und so ist sie immer auf der Suche nach Themen. Sie schreibt für seriöse Zeitungen, z.B. für Kirchen- Lokal- und jüdische Zeitungen. In meinen Überlegungen, warum heutzutage vieles „immer schlimmer“ wird (wozu ich nicht Brutalität, sondern das Niveau der allgemeinen Medien zähle), stellte ich ihr keine direkten Fragen, sondern ich hörte mir an, was sie zu erzählen hat.
Ein wenig misstrauisch war ich geworden, weil sie auf der Suche nach Themen immer nach „Positivem“ spähte. Sie fragte mich z.B., ob ich Menschen kenne, die ihr Leben radikal geändert haben, um etwas Positives für die Gesellschaft bewirken zu können. Ich selbst würde, zumindest als Journalist, an die Sachen so heran gehen, dass ich mir anschaue, was um mich herum ist und das irgendwie beschreiben und deuten.
Im Grunde machte es die Frau auch so. Weniger, wenn sie schrieb, sondern wenn wir miteinander plauderten. Sie überlegte, ob sie aus der sozialen Ferienreinrichtung, in der sie sich aufhielt, einen Artikel über eine Gruppe von Flüchtlingen schreiben solle. „Die haben mir unheimlich gut gefallen, die hatten einen tollen Pädagogen als Gruppenleiter“. Bei unserer Unterhaltung tätigte sie, so für sich selbst, mehrmals die Aussage: „Ach, „Flüchtlinge“ soll man ja nicht sagen!“ (Sie hatte also eine Schere im Kopf. Im persönlichen Gespräch nannte sie die Leute doch immer wieder Flüchtlinge, und gar nicht benutzte die sie so genannte Gendersprache, weil die in flüssiger Unterhaltung einfach zu umständlich ist). Es wäre wirklich sehr nett mit den Flüchtlingen gewesen. Obwohl: da gab es auch einen unschönen Vorfall. Über den wollte sie nicht schreiben, aber mir erzählte sie ihn sehr munter. Außer den „Flüchtlingen“ hielten sich noch sozial schwache und kinderreiche Familien in der Sozialeinrichtung auf. Da hatte es Ärger gegeben. Abends war es zu lange laut gewesen, und schließlich hatte einer der sozial schwachen Väter die Flüchtlingsgruppe zurecht gewiesen mit den Worten: „Hört auf mit eurer Negermusik!“.
Das ist eine Begebenheit wie sie in einem völlig überlaufenen Tourismusgebiet Gang und Gäbe ist, und normalerweise wäre die Situation leicht gelöst, vor allem da ein „toller Pädagoge“ vorhanden war. Anstatt die Situation aber zu beschwichtigen – denn es gibt eben nun mal Menschen, die aufbrausend sind, die in ihrer Wortwahl nicht politisch korrekt sind, und die um den Nachtschlaf ihrer Kinder besorgt sind -, wurde ein großes Theater um das politisch nicht korrekte Wort inszeniert.
Der tolle Pädagoge hätte sagen können, dass er die Bezeichnung Negermusik für nicht angemessen hält, aber dass ihnen als Gruppe nicht bewusst gewesen war, dass hier Kinder schlafen. Dann hätte es kein Problem mehr gegeben. Es entbrannte aber eine ungeheure Empörung über das Wort Negermusik. Auch meine Bekannte stand in diesem Fall voll hinter dem Leiter der sozialen Einrichtung, den sie mir ansonsten als recht empathielos beschrieben hatte. Dieser drohte dem angeprangerten Vater an, dass er ihn anzeigen werde, wenn er sich nicht sofort für das böse Wort entschuldigt. (Ich dachte: `Oh, kann man für so ein böses Wort schon angezeigt und verurteilt werden?´) Meine Bekannte, die Journalistin, sagte mir: „Ich bin ja neugierig, ich konnte das Gespräch am offenen Fenster mitanhören!“. Also, eine richtige Journalistin war sie schon, aber ihr war nicht bewusst, dass sie schon von Ideologie geprägt war. Der böse Vater hat sich dann für das Wort entschuldigt. Die Sache war bereinigt. Was aber „in" dem Vater hängen geblieben ist, nachdem er als Bösartiger an den Pranger gestellt worden war, sein berechtigter Wunsch nach Nachtruhe für seine Kinder aber nicht thematisiert worden war, das kann man zumindest ahnen.
Man sollte sich nicht über die „Spaltung der Gesellschaft“ wundern, sondern sich eher überlegen, nach welchen Mechanismen diese zustande kommt.
anne.c - 13. Jul, 13:33
Dann erfolgte die zweite Beschwerde, diesmal nicht von mir. Einige verängstigte Parteigenossen („Genossen“ bedeutete immer SED, denn in den anderen Parteien nannte man sich, glaube ich, Parteifreunde) verstanden die Welt nicht mehr, sie waren völlig konfus (einschließlich des Genossen Wahlleiters), sie wussten aber, dass man sich beschweren darf. Und so brachte jemand empört die Beschwerde vor, dass draußen jemand gesagt hätte: „jetzt kommen die Schweine von der PDS“. Das kann durchaus möglich gewesen sein, denn in den Zeiten war man nicht zimperlich, und so mancher sagte das, was ihm gerade in den Sinn kam. Ich meldete mich also noch einmal zu Wort und sagte, dass ich solche Bezeichnungen unmöglich und einer Wahl nicht angemessen finde.
Das war alles, wir gingen nun ohne weitere Vorkommnisse zur Wahlschulung über. Ich aber hatte mir mit meinem Eintreten für die PDS-ler einen Freundeskreis geschaffen. Sie müssen wohl so verunsichert gewesen sein, dass meine Worte doppelt wogen, ich wurde jedenfalls für alle Zeit sehr, sehr freundlich von ihnen gegrüßt. Zu Hause erzählte ich immer schmunzelnd davon. Jetzt ist, wie erwähnt, nur noch einer da von der Riege derjenigen, die erst nach „vollendeter Wende“ erfuhren, was der neue Staat für Wohltaten auch für sie bereithielt. (In der PDS bzw. „die linke“ blieben sie natürlich und jammerten über ihren verloren gegangenen Status).
Doch nicht nur mein Eintreten für sie bei der letzten Volkskammerwahl mag ein Grund für dieses freundliche Grüßen gewesen sein. Menschen, die eine Zeitepoche miteinander durchlebt haben, mögen sie auch Kontrahenten gewesen sein, fühlen sich viel stärker miteinander verbunden, als ganz Unbeteiligte aus anderen Umfeldern. Das habe ich aus dem Buch „Heimatmuseum“ von Siegfried Lenz erfahren, wo ich mich beim ersten Lesen wunderte, dass der damalige Sozialdemokrat Conny, der beim Plakate Kleben von den Nazis zusammengeschlagen wurde, später, als sie alle in Schleswig Holstein gelandet waren, dann gut Freund mit demjenigen Schläger war. Natürlich: der Verlust der gemeinsamen Heimat Ostpreußen hielt sie viel fester zusammen, als ihre damalige Feindschaft sie trennte.
Ähnlich ergeht es mir mit „alten Genossen“. Mit manchen plaudere ich ein wenig, mit manchen ehemalig feindseligen Lehrerinnen grüße ich mich freundlich. Eine gemeinsam durchlebte Zeit ist ein starkes Bindemittel.
anne.c - 5. Jul, 21:42