Dienstag, 20. Juli 2021

Zwei mal ein Abschied

Wenn ich zurück denke: Die viel interessantere Zeit in der „Wende“, die im gesellschaftlichen Bewusstsein vom Glanz der „friedlichen Revolution“ überschattet wird, waren die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, bzw. Währungsunion. Es wäre Wert, sich ausgiebig damit zu beschäftigen, von den Brüchen, den Umwälzungen, den Schicksalen. Diese sollte man sich im einzelnen betrachten.

So sage ich manchmal: `Die Zahnärzte sind in eine Goldgrube gefallen, die Tierärzte in eine Jauchegrube`. Im gesellschaftlichen Status etwa gleichwertig, konnte die Zahnärzte in Windeseile -die Krankenkassen bezahlten es -, das aufholen, was sie in Jahren zuvor an Geldverdienen hatten versäumen müssen. Tierärzte dagegen gab es mehrfach so viele, wie in der adäquaten westdeutschen Gesellschaft. Die landwirtschaftlichen Groß-Tieranlagen hatten zu viele Tierärzte angestellt, die inzwischen florierende Haustierhaltung war noch nicht in Gang gekommen, und man wollte seine neu erworbene D-Mark auch nicht unbedingt gleich für Hund und Katze ausgeben. So habe ich in mehreren Dörfern den Verdrängungswettbewerb der zu vielen Tierärzte mit verfolgen können. Manche versuchten den Weg in die Selbständigkeit, manche gaben auf, manche schulten um, manche hielten sich mit interessanten ABM-Aufgaben bis zur Rente über Wasser.

Meine Tierärztin-Freundin Gisela hat es nicht geschafft. In einer sehr strukturschwachen Region lebte sie auf einem Bauernhof von dem aus man sich, um überhaupt zu einer Straße zu kommen, gut 500 m über einen äußerst rumpligen Feldweg quälen musste. Neben ihrem sehr netten aber nicht geld-wirtschaftstüchtigen Ehemann hatte sie vier heran wachsende Kinder zu ernähren. So nahm sie bald einen Job als Betreuerin in einem nahe gelegenen „Alkoholikerdorf“ an. Das war eine soziale Einrichtung der Diakonie, die fast alle Häuser des winzigen Dorfes belegte, und in der alkoholabhängige Menschen, die in Pommern ständig nachwachsen, „für´s Leben fit“ gemacht werden sollten, d.h. in der Regel aufbewahrt wurden. Gut 20 Jahre lang arbeitete sie dort sehr engagiert als Betreuerin. Kurz bevor die Rente nahte, hat sie sich leider durch einen unverzeihlichen Fehler ihren Weggang verdorben.

Die Sache war so: Einmal in der Woche packte Gisela den Kleintransporter voll mit Klienten, fuhr mit ihnen in die nächste Stadt (20 km), damit die Leute im aldi billig für sich einkaufen konnten. Dabei beging Gisela eine unverzeihliche Untat: Anstatt draußen auf ihre Klienten zu warten, schnappte sie sich – pragmatisch - einen Einkaufwagen und kaufte für ihre Familie ein. Schon damit sie sich abends das zweimalige Rumpeln auf dem Feldweg ersparen konnte. Jemand wollte ihr Böses und zeigte an, dass sie in der Arbeitszeit private Einkäufe tätigt. In der Leitung der Diakonie war man außer sich über dieses Arbeitsrechtvergehen. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung gegen die unbotmäßige Mitarbeiterin. Das Ergebnis war ein in die Akten eingetragener Verweis und 30 Strafstunden. Und natürlich viel Bitterkeit dem ehemaligen Arbeitgeber gegenüber. Die Strafstunden waren kein Problem, denn Gisela hatte im weiten Umkreis in vielen sozialen Einrichtungen Freunde und Bekannte, bei denen sie diese 30 Stunden gern verbrachte und ableistete. Den Verweis, der sie in den Ruhestand begleitete, empfand sie als Erniedrigung, aber die Zeit setzt sich über alles hinweg. Ihren Aktivitäten und ihren Freundschaften als Rentnerin tat dieser Verweis keinen Abbruch, später lachten wir darüber.

Leider konnte meine Freundin ihren erfüllten Ruhestand nur 7 Jahren erleben, mit 72 Jahren starb sie an Krebs. Auf ihrer Beerdigung konnte man sehen, was für eine Frau es war, die die Diakonie mit einem arbeitsrechtlichen Verweis verabschiedet hat. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Menschen des Dorfes waren gekommen, dazu Freunde und Verwandte aus der Ferne und aus der Nähe. Der Kondolenzzug am Ehemann und an den inzwischen erwachsenen (und sehr tüchtigen) Kindern war endlos. Ich empfand es so, dass die Diakonie sich mit ihrem Verweis selbst erniedrigt hat.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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