Tuvia Tenenboom „Allein unter Flüchtlingen“

Das neue „Tuvia“-Buch erhielt ich schon am Tag des Erscheinens. Diesmal war ich aufgrund meiner früheren Leseerfahrungen mit diesem Autor nicht skeptisch, dass ein neues „Allein“-Buch eine Wiederholung von Altem sein könnte. Im Gegenteil, denn es spielt in einem Milieu, in dem ich mich auskenne. Der erste Blick war trotzdem eine Enttäuschung: Es ist zu dünn. Allerdings war es auch die einzige Enttäuschung.

Tuvia bereist den Osten und den Westen Deutschlands und er nutzt seine altbewährte Art, direkt auf die Menschen zuzugehen, sich auf sie einzulassen, sie zu beobachten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, und auf eine geniale Weise die „richtigen“ Fragen zu stellen, auf die er dann auch prompt die „richtigen“ Antworten erhält. Da er Deutschland erst spät in seinem Leben kennengelernt hat und über die deutsche Sprache (wohl) nur vermittels seiner (ihn unsichtbar begleitenden) Frau verfügt, ist der Leser immer wieder verblüfft, wie er mit seinen Beobachtungen ins Schwarze trifft. Diesmal hat Tuvia einen unschätzbaren Vorteil, denn er beherrscht Arabisch und kommt dadurch schnell mit Flüchtlingen (die damals noch nicht Geflüchtete hießen) ins Gespräch. Sie erzählen ihm über ihre Lebensumstände, legen ihre berechtigten oder unberechtigten Klagen vor, er lernt Flüchtlingsheime und -unterkünfte von innen kennen. Daneben trifft er die Einwohner, sowohl Menschen auf der Straße, als auch Politiker oder „Prominente“. Berührungsängste kennt er nicht, die AfD und ihre Vertreter interessieren ihn sehr und im Gegensatz zu den deutschen Medien, in denen AfD-Vertreter als eine Art von Untermenschen ignoriert oder diffamiert werden, erlebt er sie als Individuen, mit denen er sich auseinandersetzt und über die er sich Gedanken macht..

Der Unterschied zwischen Ost und West fällt ihm auf. Im Osten reden die einfachen Menschen direkter und unverblümter, im Westen herrscht eher eine an Correctness geschulte Sprechweise vor. Wie von Zauberhand gelenkt, taucht sowohl bei Flüchtlingen als auch bei Deutschen immer wieder eine Fixierung auf Israel oder die Juden auf.

Die einzelnen Episoden will ich nicht schildern, man soll sie selbst in Tuvias unnachahmlicher pointierter Sprachweise lesen. Nur so viel sei angemerkt, dass er die Zustände in vielen Flüchtlingsunterkünften als desolat erlebt hat. Mit der Mentalität von Flüchtlingen kenne ich mich zu wenig aus, um mir ein Urteil bilden zu können, wohl aber mit der Mentalität von Flüchtlingshelfern. Und die ist derart authentisch geschildert, dass man jedes Erlebnis und sei es noch so absurd, nachvollziehen kann. Interessanterweise wird ihm oft auf seine Frage, warum ausgerechnet Deutschland diese Unmengen von Flüchtlingen aufgenommen hat geantwortet, das wäre darum, weil „Deutschland seinen schlechten Ruf auf der Welt gut machen und man nicht als ein ‚Naziland‘ dastehen will“. Tuvia akzeptiert diese Meinung seiner Gesprächspartner. Mich wundert diese Einstellung ein wenig, denn seit Jahrzehnten ist in den Medien immer wieder zu lesen und zu hören, wie hoch Deutschland auf der Skala der beliebtesten Länder auf der Welt stünde - einer der vordersten, wenn nicht der erste Platz ist ihm immer gewiss. Möglicherweise ist Deutschland „wegen seiner Vergangenheit“ (dieser allgemein geliebte Ausdruck, der alles und nichts aussagt) wie von einem Waschzwang besessen. Der erste Platz reicht nicht, man muss rein waschen und rein waschen! Ich könnte mir auch eine andere Erklärung für die große Zahl der „Aufnahme von Schutzsuchenden“ vorstellen, so etwa wie die Negation der Negation, die wir im politischen Unterricht gelernt haben: Viele Judenhasser ins Land lassen, um damit die Ermordung der Juden vergessen zu machen.

Dass Tuvia für sein Buch böse Verrisse bekommen wird, ist gewiss, es wird aber sicher auch von vielen Menschen, so auch von mir, mit Freude gelesen.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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