Gibt es einen postfaktischen Arbeitslltag?

Das Mädchen, mit dem ich mich vor kurzem unterhielt, war 11 Jahre – ich spürte etwas Wichtiges in ihrer Überlegung. Wir bastelten zusammen, die Situation war entspannt, und bei solchen Gelegenheiten fangen Kinder oft an zu erzählen, was ihnen durch den Kopf geht. Das Mädchen sagte zu mir: „Wissen sie, was meine Mutter mir erzählt hat?“. In ihrem Gesicht spiegelten sich das Entsetzen ihrer Mutter und auch das ihrige wieder. „Die Reinemachefrau, die unser Zimmer sauber macht, muss um 3 Uhr nachts aufstehen, damit sie hier sauber machen kann!“ Ich musste mir diese Tatsache erst einmal durch den Kopf gehen lassen: Ja, sie steht um 3 Uhr auf, fährt eine Stunde mit dem Auto und muss um 5 Uhr mit der Arbeit in dieser medizinischen Einrichtung beginnen, damit die öffentlichen Räume um 7 Uhr benutzt werden können. Ich sehe, dass die Reinigungskräfte sich immer gegen 14 Uhr auf den Weg nach Hause machen. Es wird wohl so sein.

Über die Reinemachefrau weiß ich nichts. Vielleicht ist sie froh, dass sie überhaupt Arbeit hat. Ihre familiäre Bindung wird so sein, dass sie in ihrer Gegend wohnen bleibt und nicht näher hierher zieht. Wahrscheinlich kann sie sich nicht einmal die Miete hier leisten. Vielleicht hat sie sich daran gewöhnt und findet ihren Arbeitsalltag normal. Garantieren kann ich dafür, dass ihr Verdienst so sein wird, dass sie später eine äußerst geringe Rente bekommen wird.

Was sagte diese kurze Aussage des Mädchens? Sie sagte, dass Kinder mitfühlend sein und einen Blick für Wesentliches haben können. Gefreut hat es mich, dass das Mädchen nicht „das Elend der Welt“, sondern das eines konkreten Menschen in ihrer Umgebung wahrgenommen hat. Weiter hatte ich das diffuse Gefühl, dass an der Gesellschaft etwas falsch ist, wenn Reinemachefrauen um 3 Uhr Nachts aufstehen müssen, um an der Ostsee für wenig Geld Häuser säubern zu dürfen. Es erinnert mich an Berichte über Kreuzfahrtschiffe, wo Menschen in mehr oder weniger Luxus von einer Art Sklavenvolk bedient werden, das vielleicht froh ist, dass es Arbeit hat und die Familie ernähren kann. Ich dachte daran, dass diejenigen, die hier die öffentliche Meinung tragen, steuern und beeinflussen oft und gern moralische und soziale Statements von sich geben. Weniger als Mitgefühl für Menschen, die es schwer haben, höre und lese ich von Verachtung für die AfD. (Vom Wahlverhalten der Reinemachefrauen habe ich selbstverständlich keine Ahnung). Ich stelle mir vor, dass so eine Frau, die um 4 Uhr bei jeder Wetterlage übers Land fährt um Zimmer zu reinigen, zu denen gehört, die „abgehängt“ ist und denen „wir“ versäumt haben, die Dinge nur richtig zu erklären. Postfaktisch kann man so einen Arbeitsalltag nicht bezeichnen, der ist harte Realität.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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