Buchrezension "Unser Kampf 1968" von Götz Aly

Ein kleiner roter Gegenstand, der in dem Buch von Götz Aly erwähnt wird ließ für mich die Zeit um 1968 wieder lebendig werden. Damals war ich Schülerin, lebte in der DDR, hatte aber oft Gelegenheit, mit westdeutschen Jugendlichen zusammen zu kommen, sei es mit meinen zahlreichen Verwandten oder auf Treffen kirchlicher Jugendgruppen. Wenn wir bei solchen Treffen zusammen kamen, wurde ausgiebig diskutiert. Die westdeutschen Jugendlichen, eingehüllt in Wolken von Zigarettenrauch, konnten eloquent und selbstbewusst reden und argumentieren. Darum bewunderte und beneidete ich sie. Im Gegensatz zu mir konnten sie sich alle Informationen beschaffen, sie konnten gebildet und fortschrittlich sein. Im Westen spielte sich in meinen Augen das wahre Leben ab, während wir unwissend waren und in der Schule nur mit ödem Marxismus-Quatsch gequält wurden.

Eines Tages, ich weiß gar nicht wie, gelangte besagter "kleiner roter Gegenstand" in meine Hand, nämlich die "Mao-Bibel", die bei den "Fortschrittlichen" und "Revolutionären" hoch im Kurs war. Das hielt ich für einen Witz, konnte es nicht glauben und bis jetzt habe ich es noch nicht verinnerlicht, dass die fortschrittlichen Jugendlichen diesen Müll - anders kann man es nicht nennen - ernst nahmen. Der Inhalt der "Mao-Bibel" bestand aus dümmsten Parolen, kommunistischen Floskeln, dagegen hatte jener "Quatsch", den wir im Marxismus Unterricht lernten, immerhin bestimmte Strukturen und einen logischen Aufbau.

Götz Aly hält ein Resümee auf die so genannte 68-er Zeit und versucht die Ursachen des Denkens dieser bewegten Jugend zu ergründen. Dazu untersucht er als Historiker die Quellen, derer sich die Jugendlichen bedienten und erwähnt mehrmals, dass er selbst zu den 68-ern gehörte und in einige ihrer Aktionen verwickelt war. Man wird den Verdacht nicht los, er möchte damit Kritikern vorbeugen, die ihn der Mitläuferschaft bezichtigen könnten. In Anbetracht der starken Nähe des Verfassers zu den Protagonisten hätten einige aussagekräftige Anekdoten diese Zeit besser illustrieren und das Buch lebendiger machen können. Es ist als wissenschaftliche Arbeit geschrieben mit vielen Fußnoten und kommt dem Leser etwas trocken vor.

Nichtsdestotrotz sind Alys Betrachtungen und Schlussfolgerungen und seine Umgehensweise mit den geschichtlichen Gegebenheiten außerordentlich interessant und gut nachvollziehbar. Sein Fazit ist, dass diejenigen, die als die 68-er in Erscheinung traten, ihr Denken direkt von ihren nationalsozialistischen Vätern, gegen die sie angeblich revoltierten, übernommen haben. Hass auf die USA - (Konkretisiert in der Formel USA-SS-SA) als den ehemaligen Kriegsgegner und Sieger, Hass auf Juden und den jüdischen Staat, der die vom deutschen Morden übrig gebliebenen Juden aufgenommen hat, waren stark ausgeprägt. Die Methoden und Vorgehensweisen der 68-er in ihrem so genannten Kampf waren diktatorisch, rücksichtslos und oft primitiv. So wie es einst die Nazis und so wie es die Autokraten in den kommunistischen Ländern zu tun pflegten. Das ist kein Widerspruch, denn in ihrem Wesen haben Kommunismus und Nationalsozialismus trotz und gerade wegen ihrer Gegnerschaft vieles an Gemeinsamkeiten.

Dass die Studentenrevolte ins Leere lief und nach ihrem Höhepunkt mit den Morden der RAF endete, ist der Widerstandsfähigkeit eines pluralistischen und demokratischen Staats zu verdanken, trotz aller Mängel, die er zu Tage trägt. Immerhin bewirkten die Revolten der 68-er zumindest in einem gewissen Maße (es hatte auch andere Ursachen) eine Lockerung und Liberalisierung der verkrusteten und in vieler Hinsicht erstarrten westdeutschen Gesellschaft. Die Protagonisten von 1968 spalteten sich. Einige wenige gerieten an den Rand der Gesellschaft, die meisten wurden zu Kultur- und Leistungsträgern, bauten diese Gesellschaft weiter auf und nannten ihr Tun „Marsch durch die Institutionen“.

Jedenfalls ist es lohnend, das Buch von Götz Aly ungeachtet seiner gewissen Trockenheit zu lesen, allein schon um die gesellschaftlichen Erscheinungen von heute besser zu verstehen

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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