Montag, 28. September 2020

Anschwellende und wieder abflauende Diskussionen (Teil 1)

Es mag etwa 15 Jahre her sein, als sich in einer Stadt ein Literaturkreis gründete. Eine neu hinzu gezogene Frau wollte das kulturelle Leben der Stadt etwas bereichern (fast immer sind es die neu Hinzugezogenen, die solcherart Initiativen ergreifen), und warb in der Lokalzeitung um Teilnehmer für so einen Kreis. Ich dachte, es könne nicht schaden, wenn ich erfahre, was die Leute lesen und was sie darüber denken, und so wurde ich zu einer der ersten von anfangs zahlreichen Teilnehmern. Der Kreis bestand über lange Zeit. Die Entwicklung von einem offenen Kreis mit ´gehobenem Anspruch´, bei dem sich die Zahl der Teilnehmer nach und nach sehr reduzierte zu einer gemütlichen, festen und geschlossenen Truppe, wo man sich nach einem ausgiebigen Kaffeetrinken erzählte, was jeder so in letzter Zeit gelesen hat, wäre einer Erzählung Wert. Ich habe es nicht bereut, in jeder Phase dabei gewesen zu sein. Der Kreis hat mir sehr viele Eindrücke beschert.

Ob sich die Diskussion, von der ich erzählen möchte, am ersten oder an einem der folgenden Literaturabenden zutrug, weiß ich nicht mehr. Konzipiert waren die Literaturgespräche so, dass alle Teilnehmer, jeder für sich, ein bestimmtes Buch liest, und man beim nächsten mal darüber gemeinsam diskutieren sollte. Für den ersten oder zweiten Abend war das Buch „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amoz Os vorgeschlagen. Ob es Zufall war, dass der Vorschlag von einer Frau kam, die sich im Verlauf der Jahre als eiserne Palästinenserfreundin, und – man kann schon sagen -, Israelfeindin herausstellte, weiß ich nicht, aber es gibt auch unbewusste Zufälle. Das Buch - es trägt autobiographische Züge -, handelt von der tragischen Kindheit des Protagonisten. Die stand neben dem Selbstmord der Mutter im Zeichen der Gründung des Staates Israel und des unmittelbar darauffolgenden Angriffs arabischer Staaten auf Israel. Etwa die Hälfte der Leser konnte mit dem Buch nicht viel anfangen, da sie zu wenig geschichtliches Wissen über jene Ereignisse hatte. Manche Leute fanden das Buch als Roman spannend und ergreifend. Es kam jedenfalls eine rege Diskussion zustande. Mit Tuvia Tenenbom würde ich sagen: „Ich kann es gar nicht begreifen, dass wir schon wieder bei den Juden sind!“

Es kam, wie es kommen musste: Kein Jude war anwesend, aber der Kreis von gut meinenden und selbstgerechten Deutschen redete sich in Rage. Hier gab es, im Gegensatz zu politisch korrekt organisierten Vorträgen keine haarscharfe Trennung zwischen `Juden` (über die man in getragenem Ton redet, etwas verlegen und: es war schlimm, damals!) und `Israeli´ (über die man sehr genau viel Nachteiliges und Böses weiß). Es geriet alles durcheinander. Ich glaube, die meisten waren sich nicht einmal bewusst, was sie sagten, denn ich hörte neben mir eine Frau sagen: „Ja, ich weiß auch nicht, warum die Juden für uns so ein rotes Tuch sind, wie sie da mit ihren Schiffen in´s Land eingefallen sind!“ Es gab kein gegenseitiges Antworten oder Argumentieren, es war mehr eine allgemeine Aufregung.
(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 20. September 2020

Eine interessante Episode

erlebte ich nach meiner Ukrainereise, die ich 2019 beschrieb. Auf solchen Studienreisen ist es üblich, dass man sich im Voraus für die Reise auf das „Du“ einigt, und dass man unverbindlich und kameradschaftlich miteinander umgeht. Die Kontakte halten nach der Reise in der Regel nicht lange, da neue Reisen und Reisebekanntschaften stattfinden. Doch oft tauscht man untereinander noch Fotos und Erinnerungen aus.

So bekam ich ein halbes Jahr nach meiner Reise von einem Mitreisenden ein paar Fotos, auf denen ich zu sehen war, zugeschickt. Als Dank schickte ich ihm meinen 18-seitigen Ukrainebericht, und etwas übermütig schrieb ich dazu: „In Gedanken habe ich dich damals ´den Landser` genannt. Du bist zwar zu jung, um als junger Mann in der Ukraine gewesen zu sein, aber ich hatte so das Gefühl, du könnest auf den Spuren Deines Vaters gewandelt sein“. Darauf bekam ich eine E-Mail mit nur einem einzigen Satz zurück:

In Deinem Reisebericht ist ein Foto zu sehen, wo ich in der Synagoge sitze ("Roman Trachtenherz erklärt das jüdische Gemeindeleben"). Wenn es geht, so schicke mir das Foto gelegentlich per Mail.



Das hat vielleicht nicht viel zu bedeuten, vielleicht aber doch, und interessant ist die Korrespondenz allemal. Bekommen hat er das Foto selbstverständlich und dazu auch alle anderen Fotos, auf denen er zu sehen war.

Montag, 14. September 2020

Was haben SS-Runen und der Leidensweg Christi gemeinsam? (Teil 2)

Die Auflösung der Frage in der Überschrift ist einfach: sowohl SS-Runen als auch eine eindrucksvolle Folge von Fresken, die Jesu Leidensweg darstellen, sind friedlich im Raum der Peterskirche Lindau unter einem Dach vereint. Je nach Betrachtung könnte man sie als Einheit oder als Verbindung von Gegensätzen empfinden. Worin die Tätigkeit von SS-Männern bestand, kann man in der Literatur über Judenvernichtung, über Mord und Barbarei in besetzten Ländern erfahren, sie muss also nicht näher beschrieben werden.

Ich gehe davon aus, dass diese Zusammenstellung von Bildern und Symbolen nicht vielen Menschen auffällt, meine Begleiterinnen waren davon jedenfalls nicht berührt (nur die Bilder Jesu leidvoller Passion berührten sie). Trotzdem denke ich, dass die Selbstverständlichkeit einer solchen Zusammenstellung unbewusst in den Geist der Menschen eingeht. Schon dass es „normal“ wäre, die älteste und wie man sagt, die schönste der Lindauer Kirchen als Kriegergedenkkirche herzurichten, und solch eine Gedenkstätte in engen Zusammenhang mit der Passionsgeschichte zu stellen, spricht für sich. Über den riesengroßen ruhenden Soldaten stolpert man ja beim Hineingehen fast, bevor man ins Halbdunkel zu Holbeins Fresken gelangt.

Da man in einer Kirche, laut dieser und jener medialen Aussage „zur Besinnung kommen“ oder „Spiritualität pflegen“ soll, machte ich den Versuch, mich diesem Thema spirituell zu nähern: Bedeutet Passion in Verbindung mit Kriegergedenken: Jesus ist auch für jene Soldaten und SS-Männer am Kreuz gestorben? Die Anmerkung der Stadt Lindau, dass wir nicht zu richten haben, bedeutet möglicherweise: Vielleicht haben die Genannten ihre Taten bereut – man kann ja nie wissen?

Selbst den getöteten Lindauer Juden wurde das Gedenken zugestanden (allerdings erst ab 1981), was ja auch seine gedanklichen Tücken hat. Denn wie die Kirche seit ca. 2000 Jahren verkündigte, waren es Juden, die Jesus gekreuzigt haben. Selbst wenn das nicht der Wahrheit entspricht, es wurde aber immer kolportiert, unzählige Juden sind im Lauf der Geschichte dafür verbrannt und anderswie getötet und vertrieben worden. (Ich selbst war dabei, als eine junge mecklenburgische Pastorin bei einer Tagung der Jüdin Ruth Lapide offen ins Gesicht sagte: Die Juden haben Jesus gekreuzigt!) Gedenktafeln für jüdische Lindauer (man bezeichnete sie als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft) neben dem Passionsweg, Heiligenscheine auf den prachtvollen Fresken und Gemälden noch und noch, dazu auf Kriegertafeln der Vermerk von Offiziersrängen, einschließlich SS-Runen, die älteste Kirche von Lindau birgt schon eine aussagekräftige Diversität.

Mir fielen die Märchen und Legenden ein, wo man einem wunderschönen Menschen begegnet und mit ihm eine Strecke gehen soll, und auf einmal entdeckt man, dass unter seinem Mantel ein Pferdefuß hervor zu sehen ist.

Montag, 7. September 2020

Was haben SS-Runen und der Leidensweg Christi gemeinsam? (Teil1)

„Du kuckst immer nur auf so was!“, sagte meine Pastorin-Freundin, als ich in einer Klosterkirche folgenden Spruch las: „1939 -1945 „Ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ und darüber mein Entsetzen ausdrückte. Dabei schaue ich gar nicht nach „so was“, es springt mich aber an, weil es in Kirchen allgegenwärtig ist. Und in diese soll man ja als Besucher immer mal hineingehen „zur Besinnung“, zur „Spiritualität“ und zum „zu sich Kommen“. Seine eigenen Gedanken soll man wahrscheinlich beim „Besinnen“ ausschalten.

So führte mich eine Reise in die malerische Inselstadt Lindau am Bodensee. Ein Kleinod, ein Schmuckstück! Ganz zum Schluss sagte unsere Stadtbegleiterin: „Kommt, ich zeige euch noch schnell die Peterskirche, die älteste Kirche der Stadt. In ihr sind berührende Fresken, Christi Kreuzweg, die dem älteren Holbein zugeschrieben werden“.

Als wir in die Kirche traten, die in schummeriges Halblicht getaucht war, fiel mein erster Blick auf eine überlebensgroße Soldatenfigur aus Marmor, liegend auf einer Art Bahre und mit einem ebenfalls marmornen Helm auf dem Kopf. Rund um die Figur hingen die Wände voll von hölzernen Tafeln auf denen alle im Krieg gefallenen Lindauer seit dem Krieg 1870/71, fein aus dem Holz herausgearbeitet, aufgelistet waren. Versehen mit ihrem Dienstrang. Nicht wenige SS-Angehörige waren dabei, deren Namen mit ehrwürdigen SS-Runen versehen waren.

Verschämt hatte die Stadt Lindau dazu angemerkt, dass SS-Runen ja eigentlich, ebenfalls wie Hakenkreuze, verboten wären, aber nun sind sie halt mal so von Anfang an angelegt worden, und überhaupt könne man sich als Stadt nicht anmaßen, über Menschen zu richten. Die Stadt Lindau hatte sich sogar 35 Jahre nach Kriegsende dazu durchgerungen, eine zusätzliche Tafel anzubringen, sie trägt die Namen von Einwohnern von Lindau, die „durch Naziherrschaft“ ums Leben kamen, hinter einigen Namen war der Ort ihres Todes, Auschwitz, vermerkt.

Das bemerkte ich schon oft: Vermengung und Vermischung von Opfern und Tätern: sie sind ja alle Menschen gewesen, und das Produkt ist das Gleiche: Erde, Asche. Was sie im Leben getan haben, ob der eine vielleicht den anderen erschlagen hat, spielt keine Rolle. Zwar hätten wir nicht über sie zu richten, wie die Stadt Lindau vermeint, trotzdem sind wir sehr bemüht darum, ihnen einen heiligen Nimbus zu verleihen, indem wir ein für allemal ihre Namen in Kirchen oder anderswo verewigen. Angeblich sollen diese Namen für ewig öffentlich vermerkt sein. Während Menschen, die nicht die Heiligkeit des Krieges erleben durften, nach 20 oder 25 Jahren im Normalfall -verständlicherweise – dem Vergessen überlassen werden.
(Fortsetzung folgt)

Montag, 31. August 2020

Sozialistische Provokationen

In einem tschechischen Buch, das unbekannte Schicksale zu Zeiten des Kommunismus schildert, las ich über einen jungen Mann, der 1978 - anlässlich des 10 Jahrestags der Besetzung der Tschechoslowakei durch die so genannten Bruderstaaten -, in einer mittelgroßen Stadt ein Gottwald Denkmal in die Luft sprengte. Er war Bergmann und hatte sich das Dynamit dazu von der Arbeit geschmuggelt. Der Täter wurde schnell ermittelt, und er kam 9 Jahre ins Gefängnis. (Nur etwa 2 Jahre nach seiner Entlassung wurde das wieder rekonstruierte Denkmal ein für allemal vom Sockel entfernt).

Das Besondere an der Tat dieses Mannes war, dass die Aktion nicht von langer Hand geplant war. Er war zu diesem Entschluss nicht durch Diskussionen mit anderen gelangt. Er war nicht mit Dissidenten bekannt und hatte sich für Politik nicht interessiert. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte bis dahin ein normales, angepasstes Leben geführt. Sein Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang und die Wut darüber, dass niemand sich für den 10. Jahrestag des Einmarsches zu interessieren schien, bewegte ihn zu dieser Tat.

Ich denke, es gab in den sozialistischen Staaten ähnliche Fälle. Junge Leute, die den permanenten Druck, unter dem besonders die Jugend stand, nicht aushielten und sich zu irgendeiner provokanten Geste hinreißen ließen. So erinnere ich mich an eine Begebenheit in unserer Schule. Drei junge Männer, bis dahin politisch nicht auffällig, hatten vorausschauend abgewartet, bis sie das Abiturzeugnis in der Hand hatten. Die Internatszeit wurde noch einige Wochen mit einem Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft fortgeführt. Ich sehe die Jungs noch vor mir: sehr gut gelaunt, mit einer Mistgabel über die Schulter zogen sie in frisch gebügelten FDJ-Hemden los, um den Schweinestall auszumisten. (Wie es weiter ging, weiß ich nicht mehr, ich glaube sie wurden aus dem Internat geworfen, konnten die restlichen zwei Wochen aber bei einem Freund unterkommen).

Samstag, 22. August 2020

Keine Begeisterung für die USA

Beim Aufräumen entdeckte ich uralte Briefwechsel, die hoch interessant sind. Spontan, nicht aufs Studium der Nachwelt spekulierend, mischt sich Familiäres mit dem Zeitgeschehen. Ich zitiere aus einem Brief von 1957, geschrieben von West nach Ost:

„Sputnik I und II beschäftigt die Leute sehr, jeder hofft, dass er das Hündchen, wenn es aus dem Weltraum hernieder schwebt, fangen kann. Jeder gönnt den Amis diesen Dämpfer, gerade auf technischem Gebiet, wo sie doch sonst das Land der unbegrenzten Möglichkeiten waren!“

Aha, hatte ich es mir doch immer gedacht. Nicht Nixon, nicht Reagan, ebenfalls nicht Trump sind die Auslöser von USA-Verachtung. Von dem Augenblick, wo sie Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatten und – wie oft so schön behauptet wird – Deutschland vom Nationalsozialismus befreit haben -, spukt Amerika (USA) in den Köpfen der deutschen Menschen. Es ist eigentlich psychologisch schwer zu begreifen (in Wirklichkeit doch), dass zumindest die Westdeutschen den Russen, die ebenfalls Deutschland vom Nationalsozialismus befreit hatten - aber unter ungleich schlimmeren Umständen für diejenigen, die es erlebten -, den Triumph über die Amerikaner, zumindest in der Raumfahrt, gönnten. Ich denke an die Begebenheit, 30 Jahre später, als ein Enkel jenes Briefschreibers, ebenfalls im Westen mir erzählte, dass sie immer noch „unter Besatzung“ leben.

Vorstellen kann ich mir einige Versionen für die USA-Antipathie. Es kann blanker Neid sein auf die, die mächtiger sind. Mich wundert auch, warum gerade die Dinge, die vielleicht nicht die qualitätvollsten sind, wie Coca Cola, Mc Donald, Filme, die jährliche Verfolgung der Oscarverleihung, die Liebe zu Kreuzfahrten, ja sogar ausgeleierte Redewendungen wie die Benutzung eines sinnfreien „okay“ zu jeder Gelegenheit mit Begeisterung übernommen werden bei all der Amerikaverachtung. Es wird so etwas wie Hassliebe sein.

Eine andere Version ist mir eingefallen: Vielleicht sind die Deutschen doch nicht so begeistert davon, dass ihnen die Demokratie gebracht wurde. Vielleicht sehnen sie sich nach einer Führergestalt, die sie verehren und der sie vertrauen wollen. Da fallen mir einige selbst angehörte Aussprüche ein, die besagten, dass man „jetzt bei Corona Angela Merkels naturwissenschaftlichem Verstand vertrauen kann“. Dass trotz des "naturwissenschaftlichen Verstandes" in jedem Bundesland ein anderer Verstand, d.h. andere Regeln walten, tut nichts zur Sache, aber man wünscht sich eine Lichtgestalt, die über allem schwebt, die alles weiß und kann, auch wenn es das Gegenteil von vorher Gesagtem ist.

Dienstag, 11. August 2020

„Die Antwort weiß nicht allein der Wind“

Wenig kenne ich mich in der Welt des Fernsehens und anderer Medien aus, aber über die Internetberichterstattung erfahre ich immer einmal über Personen, die etwas „Falsches“ öffentlich gesagt haben oder sogar nur etwas „Falsch geliked“ haben, und dann auf Grund von Internet- oder anderen Protesten einen Auftritt abgesagt bekommen oder sogar ihre Stelle verlieren. Manchmal gibt es ein Hin und Her, es gibt Entschuldigungen, entweder vom „Delinquenten“ oder vom Veranstalter, manchmal wird eine Ausladung wieder rückgängig gemacht. Manchmal weigert sich ein Verlag, ein bestelltes Buch zu drucken, manchmal springt dann ein anderer Verlag ein (bei Tuvia Tenenboms ersten Buch war das der Fall). Es gibt immer Spannendes zu verfolgen.

`Wie können die Leute so verrückt sein?`, denke ich. `Vor ein paar Internetbemerkungen einknicken oder auch in vorbeugendem Gehorsam?` Plötzlich kam mir eine Begebenheit aus der Jugend in´s Gedächtnis. Immerhin war da DDR, und die Menschen hatten den Druck, der auf sie eingeübt wurde, verinnerlicht. Ich besuchte die Oberschule, wollte auch ein wenig gesellschaftlich aktiv sein, und so trat ich in die schulische Singegruppe ein. Das war damals die Zeit: im Westen der Liedermacher und Folkgruppen, und im Gefolge dessen wurde in der DDR der legendäre Oktoberclub installiert und entsprechend auch kleinere Gruppen über das Land verstreut. Unsere Singegruppe trat in Kulturhäusern, zu Festen oder Parteiveranstaltungen auf. Da sangen wir Lieder wie: „Hey, hey, hey, der CIA ist da. Kämpft für die ´Freiheit` in Fern und Nah, mit Kanonen und Spionen, mit Geldern und Lügen. Wer wird wohl als nächstes `Entwicklungshilfe` kriegen?“ (Ich vermute, so mancher würde heute dieses Lied auch gern singen).

Einmal traten wir in Leipzig anlässlich der Landwirtschaftsausstellung auf. Da sollten wir das Lied: „Die Antwort weiß ganz allein der Wind“ singen. Auf einmal schoss es dem Singegruppenleiter ein: Das könnte Ärger geben, wir im Sozialismus wissen doch die Antwort. Das könnte so aussehen, als wüssten wir keine Antwort, und – wer weiß -, es könnte beruflichen Ärger geben. Wir bekamen die Anweisung zu singen: „Die Antwort weiß nicht allein der Wind!“ Das verunsicherte weiter: das könnte jemand missverstehen: nicht mal der Wind weiß es und sonst auch niemand! Sollten wir uns nicht lieber absichern? Vielleicht sollte von irgendwo eine Erlaubnis zur Textänderung eingeholt werden. Ich weiß nicht, wie es ausging und welche Version wir sangen, nur dass es sich eine ganze Weile hinzog, daran kann ich mich gut erinnern. Es wird kaum jemand zugehört haben und weder diesen noch jenen Text weiter bemerkt haben. Mir erschien das damals lächerlich, aber: der Druck und die Angst hatten sich in Jahren aufgebaut. Heute gibt es so viel vorbeugenden Gehorsam, so viel Klammern an vermeintliche Sprachregelungen, und das unter viel geringerem Druck. Die Unterwerfung unter medialen und auch schon unter politischen Druck vollzieht sich langsam. Inzwischen habe ich viel mehr Verständnis für unseren Singegruppenleiter: Angst ist ein starker Lebensfaktor. Die Corona unterstreicht das nur.

Donnerstag, 6. August 2020

Neues von Tuvia Tenenbom: „Allein unter Briten“ (Teil 5, Ende)

Außer über Antisemitismus erfährt man einiges über die Art des Parlamentarismus in Großbritannien, wie das ´house of common´ und das ´house of lords´ funktionieren, man lernt John Bercrow kennen, der als Parlamentspräsident mit seiner unnachahmlichen Art auch auf deutsche Fernsehzuschauer Eindruck gemacht hat.

Interessant ist das Zusammentreffen mit Nigel Farage, dem Mann, der dem Brexit dem Anstoß gab. Als Europaabgeordneter war er anfänglich Europa wohlgesinnt. Er erlebte in Brüssel, wie über die Meinungen der einzelnen Länder hinweggegangen wurde. Z.B. sollte 2005 eine Europäische Verfassung beschlossen werden. Da wichtige Länder dagegen stimmten, wurde die Verfassung – die einstimmig hätte beschlossen werden müssen -, einfach ohne Abstimmung in „Vertrag von Lissabon“ umbenannt. (Das erinnert daran, wie die deutsche Vereinigung eigentlich mit einem Friedensvertag hätte abgeschlossen werden sollen. Da ein Friedensvertrag aber zur Gefahr von Reparationsforderungen der im Osten einst zerstörten Länder hätte führen können, kam man auf die List, den „Friedensvertrag“ als „2+4-Vertrag“ zu bezeichnen).

Kurzum, Nigel Farage war der Meinung, dass Europa, so wie es in der Praxis gehandhabt wird, zur Kollektivierung der menschlichen Seele und damit in eine Katastrophe führen wird. Er erinnerte daran, wie Angela Merkel, die er als „gewählte Diktatorin“ bezeichnete, 2015 ohne Absprache mit ihren europäischen Nachbarn (selbst ohne Absprache mit dem eigenen Parlament) gut 2 Millionen Ausländer nach Deutschland, also eigentlich nach Europa geholt hatte, was für die Briten ein Schock gewesen wäre. „Wir wollen Kontrolle über unser Land haben und nicht von Europa kontrolliert werden“, sagt Farage.

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Theater, Tuvias große Leidenschaft, spielt auch eine große Rolle. Es ist Mode geworden, „gendergerecht“ und „rassengerecht“ im Theater zu fungieren, was die Qualität des Theaters bedeutend sinken lässt. So lässt man in einem Musical über Michael Jackson ausschließlich farbige Schauspieler auftreten, die Eintrittspreise sind aber so hoch, dass Schwarze sie sich sowieso nicht leisten können. Das empfindet Tuvia als große Heuchelei und als echten Rassismus. Einen Abstecher macht Tuvia. Er fährt mit der Fähre nach Calais zu dem berüchtigten Flüchtlingslager, dem „Dschungel von Calais“. Was sieht er da? Riesige Sperranlagen, die der „Sperrmauer“ in Jerusalem durchaus Konkurrenz machen können – mitten in Europa!

Wales ist die letzte Station, bevor er noch einmal kurz in London hält. Die Waliser sind misstrauisch den Engländern gegenüber. Ansonsten herrscht auch hier der seltsame westliche Geist: Angst vor der Sprache! Das heißt, der Angst, „falsche“, nicht rassen- oder gendergerechte Ausdrücke zu benutzen und dafür gebrandmarkt zu werden. Ein Seemann gesteht Tuvia, dass er sich kaum noch zu sprechen wage. Eine Journalistin wird gerade wegen „misgendern“ verklagt, weil sie einen Transmenschen mit dem falschen Geschlecht bezeichnet hat. In Wales hat es Tuvia gefallen, und Palästinafahnen hat er dort am wenigsten von allen Landesteilen entdeckt.

Das Buch endet mit einer wehmütigen Rückschau auf die skurrilen und eindrucksvollen Monate in Großbritannien mit Dank an seinen Adler, der ihn so treu begleitet hat und mit einer (rückwirkenden) Schilderung, wie es später dort weiter gegangen ist.

Meiner Meinung nach ist es wieder ein echtes Tuvia-Tenenbom-Buch. Die fünf Bücher von ihm, die bis jetzt hier erschienen sind, haben alle zum Thema: den Antisemitismus, Antijudaismus, Antizionismus – wie immer man es nennen will – in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Spielarten. Daneben schildert er die Lebensweise im jeweiligen Land authentisch, und viele Erlebnisse, auf die er sich bezieht, kann man im Internet nach recherchieren. Was mir an Tuvia besonders gefällt: er sagt und schildert das, was er sieht und erlebt. Seine Ansichten treten hinter dem Erlebten zurück, sind aber gut zu erkennen, und er nimmt keine Rücksichten auf etwaige Empfindlichkeiten der Leser. Dem Leser wird es schwer fallen, Tuvias Erlebnisse in einem anderen Licht darzustellen, es sei denn, er begibt sich auf ähnliche Gedankenkonstruktionen wie mancher seiner Gesprächspartner.

Rezensionen und Veranstaltungen Tuvia Tenenbom

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