Dienstag, 1. Januar 2013

Buchrezension - Tuvia Tenenbom , "Allein unter Deutschen"

Der jüdisch-amerikanische Journalist und Theatermacher Tuvia Tenenbom war mir durch seine Kolumne und einige Artikel in der "Zeit" aufgefallen. Es gefällt mir an ihm, wie er seine Beobachtungen in einer scheinbar naiven Weise schildert und mit seinen Schlussfolgerungen genau ins Schwarze trifft. Nun ist im Dezember ein erstes Buch von ihm erschienen. Die kontroversen Rezensionen, die ich schon im Voraus darüber las, versprachen ein unterhaltsames und lesenswertes Werk und ich bestellte ich es sofort. Es traf ein und es war mit seinen 426 Seiten ein Lesevergnügen, wenn auch manchmal ein bitteres, für viele Stunden.

Vor dem Erscheinen hatte das Buch schon für Aufregung gesorgt. Der Rowohlt-Verlag hatte mit Tuvia Tenenbom vertraglich vereinbart, er werde nach eigenem Ermessen ein Buch über die Deutschen schreiben. T. T. reiste im Sommer 2010 durchs Land, beschrieb eigene Erlebnisse und siehe da - der Rowohlt-Verlag war not amused, denn s o hatten sie sich das Ganze nun wohl nicht vorgestellt! Und das machte wiederum den Konkurrenten Suhrkamp neugierig, so dass das Buch schließlich dort verlegt wurde.

Das Buch erzählt, wie sein Autor, dieser beleibte, freundliche, arglose, neugierige und sich unbedarft gebende Amerikaner durch die deutschen Lande zieht und mit Menschen ins Gespräch kommt. Die Interviewten unterschiedlichsten Typus haben immer wieder eins gemeinsam: Egal, was der Anlass des Gesprächs ist, egal wie harmlos die Unterhaltung beginnt, fast wie Marionetten gelenkt kommen die Gesprächspartner bald auf ein Thema, nämlich Juden, Holocaust und Israel zu sprechen. Dabei verheddern sie sich in ihren jeweils eigenen Logiken und beim Versuch, diese zu entwirren werden ihre Statements meist immer absurder. Das Buch schildert fast ausschließlich Szenen solcher Art, so dass man sich fragt: Hat Tenenbom das wirklich alles so erlebt? Ist doch nicht manches konstruiert? Das fragte ich mich also, und dann fielen mir, je länger ich nachdachte, desto mehr ähnliche Szenen ein, die ich in verschiedenen Varianten und in verschieden Milieus selbst erlebt habe. Schließlich fragte ich mich: Woher weiß Tuvia Tenenbom das alles, ich habe ihm doch gar nichts erzählt? Woher weiß er, dass auf meine harmlose Frage nach einem Erlebnis in Israel, sofort als Antwort kommt, wer alles aus der eigenen Familie im Widerstand war? Oder dass jemand aus heiterem Himmel erzählt: Am 11.9.2001 mussten die Terror-Flugzeuge zwangsläufig ihr Unternehmen vormittags durchführen, denn ab 12 Uhr kamen ja "die ganzen Juden" in die Büros im World Trade Center.

Tuvia Tenenbom musste nur aufschreiben, was er erlebt hat. Etliche der Rezensenten fanden seine Erlebnisse "erschreckend". Es ist erschreckend, dass das was TT beschreibt, so verbreitet ist und so wenig wahrgenommen wird. Vielleicht soll es nicht erkannt werden, hat vielleicht das den Rowohlt Verlag zu der Absage bewogen? Wer meint, es wäre nicht verbreitet, dass die Leute unterschwellig an Juden, Holocaust, Israel denken, der sollte sich regelmäßig die Nachrichtensendungen anhören bzw. anschauen. Dort kann man beobachten, in welchem Maße z. B. Israel in Frage gestellt wird. Nie habe ich über ein anderes Land, das auf einen Angriff reagierte, gehört, dass ihm dann in diesem Zusammenhang "Rache" oder "Vergeltung" unterstellt wurde, wie es chronisch krankhaft geschieht, wenn Israel auf palästinensischen Beschuss antwortet. Man kann auch in jedem beliebigen Leserforum beobachten, was für mehr oder weniger antisemitische Zuschriften zu einem Thema mit jüdischem oder israelischem Bezug erbracht werden und mit welchem Eifer sie geschrieben sind. Das ist ein Geist, der ständig unter die Oberfläche gedrückt werden muss, damit er nicht gar so zum Vorschein kommt. Oft können diejenigen, die den Geist "unter die Oberfläche drücken", sich doch nicht zurückhalten, um ihn selbst weiter zu verbreiten. Tuvia Tenenbom hat das beschrieben, so wie er es erlebt hat.

Manche Rezensenten meinten, dass Tenenbom den Auftrag hatte, ein Buch über Antisemitismus in Deutschland zu schreiben. Das stimmt nicht, denn Tenenbom sollte ein Buch über die Deutschen und ihre Befindlichkeiten schreiben, und heraus gekommen ist dabei eine Schilderung, wie der Autor immer wieder auf mehr oder weniger unterschwelligen Antisemitismus stieß. Darum war der Rowohlt Verlag wahrscheinlich entsetzt.

Die Lektüre dieses Buches kann ich jedem empfehlen. Es ist locker und lustig geschrieben, und jeder kann sich Gedanken darüber machen, ober er irgendetwas in den beschriebenen Szenen aus seinem eigenen Erleben wieder erkennt.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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