(Ein Bericht in 6 Teilen 6/3)
Donnerstag, der 6.4.2017, den ich zusammen mit meinem Mann in Berlin verbrachte, war ein erlebnisreicher Tag. Weil er viele gesellschaftliche Bezüge hatte, möchte ich einige Eindrücke dieses Tages schildern.
Der Vormittag: Stadtspaziergang
4. Ein Déjà-vu
Schon zu Ost-Zeiten schien mir die Lage der Innenstadt von Berlin verwirrend. Im Gegensatz zu anderen Städten hatte ich nie ein inneres Bild der Kartografie von Berlin vor Augen. Nach Wegfall der Mauer verstärkte sich dieser Zustand verständlicherweise, und so bin ich mir nie sicher, welcher Anblick demnächst vor meinen Augen auftauchen wird. Wir gingen um die Ecke, und ich dachte: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Vor gut 40 Jahren als junges Mädchen war ich genau so um die Ecke gekommen und hatte ein gewaltiges kastenartiges, im Bau befindliches Gebäude am Ufer der Spree erblickt. Jetzt erinnerte ich mich sofort, wie ich damals dachte: „Was ist denn das für ein hässlicher Kasten?“ Dass ein Palast der Republik im Bau war, war mir bis zu diesem Zeitpunkt entgangen. Nun lag vor unseren Augen der gleiche Anblick: kastenförmig, im Baustadium. Baukräne waren bei der Arbeit. Lediglich noch eine Kuppel zierte die Dachkonstruktion, das war neu. Demnächst wird dieser Palast der Republik ähnliche Kasten also von einer imitierten Barockfassade umgeben sein und das alt-neue Stadtschloss darstellen. Allerhand Symbolisches könnte man auch in diesem Vorgang finden oder hinein konstruieren.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 14. Apr, 14:45
(Ein Bericht in 6 Teilen - 6/2)
Am Donnerstag, dem 6. April 2017, war ich zusammen mit meinem Mann in Berlin und es war ein erlebnisreicher Tag. Weil er viele gesellschaftliche Bezüge hatte, möchte ich einige Eindrücke davon schildern.
Der Vormittag: Stadtspaziergang
2. Goethe betrachtet das Holocaustdenkmal
Auf dem Weg zum Brandenburger Tor passierten wir das Holocaustmahnmal und überlegten, ob man es als Mahnmal wirklich betrachten sollte, oder ob es Menschen geben mag, die es als ein Monument der Taten aus der Vergangenheit ansehen und es in ihrem jeweiligen Geiste interpretieren. Und dass der Verlust an höchst lukrativem Bauplatz mit dem touristischen Gewinn ganz sicher aufgewogen wird usw.
Dabei fiel mein Blick auf eine Gestalt, die ich bis jetzt noch nie wahrgenommen hatte. Im kleinen Park direkt gegenüber stand alabasterfarben: Goethe. Er schaute milde, aber mit leerem Blick direkt auf das Mahnmal, genauer gesagt, er blickte haarscharf an ihm vorbei. Die Assoziationen die einem dazu einfallen könnten, würden den Rahmen dieses kleinen Berichts sprengen. Ein Resümee meiner Überlegungen war: In Deutschland ist es außerordentlich beliebt, geistige Führer welcher Art auch immer grenzenlos zu bewundern und ihnen bedingungslos zu folgen.
3. USA auf Halbmast
Auf dem Dach der US-Botschaft entdeckten wir, dass die amerikanische Flagge auf Halbmast weht. Was ist geschehen, was haben wir verpasst? Ich eilte zu den gelassen dort stehenden schwer bewaffneten Polizisten und fragte, was diese Beflaggung bedeutete. Sie amüsierten sich und gaben mir die Auskunft, dass diese Beflaggung „dem Jahrestag des Todes des letzten Astronauten, der den Mond betreten hat“ gälte. Ganz präzise kann die Auskunft nicht gewesen sein, denn der letzte Mond-Astronaut Eugene Cernan war nach späterer Recherche am 17. 1. 2017 gestorben. Vielleicht ist die Beflaggung schon seitdem vorhanden, oder es mag mit einem speziellen Gedenktag, den wir nicht ergründen können, zusammenhängen. Dieses Erlebnis gab uns Einblick in eine fremde Mentalität, die einer näheren Betrachtung Wert wäre.

US-Botschaft am 6.4.2017
anne.c - 13. Apr, 14:01
(Ein Bericht in 6 Teilen - 6/1)
Am Donnerstag, dem 6. April 2017, war ich zusammen mit meinem Mann in Berlin und es war ein erlebnisreicher Tag. Weil er viele gesellschaftliche Bezüge hatte, möchte ich einige Eindrücke davon schildern.
Der Vormittag: Stadtspaziergang
1. Eine Demonstration
Sehr lange schon hatten wir die Innenstadt Berlins nicht mehr besucht, und so wollten wir in Augenschein nehmen, was es da Neues gäbe. Unser Spaziergang begann am Potsdamer Platz. Prompt gerieten wir in eine Demo, in eine nicht allzu spektakuläre. Eine Gruppe Angolaner machte auf unhaltbare Zustände in ihrem Land aufmerksam. Die Teilnehmer waren beispielsweise mit T-Shirts bekleidet, die auf Ausbeutung und auf Armut trotz reicher Bodenschätze in ihrem Heimatland hinwiesen. Es war interessant: Meine Vorstellungen aus dem vorigen Jahrhundert von einer Demonstration sind verbunden mit Menschengruppen oder -massen, die Fahnen schwenkend durch Straßen ziehen, Umstehende durch Enthusiasmus mitreißen und sie zum Mitmachen auffordern. Diese altertümlichen Vorstellungen sind längst überholt. Heute scheint es so zu sein, dass eine Demonstration ein kompakt vor einem ausgewählten Hintergrund zusammen gerücktes Grüppchen ist, das gut von den begleitenden Kameras erfasst werden muss, wahrscheinlich möglichst mit perspektiv-verzerrenden Objektiven. Von den rundherum passierenden Fußgängern wurden die Protestierenden nicht beachtet, und das wurde von diesen anscheinend auch nicht erwartet. Mein Lächeln an die Teilnehmer wurde freundlich erwidert, aber ein erweitertes Interesse der Demonstranten an ihrem Umfeld war nicht zu bemerken.
(Fortsetzung folgt)

Demonstration auf dem Potsdamer Platz am 6.4.2017 (Zwischen Polizeiauto und Lieferwagen)
anne.c - 12. Apr, 12:24
Ein Wahlergebnis von 100 % der abgegebenen Stimmen erzielten Kim Jong-un bei der letzten Parlamentswahl 2014 in Nordkorea und Martin Schulz bei der Wahl zum Parteivorsitzenden beim letzten SPD Parteitag am 19.03.2017. Ebenso frenetisch und lang anhaltend, wie man es manchmal in nordkoreanischen Parteitagsfilmen sehen kann, war auch der Applaus seiner Genossen für Martin Schulz nach seiner Wahl.
Aus Erfahrung weiß man, dass ein Wahlergebnis von 100 % Fragen aufkommen lässt. Theoretisch kann es bedeuten, dass nur ein Wähler vorhanden war, doch das wird eine große Ausnahme sein. In der Regel deutet so ein Ergebnis auf Totalitarismus hin oder aber darauf, dass einer der zur Wahl Stehenden über so ein übermäßiges Charisma verfügt, dass alle anderen eindeutig gegen ihn abfallen. Steht nur ein Mensch zur Wahl, so kann die Wahl nur dann als Wahl gelten, wenn die Wähler die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Ja und Nein haben. Letzteres trifft auf Martin Schulz zu, und Charisma würden ihm sicher alle seine 605 Wähler bestätigen, wenn man sie befragte. Es kann auch sein, dass sie einer Massenhypnose erlegen waren, denn der eine oder andere hätte sich fragen können, ob es nicht doch dieses oder jenes bei ihm anzweifeln gäbe.
So hat Martin Schulz, ohne später die geringsten Zweifel daran zu äußern, mehrmals antisemitische Klischees in seinem politischen Wirken verbreitet. In der israelischen Knesset ermahnte er seine Gastgeber mit einer Falschangabe von einem Minimalbetrag von 17 l Wasser, die Israeli Palästinensern täglich zur Verfügung stellten, gleichzeitig einräumend, dass er die Zahl in Wirklichkeit nicht kenne. Das ist die typische Legende von den Juden, die anderen die Lebensgrundlagen vorenthalten. Ein Jahr später bestätigte er diese Haltung, nachdem Mahmoud Abbas vor dem Europäischen Parlament gesprochen hatte. Diese Rede enthielt die Originallegende vom Juden als Brunnenvergifter. Abbas behauptete nämlich, dass Rabbiner vom israelischen Premierminister forderten, palästinensische Brunnen zu vergiften. Das Europaparlament samt seinem Vorsteher Martin Schulz war von der Rede so hingerissen, dass Ovationen kein Ende nahmen und Martin Schulz sich laute eigener Bekundung „inspiriert“ fühlte.
Ob man die Haltung von Martin Schulz als antisemitisch bezeichnen könnte, ist hier ohne Belang. Ausschlaggebend bleibt, dass er antisemitische Klischees transferiert, zugegebenermaßen nicht im Verborgenen. Den Genossen des SPD-Parteitags möchte ich keinesfalls unterstellen, dass sie in größerer Zahl als die durchschnittlichen 20 % (je nach Interpretationsweise) der Bevölkerung antisemitisch sind. Von den 605 Wählern war aber nicht ein einziger dabei, der diese öffentlichen Äußerungen von Martin Schulz hinsichtlich seines Wahlverhaltens kritisch abgewertet hätte. Und das verwundert im hohen Maße!
anne.c - 8. Apr, 15:10
Diese persönliche Anekdote, die Wahlen in der DDR betrifft, ist so schön, dass ich sie festhalten möchte: Die vorletzte Wahl zur Volkskammer der DDR fand am 8. Juni 1986 statt. Das Wahlergebnis betrug übrigens 99,94 Ja-Stimmen. Dieses Mal hatten sich kreative Köpfe ein Plakat ausgedacht, das als Logo der Wahl ein Kalenderblatt mit dem betreffenden Wahldatum trug, und das wie immer allgegenwärtig war, so auch im Bäckerladen, in dem mein hyperaktiver und Zahlen besessener Sohn herum sprang, während die Oma geduldig in der Schlange wartete. Plötzlich erstarrte er: „Oma, warum hängt hier ein Plakat mit dem Geburtstag von A. (seiner Schwester)?“ „ Das hängt da, weil an dem Tag Wahl ist“. „Was ist Wahl?“, fragte der Junge. Die Großmutter überlegte kurz und antwortete: „Na, dann wählen wir, ob Erich Honecker weiter regieren soll“. „Oma, dann wählen wir aber, dass Erich Honecker nicht weiter regieren soll!“
Damit ist die Anekdote zu Ende. Nichts weiter… Kein Lächeln, kein Zwinkern, kein erboster Tadel, keine Denunziation. Die etwa 15 Leute im Laden standen stumm und regungslos weiter in der Schlange als hätten sie nichts wahrgenommen. Darum möchte ich mit gut 30 Jahren Verspätung diese Aufforderung des 6-Jährigen noch einmal würdigen.
anne.c - 4. Apr, 09:31
Circa 99,85 % Zustimmung zu den „Kandidaten der Nationalen“ Front“ war das durchschnittliche Wahlergebnis zu Zeiten der DDR. Wenn man von der letzten Volkskammerwahl absieht, bei der es keine Sammelliste der Kandidaten der Nationalen Front mehr gab. 100 % wäre besser gewesen, aber so dumm, wenn auch dumm, waren die Genossen nicht. Sie wussten, dass es immer und überall einige Renitente oder Asoziale gab, die irgendwie ihre Ablehnung bekundeten, also in die stets vorhandene Wahlkabine gingen und mit Nein stimmten, bzw. den Wahlzettel ungültig machten. Davon waren einige unverbesserlich und hätten bei ausgewiesenen 100% mit denkbaren Krawallaktionen die Lüge angeprangert.
Außerdem war das Wahlergebnis vollkommen unerheblich. Auf die Prozentzahl der Wahlbeteiligung wurde viel größerer Wert gelegt. Selbstverständlich wurde auch hierbei von den örtlichen Wahlkommissionen geschummelt. Aber es wurden selten 100 % angegeben, damit man jedem, der sich beschwerte sagen konnte, er wäre das eine fehlende Prozent.
Allerdings gab es unzählige Feinheiten, die von der Bevölkerung viel eifriger diskutiert wurden, als das Wahlergebnis selbst: Wer geht wann, d. h. zu welcher Tageszeit zur Wahl, wer geht ganz besonders früh oder ärgert die Wahlkommission damit, dass er kurz vor 18 Uhr ins Wahllokal kommt. Viele Geistliche und Kirchgänger betonten ihre Opposition damit, dass sie erst nach dem Kirchgang zum Wahllokal eilten.
Die letzte Kommunalwahl fand im Sommer 1989 statt. Das Volk der DDR, das kurze Zeit später allen Mut zusammen nahm und eine friedliche Revolution vollbrachte, war im Mai noch nicht so weit und wählte brav, wenn auch die Zahlen offensichtlich geschönt waren. Mein rosa Wahlkärtchen besitze ich noch und es besagt, dass ich nicht an der Wahl teilgenommen habe, denn die Karte musste man bei der Wahl abgeben. Vielleicht hat die Kommission sich auch verzählt, denn auf den öffentlichen Aushängen war unser Wahlbezirk mit 100 % Wahlbeteiligung ausgewiesen. Bei der darauf folgenden Wahl, der legendären letzten Volkskammerwahl der DDR, war - oh Wunder -, derselbe Mensch wie zuvor Wahlleiter. Man hatte es so schnell in diesen wirren und wendigen Zeiten nicht geschafft, andere Leute zu schulen und aufzustellen. Damals nutzte ich doch die Gelegenheit und erzählte ihm, dass ich trotz der 100 % Wahlbeteiligung beim letzten Mal mein rosa Wahlkärtchen noch habe. Es war ihm peinlich und er entschuldigte sich - so weit waren wir schon!
anne.c - 31. Mär, 11:51
Das Ergebnis von 96,34 Ja-Stimmern in DDR-Wahlen war außergewöhnlich niedrig. 1968 durfte das DDR-Wahlvolk darüber abstimmen, ob die Volkskammer eine neue Verfassung beschließen soll, die die Rechte der Bürger noch weiter beschneiden wird. Es herrschte Unmut in der Bevölkerung. Menschen sprachen sich öffentlich ablehnend aus. Angeblich fanden sogar konspirative Aktionen dagegen statt. Diesem und jenem war klar, dass für ihn der Schaden einer Zustimmung größer ist als der Schaden, den er sich mit einer Nichtteilnahme zufügt oder vielleicht mit dem Durchstreichen des Wahlzettels in der Wahlkabine (die es tatsächlich gab, aber deren Gebrauch registriert wurde, was entsprechende Auswertungen und Verdächtigungen nach sich zog). So kam es zu der ungewöhnlich niedrigen Zustimmung zur Verfassungsänderung von nur 96,34 %.
Wegen des spürbaren Unmuts der Bevölkerung vor dieser „Wahl“ wurde ein ungeheurer Propagandaaufwand betrieben, der den Menschen die Vorzüge der neuen Verfassung schmackhaft machen und sie vom Nein-Wählen abhalten sollte. (in welcher Form das „Nein“ formell vollzogen werden konnte, das weiß ich nicht, denn ich war noch nicht im Wahlalter). Die Lehrer in den Schulen, und zwar alle Lehrer, nicht nur die Staatsbürgerkundler, waren instruiert, ihre Schüler, die wiederum auf ihre Eltern einwirken sollten, von den Vorzügen der neuen Verfassung zu überzeugen. Das überall verbreitete Logo, ein Kreis mit gekreuzten Strichen, als ein Ja, war auf Plakaten allgegenwärtig.
Damals war ich Schülerin. So trat eines Tages unser Mathelehrer in die Klasse, malte einen Kreis mit gekreuzten Strichen darin auf die Tafel und fragte: „Was ist das“? Spontan rief ich in die Klasse: „Eine Glühlampe“. Denn es ist tatsächlich das allgemeine Symbol für die Glühlampe. Und ich schwöre, dass ich an nichts anderes gedacht hatte, weil ich mir nicht hatte vorstellen können, dass in der Mathematikstunde Propaganda stattfinden könnte, was zwar in vielen Fächern üblich war, aber nicht in den naturwissenschaftlichen. Da ich in der Schule als „renitent“ eingestuft war, konnte sich der Lehrer wieder nichts anderes vorstellen, als dass ich provozieren wollte. Ein typisches Beispiel von Konfusion. Es gab ein ungeheures Donnerwetter von dem sonst eigentlich netten Mathelehrer, auch er wurde wohl innerlich konfus über die renitente Schülerin, der er aber zumindest unbewusst Recht geben musste.
(eine Betrachtung in drei Teilen)
anne.c - 26. Mär, 21:25
Das neue „Tuvia“-Buch erhielt ich schon am Tag des Erscheinens. Diesmal war ich aufgrund meiner früheren Leseerfahrungen mit diesem Autor nicht skeptisch, dass ein neues „Allein“-Buch eine Wiederholung von Altem sein könnte. Im Gegenteil, denn es spielt in einem Milieu, in dem ich mich auskenne. Der erste Blick war trotzdem eine Enttäuschung: Es ist zu dünn. Allerdings war es auch die einzige Enttäuschung.
Tuvia bereist den Osten und den Westen Deutschlands und er nutzt seine altbewährte Art, direkt auf die Menschen zuzugehen, sich auf sie einzulassen, sie zu beobachten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, und auf eine geniale Weise die „richtigen“ Fragen zu stellen, auf die er dann auch prompt die „richtigen“ Antworten erhält. Da er Deutschland erst spät in seinem Leben kennengelernt hat und über die deutsche Sprache (wohl) nur vermittels seiner (ihn unsichtbar begleitenden) Frau verfügt, ist der Leser immer wieder verblüfft, wie er mit seinen Beobachtungen ins Schwarze trifft. Diesmal hat Tuvia einen unschätzbaren Vorteil, denn er beherrscht Arabisch und kommt dadurch schnell mit Flüchtlingen (die damals noch nicht Geflüchtete hießen) ins Gespräch. Sie erzählen ihm über ihre Lebensumstände, legen ihre berechtigten oder unberechtigten Klagen vor, er lernt Flüchtlingsheime und -unterkünfte von innen kennen. Daneben trifft er die Einwohner, sowohl Menschen auf der Straße, als auch Politiker oder „Prominente“. Berührungsängste kennt er nicht, die AfD und ihre Vertreter interessieren ihn sehr und im Gegensatz zu den deutschen Medien, in denen AfD-Vertreter als eine Art von Untermenschen ignoriert oder diffamiert werden, erlebt er sie als Individuen, mit denen er sich auseinandersetzt und über die er sich Gedanken macht..
Der Unterschied zwischen Ost und West fällt ihm auf. Im Osten reden die einfachen Menschen direkter und unverblümter, im Westen herrscht eher eine an Correctness geschulte Sprechweise vor. Wie von Zauberhand gelenkt, taucht sowohl bei Flüchtlingen als auch bei Deutschen immer wieder eine Fixierung auf Israel oder die Juden auf.
Die einzelnen Episoden will ich nicht schildern, man soll sie selbst in Tuvias unnachahmlicher pointierter Sprachweise lesen. Nur so viel sei angemerkt, dass er die Zustände in vielen Flüchtlingsunterkünften als desolat erlebt hat. Mit der Mentalität von Flüchtlingen kenne ich mich zu wenig aus, um mir ein Urteil bilden zu können, wohl aber mit der Mentalität von Flüchtlingshelfern. Und die ist derart authentisch geschildert, dass man jedes Erlebnis und sei es noch so absurd, nachvollziehen kann. Interessanterweise wird ihm oft auf seine Frage, warum ausgerechnet Deutschland diese Unmengen von Flüchtlingen aufgenommen hat geantwortet, das wäre darum, weil „Deutschland seinen schlechten Ruf auf der Welt gut machen und man nicht als ein ‚Naziland‘ dastehen will“. Tuvia akzeptiert diese Meinung seiner Gesprächspartner. Mich wundert diese Einstellung ein wenig, denn seit Jahrzehnten ist in den Medien immer wieder zu lesen und zu hören, wie hoch Deutschland auf der Skala der beliebtesten Länder auf der Welt stünde - einer der vordersten, wenn nicht der erste Platz ist ihm immer gewiss. Möglicherweise ist Deutschland „wegen seiner Vergangenheit“ (dieser allgemein geliebte Ausdruck, der alles und nichts aussagt) wie von einem Waschzwang besessen. Der erste Platz reicht nicht, man muss rein waschen und rein waschen! Ich könnte mir auch eine andere Erklärung für die große Zahl der „Aufnahme von Schutzsuchenden“ vorstellen, so etwa wie die Negation der Negation, die wir im politischen Unterricht gelernt haben: Viele Judenhasser ins Land lassen, um damit die Ermordung der Juden vergessen zu machen.
Dass Tuvia für sein Buch böse Verrisse bekommen wird, ist gewiss, es wird aber sicher auch von vielen Menschen, so auch von mir, mit Freude gelesen.
anne.c - 15. Mär, 17:03