Montag, 18. Juni 2012

Ein Bestseller

In einem Regal entdeckte ich ein Buch von Friedrich Schorlemmer. Da ich neugierig bin, studierte ich ein wenig darin. Es ist wohl so, dass diejenigen, die solche allgemein sich gut anhörenden Lebensfloskeln schreiben, überzeugt sind, dass sie auch so denken wie sie schreiben. Immer hat man bei Büchern dieser Art den Eindruck: Schon oft gehört, schon oft gelesen! Den Menschen klar machen, wie sie „gut“ leben sollen, aber in so allgemeiner Art, dass keine Konsequenzen für den Einzelnen gefordert werden, außer vielleicht einmal sieben Wochen etwas weniger essen. So versuche ich herauszufinden, was hinter den Zeilen steckt, was derjenige von sich zu erkennen gibt, ohne dass es ihm bewusst ist. Manchmal Harmloses, oft nichts Gutes, auch Menschenverachtung, denn „die Menschen“ sind ja so dumm, dass sie diese Zeilen nötig haben.

Als Beispiel für einen wahrhaft dem Hass abschwörenden Menschen hat FS Uri Avneri entdeckt: Der gute Jude, der kritisch zu den bösen Juden ist! Auch das kennt man zur Genüge.

Eine Szene aus dem Buch ist bezeichnend: In einer Podiumsdiskussion Anfang der 90-ger Jahre war FS auserwählt worden, um sich mit Hermann Kant auseinander zu setzen. Denn nur FS schien man rhetorisch und intellektuell in der Lage zu halten, diesem brillanten Schriftsteller Paroli bieten zu können.

Als erstes traf FS in Pankow zufällig den mit seinem Enkel spazieren gehenden Egon Krenz, und er entdeckte dabei, dass dieser - nun seiner Macht entledigt - einfach nur ein Mensch ist, und er konnte „keinen Hass“ auf ihn empfinden.

In der Podiumsdiskussion war das Publikum - in Pankow - ganz auf der Seite von Hermann Kant. FS, der die Aufgabe hatte, Kant irgendwie zu zähmen, hat sich in seiner Rolle sehr unwohl gefühlt Die Situation dieser Podiumsbegegnung wurde so schwammig beschrieben, dass man sich seine eigenen Gedanken dazu machen musste. Es schien so gewesen zu sein, dass das Publikum FS natürlicherweise als einen Gegner angesehen und ihn dementsprechend behandelt hat. Und das, obwohl FS sich Mühe gegeben hat, sein Gegnüber HK fair und als ihm ebenbürtig zu behandeln! Wie das genau verlief, konnte ich nicht heraus finden.

Plötzlich sprang noch eine dritte Person in die Bresche, die die Konfusion vollkommen machte: Henrik Broder trat auf - warum auch immer - und der schien es auf eine Konfrontation mit Hermann Kant abgesehen zu haben. Nach dem, was FS geheimnsivoll andeutete, ging Broder nicht fair mit HK um, was wohl das Publikum dann wieder auch Schorlemmer selbst angekreidet hat. FS schien bis heute - gut 15 Jahre danach! - diese Situation nicht verkraftet zu haben, jedenfalls brachte er sie aus unerfindlichen Gründen als Szene in dieses Buch. Da das gesamte Buch keinen ausgesprochen „roten Faden“ hatte, fiel das nicht weiter auf. FS schrieb sogar: Es war so eine unerfreuliche Situation für ihn, dass er danach für mehrere Wochen seiner Kreativität beraubt war.

Man muss FS immerhin zu Gute halten, dass er als ganz große Ausnahme damals nach der „Friedenspreisrede“ dem Martin Walser nicht applaudiert hat, wie die gesamte deutsche Elite. Trotzdem - lutherisch-protestantisch gibt er sich, und da ist Judenverachtung verinnerlicht: Die Einteilung in gute und schlechte Juden. Broder habe so viel Erlogenes und Gehässiges über diese Veranstaltung geschrieben, dass FS immer noch nicht darüber hinweg gekommen sei. Doch Konkretes gibt er nicht bekannt. Keinen einzige der "erlogenen" Sätze, keine Frage, keine konkrete Situationsschilderung. Nur so ein starkes Unbehagen, das Broder in ihm auslöste und das FS an die Leserschaft weiter gibt. FS eben in seiner ganzen Herrlichkeit!

Montag, 11. Juni 2012

Ausstellungen

Nachdem ich vor Kurzem (12.05.) in einer großen norddeutschen Kirche die Ausstellung "Der gelbe Stern" gesehen habe, fand ich in einer anderen Kirche dieser Region eine Ausstellung mit dem Titel "Auschwitz" vor. Die zweite Ausstellung war von Gymnasiasten der Stadt im Anschuss an eine Exkursion nach Auschwitz gestaltet worden. Sie bestand aus neun Tafeln mit Fotos und Informationen zu den Geschehnissen in Auschwitz. So stellte ich mir vor, dass die Schüler erschüttert über alles, was sie dort in Auschwitz an Ort und Stelle erfuhren, die Tafeln für den Geschichtsunterricht anfertigten. Wahrscheinlich waren sie dann auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für eine öffentliche Präsentation an die Kirche geraten. Der Kirchenraum bietet sich für Ausstellungen geradezu an.

Den guten Willen der Schüler will ich keinesfalls infrage stellen. Aber wie wirkt es auf einen Besucher, wenn er in kurzer Zeit in zwei großen Kirchen Ausstellungen zu KZ - bzw. Judenvernichtungsthematik entdeckt? Er stellt zumindest einige Fragen: Ist die Kirche für Auschwitz zuständig? Sollen Schautafeln jener Art etwa auf die "böse Welt" hinweisen, die Auschwitz verschuldet hat, vielleicht sogar im Gegensatz zur Kirche? Welche Position nimmt die Kirche ein? Interessant ist, dass Ausstellungen jener Art meistens so konzipiert sind, als wäre Auschwitz etwa nicht in dieser Welt, sondern auf einem fernen Planeten angesiedelt. Zumindest haben diese Dinge mit der Gegenwart kaum etwas zu tun.

Die Ausstellungen in den Kirchen sollten Bezug zur Realität haben, und dazu könnte man z. B. die eigene Stellung unter die Lupe nehmen. Interessant wäre eine Ausstellung darüber, wie sich kirchliche Vertreter in der Nazizeit verhalten haben und wie nahtlos ihr Weg nach 1945 weiter ging. Ich denke da an den evangelischen Pfarrer, SA-Mann und NSDAP-Parteigenossen Karl Thiemel, der sich in der Nazizeit aktiv in Berlin für die Einrichtung einer "Kirchenbuchstelle" einsetzte und sie dann auch leitete. In dieser kirchlichen Behörde wurden die eigenen Kirchenmitglieder auf ihre Herkunft zur jüdischen "Rasse" untersucht. Alle "Nichtarier" wurden in einer so genannten Fremdstämmigenkartei registriert. So lieferte er den Nazibehörden direkte Informationen, die zu den Deportation in die Vernichtungslager führten. Andere Pfarrer denunzierte er, weil sie Juden zum Schutz getauft hatten. Nach dem Krieg wurde diesem tüchtigem Archivar in Berlin das Kirchenbuchwesen und die Archivpflege unterstellt. Gleichzeitig wurde er zum Konsistorialrat ernannt, und in dieser Funktion konnte er sich dann selbst beaufsichtigen. Seine wohlverdiente Pension genoss er in Westdeutschland.

Könnte man in Kirchen Schautafeln zu solcher Thematik besichtigen, dann würden diese Ausstellungen nicht so befremdlich wirken, die Leute würden sie mit etwas mehr Interesse betrachten und die Kirche würde nicht als lebensfremde Institution erscheinen.

(historische Informationen aus: "Evangelisch getauft, als Juden verfolgt",
herausgegeben vom Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin 2008)

Dienstag, 5. Juni 2012

Ein Leserbrief (2)

In der Zeitung wurde ein Leserbrief von mir veröffentlicht. Doch ich habe wenig Freude daran, meinen Namen gedruckt auf Papier zu lesen. In dem Augenblick, wo ich das Geschriebene abgeschickt habe - und es muss schon sehr mein Interesse erregen, bevor ich mich dazu durchringe -, ist es mir ziemlich egal, sofort habe ich Distanz dazu. Interessant wurde es allerdings, als mich Frau H. nach Erscheinen des Briefes anrief, und mir allerhand über diesen Maler B. und andere Leute erzählte, auch über B.s Verhältnis zu jenen Malern, von denen in meinem Leserbrief die Rede war. Gleich entstanden Zusammenhänge, Querverbindungen, die lebende, mir aus ganz anderen Zusammenhängen bekannte Personen berührten. Allerdings hätte ich keine Lust, mich als moralischer Vermittler einzumischen. Eigentlich mische ich mih nur dann ein, wenn ich erlebe, wie Menschen, die sich nicht wehren können, schlecht behandelt werden, so erging es in diesem Fall den drei nicht mehr lebenden Malern, die als Denunzianten verdächtigt wurden.

In dem Leserbrief ging es darum, dass XX einen Maler wieder zu Ehren bringen wollte, der außer dass er publikumswirksame Heimatbilder geschaffen hatte, auch für seine Hitler-Portraits in der Nazizeit berüchtigt war. Ich unterstelle dem biederen XX nicht, dass er einen Nazimaler publik machen wollte. Er wollte etwas für seine Heimatstadt tun, und da diese nicht allzu viel vorzuweisen hat, kramte er diese Figur aus der Mottenkiste der Geschichte hervor. XX ist aktives SPD-Mitglied, und hat wahrscheinlich politische Schulungen hinter sich, wo man den Leuten u. a. auch die Kunstgriffe beibringt, die man anwendet, wenn man „brisante“ Themen aufgreifen will. Man darf Makel nicht verschweigen, sondern sie offensiv aufzeigen, so nimmt man potentiellen Gegnern den Wind aus den Segeln. Nur XX gab sich dabei selbst so viele Blößen, dass er angreifbar wurde, indem er im Zusammenhang mit diesem Nazimaler andere Maler denunzierte.

Später erfuhr ich von Frau H. interessante Details dieser Geschichte, nämlich dass dieser Maler B., da er wie das üblich war, nicht von der DDR verstoßen wurde (was XX als einen Beweis ansieht, dass es ja mit ihm nicht so schlimm gewesen sein konnte), sich mit der Zeit so bestätigt fühlte, dass er dann in der DDR-Zeit andere Maler, die mit ihm aus irgendeinem Grund im Clinch lagen (ich vermute eher aus künstlerischen als aus politischen Gründen) nun denunzierte, indem er verlautbarte, sie haben ja schon immer „entartete Kunst“ hergestellt, also wieder in die Nazisprache zurück fiel, was auch typisch ist für Leute, die sich eine Zeit geduckt hatten, und als sie feststellten, dass es doch so schlimm nicht gekommen ist, ohne Scham wieder ihre alte Denkweise aufnehmen und sie auch verkünden. So etwas erleben wir auch heutzutage überall.

Donnerstag, 31. Mai 2012

Die Kapelle

Das Kernstück des großen Krankenhausgebäudes, zugehörig zu einer evangelischen Stiftung, in dem ich eine Zeit zubrachte, war eine Kapelle. Sie lag im ersten Stock genau zwischen zwei Stationen, von denen sie jeweils durch das Treppenhaus getrennt war. Um sich den Weg zu einem der beiden Fahrstühle ein wenig abzukürzen, konnte man direkt durch die Kapelle gehen. Diese Abkürzung benutzte ich gern, weil ich die Stimmung in der altertümlichen Kapelle als angenehm empfand. Später erfuhrt ich, dass dort einmal in der Woche eine Andacht für die Bewohner des zur Stiftung gehörenden Altersheims stattfand. Nicht, dass ich mich nach Andachten sehne, aber dass auf unserer Station nicht der leiseste Hinweis mit einer Einladung zu diesen Andachten auslag, wunderte mich, denn ich hatte immer mal gehört, dass die Kirche auf Menschen zugehen und um sie werben will.

Außer mir habe ich niemals einen Menschen durch die Kapelle gehen sehen. Ich wollte meiner Zimmernachbarin den kürzeren Weg zum Fahrstuhl zeigen, aber sie war außer sich: "Da gehst du durch? Da würde ich niemals durchgehen!" Eine Begründung für ihre Kirchenphobie konnte sie mir nicht geben, sondern es erfasste sie nur ein entsetztes Erschauern: "Mir reicht, dass ich zu Hause nur ein paar Schritte von der Kirche entfernt wohne!" (Später staunte ich nicht schlecht, als ich auf ihrer Familienfotografie entdeckte, dass einer der Söhne ein überdimensioniertes Kreuz um den Hals trug). Wieder andere Mitpatienten erlebte ich vor dem Stationsfernseher. Die Männer sahen sich gern am Vorabend Geschichten aus dem "wahren Leben" an. Wenn dabei ein Pfarrer auftrat, oder wenn zufällig etwas Kirchliches vorkam, hörte ich unwilliges Raunen und sarkastische Bemerkungen meiner Mitpatienten, die mich an die abwehrende Einstellung meiner Nachbarin erinnerte. Nichts ist der DDR so gut gelungen, wie die Leute vom Christentum abzubringen und sie zu echten und überzeugten Atheisten zu machen.

Das passende Gegenstück zur Einstellung meiner Mitpatienten lieferte mir die Leitung des kirchlichen Krankenhauses. Kaum glaube ich, dass es außer mir einen Menschen gab, der die Kapelle als Abkürzungsweg benutzte. Jedenfalls sah ich nie jemanden zur Tür hinein oder zur anderen Tür heraus treten. Und doch hing eines Abends ein großer computergeschriebener Zettel an der Tür mit der Aufschrift: Bitte die Kapelle nicht als Durchgang benutzen! Dafür hatte ich zwar Verständnis aus Sicht eines Gebäudeverwalters. Aber wie steht es mit der "Kirche an sich", deren hohes Anliegen es ist, um Menschen zu werben, sich ihnen zu zeigen, Mitglieder zu gewinnen? Die gleiche Landeskirche, der das Krankenhaus gehört, hat eigens zur Mitgliederwerbung ein universitäres "Institut für Evangelisation" gegründet, mit hoch dotierten Professoren an der Spitze. Die Kirche schreit geradezu nach Steuerzahlern. Sollte sie nicht jede Gelegenheit wahr nehmen, den kirchenfernen Leuten ein wenig von sich zu zeigen und sei es die Atmosphäre einer Kapelle, durch die dieser oder jener beim Durchgehen vielleicht ein wenig auf die Kirche neugierig werden könnte?

Samstag, 26. Mai 2012

Chaim Noll

Bei einer Zusammenkunft im Literaturclub kam einmal die Sprache auf ihn. Ein Ehepaar war aus Interesse, auf den „Sohn von Dieter Noll“ zu treffen, zu einer Veranstaltung mit ihm gefahren, und sie waren entsetzt, in welchem Habitus er aufgetreten war. Er war ihnen als orthodoxer Jude mit all den dazu gehörenden Kennzeichen erschienen. Das empfanden sie als abstoßend. Mehr war dem Bericht nicht zu entlocken.

Als wir dann ebenfalls eine Lesung mit Chaim Noll besuchten, waren wir überrascht, denn dieser Mann hatte nur ein Kennzeichen des Judentums, nämlich eine Kipa. Seine runde Brille und sein gestutzter Bart konnten nicht auffällige jüdische Kennzeichen gedeutet werden, sie erinnerten nur in der Erscheinung an altertümliche Fotos einiger Juden. Der Inhalt seiner Lesung war dann höchst interessant: Welchen Weg er genommen hatte, vom Sohn eines zur Kulturelite gehörenden DDR-Schriftstellers bis zum Bewohner einer israelischen Wüstenstadt. Er schilderte seine kulturellen und sprachlichen Wandlungen interessant und nachvollziehbar. Alles in einer sehr feinen Sprache.

Wir haben uns nun mit Chaim Noll befasst und mehrere Essays von ihm gelesen. Islamismus, Stalinismus - Totalitarismus insgesamt untersucht er. Die schleichende Verbreitung der totalitären Herrschaftssysteme, die in alle Lebensbereiche eingreifen wollen. Welche die Menschen versklaven und eine kleine Elite in den Himmel heben, aber sich insgesamt selbst zerstören unter riesigen Opfern an Menschenleben, an Kultur, Natur - ja eigentlich allem, was zum Bestehen der Menschheit gehört. Wie diese Vereinahmung schleichend um sich greift und oft mit Wohlwollen und vorauseilendem Gehorsam derjenigen, die es später einmal selbst treffen wird, einhergeht.

Chaim Noll ist ein sehr interessanter Mann, sowohl hinsichtlich seines Lebenswegs als auch durch seine geistige Einstellung und sein literarisches Werk.

Sonntag, 20. Mai 2012

Pommersche Impressionen (Teil II)

Ein weiterer Ausflug führte mich in ein abgelegenes Örtchen auf der Insel Usedom. Peenemünde. Einst Sitz der Heeresversuchsanstalt, der Ort, wo die im 2. Weltkrieg bewunderte und gefürchtete V 2-Rakete entstand, die Vergeltungswaffe, welche die Niederlage im letzten Augenblick abwenden sollte. In der DDR-Zeit gab es dort einen Militärflugplatz. Dieser Ort war "militärisches Sperrgebiet", für normale Sterbliche unerreichbar.

Nach der Wende sorgte Peenemünde immer einmal für Schlagzeilen. Der Ort Peenemünde, fast ausschließlich bewohnt von Angehörigen der Nationalen Volksarmee, hatte seine damalige Lebensgrundlage verloren und musste sich neu erfinden. Pragmatisch sagte man sich: Aus dem, was wir hier haben, wollen wir etwas machen. Und sei es, uns und unsere Geschichte der Öffentlichkeit zum Anschauen zur Verfügung zu stellen und eine Art Museumsdorf zu gründen. Ganz sicher waren ehemalige Offiziere nicht diejenigen, die aus dem Stegreif Museumsmacher sein konnten. Waren sie doch über Jahrzehnte zwar in ihren Waffengattungen ausgebildet worden, aber nicht in der Kunst, publikumswirksame Schautafeln zu erstellen oder einen informativen, sinnvollen Rundweg anzulegen. Ein Offizier, den ich kenne, mutierte ganz in der Nähe zum Leiter eines "Bettenmuseums". Es gibt ein Lern-Museum für Kinder, ein Spielzeugmuseum, ein U-Boot-Museum. Das wichtigste Museum aber ist Peenemünde selbst. Aus allem, was zu erforschen und an Wissenswertem zusammenzutragen war, hatte man ein historisch-technisches Museum geschaffen.

Am schwierigsten stelle ich es mir für Offiziere vor zu unterscheiden: Was war bis 1945, was bis 1990 und was ist jetzt politisch korrekt? Was dürfen wir ausstellen, was nicht? Die sichere Ideologie nach der man sich bis dahin richten konnte, war passé. Sicher war es der größte Schock für einen Armeeangehörigen, dass nun niemand mehr da war, der den politisch richtigen Weg vorgab. So schlug die Begeisterung für die V2-Wunderwaffe manchmal zu hohe Wogen, und dann traten Menschen auf den Plan, die sagten, dass es so toll mit der V2 auch nicht gewesen sei, dass die Raketen vielen Menschen in England den Tod gebracht haben und dass der Bau der gewaltigen Anlagen unzählige Sklavenarbeiter Gesundheit und Leben kostete. Aus diesem Hin und Her der Meinungen war das Ergebnis entstanden, das ich nun besichtigen konnte.

Meine größte Verwunderung bestand darin, dass es fast keine Spuren mehr von der glanzvollen Raketenproduktion gab. Ich hatte mir eine ganze Produktionskette der V2 vorgestellt. Lediglich das monströse Kraftwerk gab es noch, das die Energie für den Raketenbetrieb produziert hatte und als Energielieferant auch für die DDR unverzichtbar blieb. Allerdings: Eine gut instand gesetzte Rakete empfing die Museumsbesucher. Man kann hoffen, dass sie nicht scharf war, und das ist kein Scherz. Denn in meinem Heimatort hatte die DDR-Armee eine scharfe Rakete als Denkmal hinterlassen, die den Männern, die das Denkmal nach der Wende mit Schweißbrennern abmontieren wollten, um die Ohren flog (zum Glück an den Ohren vorbei). Das Kraftwerk in Peenemünde samt der überdimensionierten Förderanlage für Steinkohle war eindrucksvoll genug. Ich fand keine Verherrlichung der V2. Man versuchte die Aufmerksamkeit ein wenig vom unheilbringenden Wirken abzulenken, zugunsten der segensreichen Pionierarbeit bei der Etablierung der Weltraumfahrt. Allerdings zeugten manche Tafeln von ideologischer Unsicherheit. So gab es eine Zeittafel erst ab 1945. Auf drei Strängen wurden markante Punkte parallel zusammengestellt: Die Geschichte DDR/Bundesrepublik, die Geschichte Peenemündes und die Geschichte der Aufarbeitung des Holocaust. Letzteres war etwas befremdlich, vor allem da man jegliche Kriegsverbrecherprozesse wohl übersehen hatte, dafür aber den Zeitpunkt der ersten Wagneraufführung in Israel als markanten geschichtlichen Punkt angab.

So konnte ich diesen Nachmittag in Peenemünde als lehrreich erfahren, da sich hinter allem was man sah und las eine interessante Mischung aus mehreren und ereignisschweren Epochen der Zeitgeschichte verbarg. Und eine seltsame Stimmung schwebt über diesem Areal, das die Natur meistens längst zurückerobert hat.

Samstag, 12. Mai 2012

Pommersche Impressionen (Teil I)

Eine Weile hielt ich mich in einer ehrwürdigen pommerschen Universitätsstadt auf. Da ich viel Zeit hatte, konnte ich mir manche Sehenswürdigkeit anschauen. Beim Erkunden von unbekannten Orten, laufe ich zwar nicht der deutschen Vergangenheit hinterher, aber alles, was ich entdecke, sehe ich mir gründlich an. So fand ich in einer stillen Ecke des Domes eine Fotoausstellung mit dem Titel "Der Gelbe Stern" über das Schicksal der Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Ausgestellt von der Friedensbibliothek Berlin. Gute, aussagekräftige Fotos mit wenigen einprägsamen Texten. Ein Satz von Primo Levi beeindruckte mich besonders.

"Ich glaube, in dem Schrecken des dritten Reiches ein einzigartiges exemplarisches symbolisches Geschehen zu erkennen, dessen Bedeutung allerdings noch nicht erhellt wurde: Die Vorankündigung einer noch größeren Katastrophe, die über der ganzen Menschheit schwebt und nur dann abgewendet werden kann, wenn wir alle es wirklich fertig bringen, Vergangenes zu begreifen, Drohendes zu bannen. "

Ich dachte über den Text nach, wunderte mich aber gleichzeitig, dass so etwas in einer evangelischen Kirche zu lesen ist, in der man sich sonst Gedanken darüber macht, wann und wie lautstark Günter Grass schon einmal in Israel ausgepfiffen wurde (wie im neusten brandenburgischen Blättchen zu lesen war). Wahrscheinlich würde man nach der in diesem Metier vorherrschenden Logik des Verdrehens von Ursache und Wirkung auf eine diesbezügliche Frage die Antwort bekommen, dass Grass ja gerade dieses Menetekel an die Wand geschrieben hat.

Im Gästebuch gab es erst zwei Eintragungen. Die erste war:
Diese Ausstellung sollte sich der ehemalige SS-Mann Grass ansehen.
Die zweite Eintragung war:
Grass meinte es umgekehrt: Niemand soll mehr Unrecht tun!

Ich fügte der Diskussion noch einen dritten Beitrag hinzu:
Was mag mit "umgekehrt" gemeint sein? Sollte Günter Grass sich die Ausstellung etwa nicht ansehen? Das würde bedeuten, dass niemand sich die Ausstellung ansehen müsste.

(Was vielleicht etwas sybillinisch klingt).

Sonntag, 6. Mai 2012

Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen. Jesaja 5-20

Denkt noch jemand an das Gedicht von Günther Grass "Was noch zu sagen wäre?" Wenn man es anspräche, würde jeder wohl sagen: "Das ist doch Schnee von gestern, kalter Kaffee, darüber ist längst ´Grass´ gewachsen. Wir sind inzwischen bei neuem Diskussionsstoff!" So schnell geht man heutzutage über die brisantesten Themen hinweg. Jedes Thema ist nur interessant, so lange es ganz aktuell ist.

Was hat das Gedicht bewirkt, das viel diskutierte? Immerhin hat es Menschen zu weiteren Gedichten inspiriert, eine Vielfalt von Replikgedichten ist entstanden. Das anrührendste heißt: "Was geantwortet werden muss" von Claude Salama. Hält man beide Gedichte nebeneinander, erkennt man, was echt und was manieriert ist. Und man erkennt, welche Botschaft ein Jude und welche Botschaft ein ehemaliger SS-Mann hat.

Das Gedicht von Günter Gras hatte überzeugte Verteidiger. Aber haben sich diese Verteidiger von Grass und seinem Gedicht etwa vor die israelische Botschaft gestellt, sich von ihrem Schweigen befreit und Israel lautstark zum Verzicht auf Gewalt aufgefordert? Die Ostermärsche fielen doch in die Zeit, als das Gedicht aktuell war. Und es waren nicht mehr, eher weniger Teilnehmer dabei als sonst. Auch Günter Grass selbst machte keine Anstalten, vielleicht eine Demonstration gegen Israel anzuführen. Man kann überlegen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass so wenig unmittelbare Wirkung von einem "aufrüttelnden" Gedicht ausgeht. Pogromartige Stimmung hat es nicht hervorgerufen. Pogromartige Tumulte gegen die israelische Regierung, etwa gegen Botschaftsangehörige, könnte ich mir zwar im linken und im muslimischen Spektrum vorstellen, wenig aber im Milieu der Günter Grass Leser.

Gedichte wie das des Günter Grass haben eine ganz andere Aufgabe, als sie vorgeben. Sie sollen anhaltend im Verborgenen wirken. Es ist kein Zufall, dass Debatten jener Art zyklisch sind. Man hat manchmal den Eindruck, dass diejenigen, die jene großen Debatten anstoßen, sich untereinander absprechen, nach dem Motto: "Jetzt bist du dran!" Was all diesen Debatten und Kampagnen gemein ist: Sie sollen Grenzen des Denkens und Handelns verschieben und sie sollen Tatsachen verdrehen und eine verfälschte Wirklichkeit schaffen. In dieser verfälschten Wirklichkeit soll ein konkretes Handeln möglich sein, das sich nicht mehr nach den bürgerlichen Gesetzen richtet, sondern das sich eigene Gesetze schafft. (Man nannte es zu einer gewissen Zeit: ´den gerechten Volkszorn hervorrufen´).

Im Luftreich des Traums

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