Donnerstag, 8. März 2012

Frauentag

Es gibt Gelegenheiten, bei denen man sagen kann: "Die DDR lebt"! Nicht nur, wenn man die linken Genossen im Fernsehen sieht, bei denen man erlebt, wie Denkweise und Sprachduktus noch über Generationen vererbt werden.

Vielleicht der wichtigste Feiertag, der die DDR-Identität weiter erhält, ist der internationale Frauentag. Das vorgesetzte Wort ´international` entbehrt in diesem Zusammenhang nicht ziemlicher Komik, denn die letzte bzw. gar nicht vorhandene Eigenschaft der DDR war die Internationalität. Es mag Feministinnen befremden, dass ich den Frauentag für die DDR und ihre Nachkommen reklamiere, doch die Realität spricht für sich selbst.

In meiner gemischt-deutschen Arbeitsstelle erkenne ich am 8. März auf den ersten Blick, aus welchem Teil Deutschlands eine Frau stammt. Die freudig-erregten Gesichter gehören nach Osten. Die befremdet-gelangweilten nach Westen. Frauen älteren Jahrgangs aus dem Osten stehen zusammen und schwärmen davon, wie lustig es in der DDR am Frauentag gesen sei. Der Frauentag war ja eine sehr beschwingte, feucht-fröhliche Unterhaltungsfeier, harmlos und unpolitisch würde wohl fast jede Frau zu Protokoll geben. Gab es in der DDR harmlose, unpolitische Feiern? Da fallen mir die Witze von Radio Jerewan ein und man könnte sagten: "Im Prinzip ja, aber..."

Aus irgendeinem Grund hatten die betagten DDR-Führer im Jahr 1988 beschlossen, dass der Frauentag diesmal ernst genommen werde, d. h. jede Frau müsse erst einmal zur Demo gehen, bevor sie zum Feiern zugelassen werde (die Führer ahnten damals nicht, dass ihr Ende kurz bevor steht). Es wurde ein unglaubliches Theater schon in Vorbereitung auf diesen Tag veranstaltet. Ausgenommen einige Hausfrauen und kirchliche Mitarbeiterinnen oder Selbstädnige war die gesamte Frauenschaft über ihre Arbeitsstellen dem direkten Zugriff des Staates ausgesetzt. Denn der Parteisekretär herrschte nicht nur über die Frauen, die in der Partei (SED) waren, sondern da der Betriebsleiter in jedem Fall auch in der Partei war, konnten die Parteisekretäre mit Umweg über diesen auch über die "nicht organisierten" Frauen Macht ausüben. Nichts ahnend sagte ich - eine der wenigen nicht zu einem Betrieb gehörenden Frauen - an diesem Tag zu einer Freundin: "Na, wie ist es dir heute ergangen?" "Ach, hör bloß auf, ich wurde heute von meinem Chef fertig gemacht. Der hat so getobt, in meinem ganzen Leben wurde ich noch nie so beschimpft!". Als parteilose Frau wollte sie keinesfalls provozieren, sondern sie fühlte sich an dem Tag nicht wohl, und hatte gedacht: "...was soll ich zu dieser blöden Demo gehen?" Ich war erstaunt, denn ihr Chef war ein außerordentlich ruhiger und zurückhaltender Mensch, dem man einen solchen Ausbruch nicht zugetraut hätte. Die Erklärung ist einfach: Er stand selbst unter einem solchen Druck von seinem Parteisekretär, und dieser vielleicht ebenfalls. Im Nachhinein kann man sogar sagen: ´Immerhin! Der DDR war jeder einzelne Mensch, der nicht mitmachte, so wichtig, dass sie sich sehr intensiv um ihn kümmerte.´ Auch um die Frauen am Frauentag.

Zu diesem legendären Frauentag 1988 fällt mir noch eine Szene ein. Es war die Zeit, in der massenhaft Anträge auf Ausreise aus der DDR gestellt wurden. Das war ein Grund für die Wichtigkeit der Demonstrationen an jenem Tag, denn die Frauen sollten auf Schildern ihre Verbundenheit mit der DDR zum Ausdruck bringen. Eine Frau wollte den Wirbel, der um diesen Tag gemacht wurde nutzen, reihte sich in die Demo und hielt ein Schild hoch "Ich demonstriere für meine Ausreise aus der DDR!" Festgenommen wurde sie dann nicht von der Stasi, sondern von den Frauen, die mit ihr demonstrierten. Was wieder eine schlüssige Logik hatte, da diese ja "für" die DDR demonstrierten. Ausreisen durfte die Festgenommene dann erst, nachdem sie 1 1/2 Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Das war kurz vor dem Fall der Mauer.

Nun, bloß feucht-fröhlich und lustig waren die DDR-Frauentagsfeiern also offensichtlich nicht.

Sonntag, 4. März 2012

Ein Leserbrief (2)

In der Ausgabe Nr. 10 der Ausgabe "Die Kirche" (ev. Kirchenzeitung) steht in der Rubrik "Forum" eine pro und eine contra Position zur Verleihung des Deutschen Medienpreises an Mitri Raheb. Ebenso unterschiedlich wie die Positionen von Bischof Abromeit und Pfarrer Münnich sind, so verschieden sind auch ihre Argumentationsweisen, und sie werfen ein bezeichnendes Bild auf den gesamten Vorgang.

Bischof Abromeit setzt sich nicht etwa mit Zitaten oder Handlungsweisen des Pfarrer Raheb auseinander, sondern führt an, was dieser alles nicht sage. Für Nichts-Sagen sind natürlich keine Belege nötig, und so urteilt Bischof A. von einer bequemen Position aus. Lediglich einen Aufruf zum gewaltlosen Widerstand gesteht er Pfarrer Raheb im positiven Sinne zu. Dafür verurteilt er gleich von vornherein alle, die den palästinensischen Pfarrer kritisieren und bezichtigt sie des Rufmordes.

Pfarrer Münnich zählt eine Reihe von Zitaten des Pf. R. auf und gibt auch genau an, wo sie ausgesprochen bzw. aufgeschrieben sind. Das erfordert mehr Mühe, als "nichts" zu zitieren, ist aber beweiskräftiger. Teilweise stehen diese Zitate im klaren Gegensatz zu dem, was Bischof Abromeit als "nicht gesagt" bezeichnet.

Und so bleibt es dem Leser vorbehalten, sich seine Meinung zu bilden.

Freitag, 2. März 2012

Das sechste Gebot

Nachdem sich die Waagschale für den Hauptkandidaten zur Bundespräsidentenwahl deutlich Joachim Gauck zugeneigt hatte, stand ich mit einigen Menschen zusammen und wir sprachen über den uns heimatlich sehr nahe stehenden Präsidentschaftsanwärter. Gerade erst war bekannt geworden, dass seine familiären Verhältnisse nicht ganz so sind, wie man es von einem Präsidenten erwartet. Jemand aus unserer Runde war empört, dass nun schon wieder am Kandidaten herumgemäkelt werde: "Als ob das eine Rolle spielt! Heutzutage leben doch viele Menschen ohne Trauschein zusammen. Das ist doch ein Zeichen, dass er ein Mensch wie du und ich ist".

Ein Mensch wie du und ich? Immerhin ist er Pfarrer. Zum Zweiten ist er Kandidat zum Amt des Bundespräsidenten. Und "du und ich" leben zwar manchmal in einer nicht legitimierten Ehe, selten aber über viele Jahre in einer bigamieähnlichen Ehe. Es wird von der bevorstehenden Heirat mit seiner Lebensgefährtin gesprochen, man sieht sie als Präsidentengattin in spe, sie sagte sogar einmal, "sie übe schon". Kann jemand heiraten, bevor er geschieden ist, und darf die Ehefrau dabei ein Wort mitreden? Von Gaucks in Rostock lebenden Ehefrau ist nicht die Rede. Wie kann ein jemand, ein Pfarrer, ein Präsidentenanwärter so über einen Menschen hinweg gehen? Als würde diese Ehefrau gar nicht existieren. Das sechste Gebot sagt nichts darüber aus, ob eine Ehe amtlich oder kirchlich legitimiert sein muss. Dass man aber eine Ehefrau und eine Freundin gleichzeitig hat und die Ehefrau wie eine nicht existente Person behandelt, das spricht nicht nur gegen das sechste Gebot, sondern auch gegen die allgemein christliche Aussage von der Nächstenliebe.

Wenn der Pfarrer damit vielleicht sagen will, dass das sechste Gebot für die heutige Zeit nicht mehr relevant, also eigentlich sinnlos ist, dann muss man fragen: Warum das sechste Gebot, warum nicht auch die anderen Gebote? Was soll man von einem Prediger halten, der sich selbst den Grundlagen seiner Verkündigung entzieht? Was soll man von einem Präsidenten halten, der sich in seinem früheren Beruf als unglaubwürdig heraus gestellt hat?

Samstag, 25. Februar 2012

Ein deutscher Medienpreis

Pfarrer Mitri Raheb erhielt gestern den Deutschen Medienpreis. Und eine Laudatio von Roman Herzog. Bezeichnenderweise haben weder Spiegel- noch Zeit-online gestern darüber berichtet, obwohl wieder im vornherein die Wogen hoch geschlagen waren. Pfarrer Raheb, palästinensischer Pfarrer aus Bethlehem, dem Bethlehem, aus dem die christlichen Bewohner reihenweise flüchten.

Raheb berichtet zielsicher nicht etwa darüber, unter welchem Druck Christen unter einer muslimischen Mehrheit leben, sondern er macht Israel für alles Unheil verantwortlich, das in seiner Nähe geschieht. Er verkündet z. B.: „Wir haben Hochachtung vor allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben." Palästinenser, die ihr "Leben für ihre Nation gegeben haben" können nichts anderes sein als Terroristen, deren Tat für das Leben ihrer Nation es war, sich inmitten unschuldiger Menschen, auch Kindern in die Luft zu sprengen und Tote und Verstümmelte zurück zu lassen. Weiter behauptet Pastor Raheb, dass Jesus in Wirklichkeit ein Palästinenser war, was DNA-Analysen beweisen können, wenn man sie denn durchführen würde (wovon man vorsorglich Abstand nimmt und dass Jesus gen Himmel gefahren ist, erschwert zusätzlich jedwede Analyse). Die Juden in Israel seien - wie einst die Römer - eine Besatzungsmacht. Daraus ist wohl der Schluss zu ziehen, dass sie dort nichts zu suchen haben. Geschichts- und Religionsverfälschung, Rassentheorie samt konfuser Mutmaßungen über DNA-Analysen - das kann man mit Fug und Recht als starken Tobak bezeichnen. Es ist so starker Tobak, dass selbst Spiegel-online diesen Preis "unter den Tisch" fallen lässt.

Neugierig studierte ich einige Zuschriften in evangelischen Foren. Es erwies sich, dass eine ganze Reihe von Menschen recht entsetzt über die Preisverleihung waren. Es gab aber auch viele Verteidiger: Hatz, Verleumdungskampagne, Antisemitismuskeule - all das wurde denjenigen vorgeworfen, die Pfarrer Raheb nicht zustimmten. Sie mahnten "Sachlichkeit" an, und: Dieses oder jenes sei aus dem Kontext gerissen und dadurch verfälscht oder wie Pfarrer Raheb selbst es ausdrückte: "Diese Leute wollen keinen sachlichen Dialog führen, sondern die Menschen gegen mich aufhetzen, weil sie wissen, dass ich ein Ansehen in Deutschland genieße". Also, das übliche Schema: das eigene Verhalten wird den anderen vorgeworfen. Keiner der Anhänger führte "sachlich" Jesu und Pfarrer Rahebs DNA-Analyse aus. Manchmal wurde die Verteidigung von Herrn Raheb mehr zu einer Abstrafung Israels, das ähnlich wir früher die Juden, immer an allem Schuld ist.

Altbundespräsident Herzog hat trotz Hinweisen von mehreren Seiten seine Laudatio auf Raheb gehalten. Mit dem verschämten Hinweis: Pfarrer Raheb habe große Verdienste in Bethlehem, und in die politischen Dinge wolle er sich nicht einmischen. Altbundespräsidenten sind anscheinend zuweilen ebenso windige Typen wie die Neubundespräsidenten.

Samstag, 18. Februar 2012

Moralkeule (1)

(Wahlweile auch Antisemitismus- und Auschwitzkeule)

In der ZEIT las ich einen Leserbrief, der jenen Ärger zum Inhalt hatte, den die deutsche Politik in Griechenland hervorruft. Dabei benutzte der Verfasser mit großer Selbstverständlichkeit den Ausdruck „Auschwitzkeule“. Ich hätte gern ebenfalls einen Leserbrief mit einer Anmerkung dazu geschrieben, aber ein Leserbrief soll für sich stehen und Zensur anderer Leser daran würde ins Unendliche führen. Bin ich es doch selbst gewohnt, dass wenn gelegent lich eine Leserbreif von mir abdrucken, dass dann in der nächsten Ausgabe ein anderer Leser umso heftiger auf mich reagiert (vielleicht mit der berühmten imaginären Keule?).

Eine Weile dachte ich über die in Deutschland so beliebten Keulen nach. Kreiert hat sie wahrscheinlich der unsägliche Martin Walser, zumindest popularisierte er sie und machte die Deutschen “gefühlt“ (auch so ein seltsamer Ausdruck) zu einem arg geprügelten Volk. Diese Keule ist wirklich eine der abscheulichsten Erfindungen der Deutschen nach 1945.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich an einem frühen Sonntag Nachmittag ins Wohnzimmer einer Bekannten kam, der Fernseher lief, und Martin Walser hielt gerade seine Rede. Bis dahin wusste ich nicht, was der Friedenspreis, geschweige denn wer Martin Walser ist. Aber ich hörte der Rede zu, verstand ihren Inhalt und fand sie so schrecklich und abstoßend, dass ich gleich meinem Mann davon erzählte und sagte: „Da muss doch etwas geschehen!“ Erschreckt hat mich an der Rede am meisten, dass sich fast die ganze die illustre Heerschar der Zuhörenden erhob und frenetisch applaudierte.

Zufällig fuhren wir am Tag darauf ins Ausland, wo noch niemand diese Rede wahrgenommen hatte. Als wir zurückkamen, waren die Diskussion und alle darauf folgenden Peinlichkeiten im vollen Gange. Im Laufe der Zeit ist die „Keule“, die in verschiedenen Variationen erscheint, fast zu einem Alltagswort geworden. Die ursprüngliche Moralkeule verwandelte sich ebenfalls in eine Antisemitismus- bzw. Auschwitzkeule.

Nun überlegte ich, in welcher Weise ich von dieser Keule habe reden hören (insbesondere auch in Leserbriefen und Foren wird sie gern benutzt). Erst einmal: Es ist eine imaginäre Keule, die anderen unterstellt wird. Derjenige, dem der Keulenschlag unterstellt wird, bezichtigt man damit gleichsam der Nötigung und der Erpressung. Der Erpresser nutze seine Überlegenheit aus - sie kann moralisch sein oder aus Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestehen -, um sein Opfer ebenfalls aus moralischen Gründen, mehr jedoch wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe, mundtot zu machen. Als Keulenmensch will offenbar niemand da stehen.

Dann: Demjenigen, der diese Metapher anwendet, ist nicht im Geringsten bewusst, dass sein Verhalten genau dem entspricht, was er seinem Widersacher unterstellt. Er ist sich sicher, dass er selbst über die Deutungshoheit verfügt. Dass der Andere ebenfalls deuten, Logik anwenden und schlussfolgern kann, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Sonst käme er darauf, dass er dieselbe Keule, die er so heftig anprangert, in Wahrheit höchst selbst schwingt: Die Keule der Erpressung und der Mundtodmachung.

Donnerstag, 16. Februar 2012

Nicht: Was ist das für ein Volk? sondern: Warum der Hass?

Es ist schon lange her, als ich zu einer Freundin kam, die gerade beim Lesen war. Sie sagte: „Ich lese jetzt das Buch „Die Quelle“. Denn ich möchte wissen, was das für ein es Volk ist, das überall, wo es auf der Welt auftritt, den Hass der Umgebung auf sich zieht?“ Leider war ich nicht imstande, darauf zu antworten und wir haben auch nicht wieder über das Buch gesprochen. Soviel ich weiß, ist es eine Mischung aus Roman und archäologischem Sachbuch, das die Ursprünge Israels erforscht. Ich nehme an, dass es mehr Zufall war, dass meine Freundin gerade an dieses Buch geraten ist, eine Antwort auf ihre Frage wird sie daraus nicht erhalten haben.

Mir wurde bewusst, dass genau in dieser Frage, die sie sich oder anderen stellte, ein ganzes Weltbild steckt: Hass ist eine zwingende Folge von etwas zu Ergründendem. Der Hass ist entschuldbar, weil er provoziert wurde. Hätte ich damals schon mehr nachgedacht, hätte ich mit einer Gegenfrage geantwortet: „Warum hassen Menschen andere Menschen, ohne dass diese ihnen etwas angetan haben, so sehr dass sie sie verfolgen, diskriminieren, umbringen?

Wenn man diese Gedanken weiter denkt, gelangt man zu den Grundpositionen:

Der Mensch ist gut. Böse können die Verhältnisse sein, und wenn sich der Mensch nicht gut verhält, dann liegt es an dem Bösen, das ihn provoziert hat.

Oder: Der Mensch ist zu allem Bösen fähig, er sollte sich und das, was in ihm „schlummert“, kennen, sich bewusst damit auseinandersetzen und die Regeln des menschlichen Zusammenlebens annehmen, weil das im Endeffekt auch ihm nützlich ist.

Bei der ersten These muss man davon ausgehen, dass derjenige, der zu dem Urteil „der Mensch ist gut“ kommt, sich selbst in der Position des Subjekts sieht, d. h. er und Seinesgleichen sind jene, die er als Menschen bezeichnet. Und diejenigen, die „das Böse“ darstellen, werden als Menschen nicht in Betracht gezogen. Wenn jemand den Satz ausspricht: „Was ist das für ein Volk, das den Unmut etc. auf sich zieht…?“, sieht er die Juden nicht als Menschen an. Sie sind Objekte, die den guten Menschen zu schlimmen Taten veranlassen. Er sieht sie nicht nur als jene die „das Böse herausfordern“, sondern er hält sie auch verantwortlich dafür, dass „der gute Mensch“ etwas Böses überhaupt tut. Diese Denkweise birgt einen unentrinnbaren Teufelskreis in sich, der von Dialektikern aller Art gern angenommen wird.

Es ist eigentlich nur ein winziger Gedankensprung von der Frage: „Was sind das für Menschen, die den Hass auf sich ziehen….“ zu „Warum sind Menschen so zum Hass fähig?“ Diese Frage wird in der Regel ignoriert, es ist geradezu eine Tabufrage. Wenn man dieser Frage nicht nachgeht, hat man sich schon auf die falsche Spur begeben mit allen tragischen und schlimmen Folgen.

Sonntag, 12. Februar 2012

Menschenleeres Mecklenburg Vorpommern

Wir unternahmen eine Ausflugsfahrt quer durch Mecklenburg und Vorpommern. Beide Landesteile weisen untereinander so große Unterschiede auf wie etwa Baden und Württemberg, d. h. für die Einheimischen haben sie kaum etwas miteinander gemeinsam, Fremde dagegen müssen sich anstrengen, um die Unterschiede wahrzunehmen und wissen nie genau, in welchem der Landesteile sie sich befinden. Etwas haben Mecklenburg und Vorpommern gemeinsam: Es ist die erschreckende Leere in ihren Kleinstädten. Zu meiner Freundin sagte ich, dass wir gleich durch das wunderschöne Städtchen T. fahren werden. Es ist herrlich gelegen mit einer fast original erhaltenen mittelalterlichen Stadtanlage, die nach der Wende nach einem besonderen Förderprogramm saniert wurde. „Aber es ist ein Jammer, wie es mit den Menschen dort bestellt ist…..“ Meine Schilderungen wurden augenblicklich bestätigt, denn wir fuhren die gut zwei Kilometer lange Stadtdurchfahrt entlang, auch quer über den Markt, an einem Werktag Vormittag, und wir haben nicht einen einzigen Menschen gesehen.

Vor kurzem traf ich auf die 12-jährige Armenierin L. Ich half bei der Betreuung von Kindern, die zu einem Erholungsaufenthalt hierhergekommen waren, und zu denen L. gehörte. Zuvor wurde mir gesagt, dass sie sehr klein wäre, schüchtern und ängstlich und dass sie aus der mecklenburgischen Stadt G. käme. Ich erfuhr dann, dass die Familie seit Langem in Deutschland lebt, alle drei Kinder sind hier geboren. Nun sind sie akut von der Abschiebung bedroht. Warum? Was kam den Behörden in den Sinn? Beide Eltern arbeiten, und die Mutter gibt nebenberuflich noch Klavierstunden. Ich erfuhr, dass die Mutter große Angst hat, und diese scheint sich auf die Kinder zu übertragen. Bei L. war es so, dass der ständige Druck, der auf der Familie lastet, sich auch auf sie übertragen hat. Bei dem ein Jahr jüngeren Bruder ebenso. Ich will nicht behaupten, dass ihre schmächtige Gestalt daher rührt, aber es heißt, dass Wachstum und Lebensumstände oft eng zusammen hängen.

Als wir nach kurzer Zeit ein gutes Verhältnis zueinander gefunden hatten, war L. gar nicht mehr schüchtern. Sie ging aus sich heraus, erzählte über sich und ihre Freundinnen und über die Schule. Bald kam sie auf die drohende Abschiebung zu sprechen. Sie erzählte, dass diese Vorstellung für die Familie ganz schrecklich sei und alle in Angst vor der Abschiebung leben. Sie war nie im Leben in Armenien gewesen und wollte gern dort bleiben, wo sie geboren ist. Dass sie kurz vor der beabsichtigten Abschiebung zu einem Kuraufenthalt geschickt wurde, kam mir so vor, als wenn man einem Delinquenten noch die Henkersmahlzeit verabreicht. Ich stellte mir vor, dass in ihrer Stadt, die wie jede Stadt in der Region um ihre Schulen, Kindergärten, Sportstätten kämpft, bald wieder drei Kinder weniger sein werden.

Die Abschiebung wird wohl nicht dem Buchstaben des Gesetzes widersprechen. Es passt aber nicht zusammen: Die menschenleeren Kleinstädte in Mecklenburg und die Tatsache, dass eine Familie mit drei Kindern, die ihren Lebensunterhalt selbst verdient, in so einem Städtchen nicht mehr leben darf.

Montag, 6. Februar 2012

Empörungsrituale II

Ich dachte weiter über den Kommentar nach. Wie der Kommentator sehr darüber empört war, dass die rituell aufgeregten Israeli den Bischöfen unterstellten, „Ghetto“ gesagt zu haben. Dabei hätten sie doch nur „ghettoähnliche Mauer“ gesagt! Ich überlegte, welchen Unterschied es wohl zwischen einer Ghettomauer und einer ghettoähnlichen Mauer geben könnte und stellte mir vor, wie in Journalisten- in Bischofs-, Historiker- und Politikerschulungen unterrichtet wird, was der Unterschied zwischen Ghetto und ghettoähnlich ist und wie, bei wem und in welchem Zusammenhang dieser oder jener Begriff anzuwenden sei. Und dachte auch, dass ich den Begriff Ghetto nur im Zusammenhang mit Juden kenne. Vielleicht hat der Bischof den Ausdruck ghettoartig verwendet, weil er der Meinung war, ein richtiges Ghetto zieme sich nur für Juden.

Ob aber Ghetto oder ghettoartig, was Mauern sind, das weiß der Bischof, weil er selbst dabei ist, eine Mauer zu bauen. An dieser Mauer bauen sie alle. Daran arbeiten Bischöfe, Journalisten, Schriftsteller, Historiker, Politiker mit Erfolg: Um alles, was Juden, was die Vernichtung der Juden, und auch was den Staat der Juden betrifft, wird geistig eine „ghettoähnliche Mauer“ gezogen. Mit Worten und Begriffen wie „Empörungsritual“, „Auschwitz- und Antisemitismuskeule“, „Bombenholocaust“, (ein Ausdruck, den Neonazis sinnigerweise und im gleichen Geist hinzufügten) und weiteren Spitzfindigkeiten, wird an einer Mauer gebaut, die neimand durchbrechen darf ohne sich lächerlich zu machen.

Aber auch mit Begriffen wie Vergangenheitsbewältigung, Wiedergutmachung, Holocaustgedenken. Mit der Empörung und dem Beleidigt-Sein, womit alles quittiert wird, was nur im Geringsten als eine Anspielung auf die Taten der Deutschen in der Vergangenheit gedeutet wird. Mit den Lügen, die behaupten, deutsches Leid habe nie thematisiert werden dürfen. Mit der großen Entrüstung, wenn auf antisemitische Gedanken nur ein Anflug eines Antisemitismusvorwurfes geäußert wird. Mit dem Verlagern des moralischen Empörungspotentials nach Israel und der gleichzeitigen Behauptung, Kritik an Israel und Judenfeindschaft hätten miteinander nichts zu tun. Selbst solch verschwommene Floskeln wie „Man darf die Leiden nicht gegeneinander aufrechnen“ sind Bausteine der Ghettomauer, denn sie wissen wohl, welches Ergebnis wohl zustande käme, wenn man Leiden gegeneinander aufrechnen würde. Darum versuchen sie es zu tabuisieren.

Die Juden in einen ghettoähnlichen Raum zu sperren, in dem sie sich selbst nicht äußern dürfen, und denjenigen, die „draußen“ sind, die Deutungs- und Begriffshoheit zu übertragen, das möchten Bischöfe und Kommentatoren. Sie wollen die Lüge zementieren, sie sich festsetzen lassen, sich in den Gedanken der Menschen ausbreiten lassen. Warum, das weiß ich nicht, das verstehe ich nicht, so wie es nie jemand verstanden hat, der sich mit solchen Fragen beschäftigt hat. Aber Gedanken können Ghetto- und ghettoähnliche Mauern überfliegen, das vergessen sie dabei immer.

Im Luftreich des Traums

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