Deutschlandfunk brachte einmal (10.3.2007) einen Kommentar, der mich aus der Fassung brachte. Aus der Fassung bringt mich ab und zu immer etwas, und ich frage mich dann, ob ich empfänglicher geworden bin, denn in Wirklichkeit ist es nie etwas Neues, sondern schon oft Gehörtes. Es ist sozusagen die Luft, die mich umgibt. Allerdings, nur wenn ich bewusst hinhöre. Sonst sehe ich schöne Landschaft, Bäume, Kinder, freundliche Menschen. Trotzdem tönt halb unterschwellig, so wie die sich ins Unterbewusstsein schleichende Kaufhauswerbung, auch Schlimmes, und Böses in die Atmosphäre.
Der Kommentar hatte die Überschrift: „Empörungsrituale“, womit gemeint war, dass Juden oder Israeli sich immer so unverschämt verhalten, wenn Deutsche ihnen vorhalten, dass Israeli ähnlich handeln, wie die Deutschen zur Zeit des Holocausts. In diesem Fall war es Bischof Hanke, der auf einer Nahost-Pilgerreise die Lebenssituation von Palästinensern in den Autonomiegebieten mit der von Juden in Gettos während des Zweiten Weltkriegs verglichen hatte. Ich kann mir vorstellen, wie stolz derjenige war, der sich die Metapher „Empörungsritual“ erdacht hat. Er war allerdings zu dumm, um sich bewusst zu sein, dass seine Empörung über die Empörung der Juden oder Israeli genau jenem Ritual entspricht. Vielleicht war er nicht dumm, sondern einfach antisemitisch, aber beides geht ja Hand in Hand. Denn die antisemitische Grundhaltung trat deutlich zutage, z. B. in der Rechtfertigung, dass an den Bemerkungen der deutschen Bischöfe - die Mauer in Israel erinnere sie sehr an die Mauern des Warschauer Ghettos - allerhand d´ran wäre. Da frage ich mich, ob konsequenterweise die Tatsache, dass ein anderer Bischof (Lehmann) bereit war, die Bemerkungen seiner Amtskollegen ein wenig zurechtzurücken, dafür sprechen müsse, dass die Juden es wieder einmal geschafft haben, einen deutschen Bischof „zu Kreuze kriechen zu lassen“. Das wäre die Schlussfolgerung, die durch die Meinung des Kommentators hindurchschimmern müsste.
Ich habe später eine E-Mail an den DLF geschickt. Antwort bekam ich wie vorausgesehen nicht, da ein wenig Polemik in meinem Kommentar war. Polemisieren dürfen nur diejenigen, die die Hoheit darüber haben, also DLF, bei Anderen nennt man es „Empörungsritual“. Eine Freud´sche Fehlleistung, da der Gedanke daran sehr nahe liegt, wie man den Juden die Ritualmorde vorgeworfen hat. DLF-Redakteure sollten aber eine Vorstellung davon bekommen, dass es Menschen gibt, die ihre Kommentare hören und mitdenken. Aber nicht in der Weise, wie sie es sich vorstellen.
anne.c - 4. Feb, 16:41
Wieder kam von irgendwoher eine Statistik, die da angibt, wie viele Menschen in Deutschland antisemitisch sind. Allgemeines Entsetzen. Man sollte darüber nicht erschrecken, es wäre seltsam, wenn es nicht so wäre. Da muss man nur täglich Rundfunk, Fernsehen, Zeitung konsumieren. Nicht irgendwelche Blättchen, sondern die seriösen. Da wird schon eine Menge präsentiert.
Besser wäre es, eine Studie herauszubringen, was Antisemitismus ist, wie er in der Gesellschaft transportiert wird, aus welchen Komponenten er sich zusammensetzt. Überhaupt, wie er definiert wird. Oder umgekehrt wäre es vielleicht viel interessanter: Bei den Menschen, die sich als Antisemiten zu erkennen geben, versuchen zu ermitteln, welche ihre Beweggründe sind, aus welchen Quellen sie ihre Ansichten und ihr Wissen speisen, welchen psychologischen Hintergrund der Antisemitismus bei ihnen hat.
20 % sind eigentlich wenige. Ich glaube, in Wirklichkeit sind es mehr. Antisemitismus hat nämlich noch zwei Brüder: den Antijudaismus und den Antizionismus. Ich habe die Erfahrung gemacht: alle drei werden streng voneinander getrennt. Die Brüder behaupten, den großen Bruder nicht zu kennen, überhaupt nichts mit ihm zu tun zu haben. Ich denke, dass diese drei Brüder von einem Stamm sind, wie es nun mal bei Brüdern der Fall ist.
Gemeinsamkeiten haben sie viele. Das ist beispielsweise die übergroße Sensibilität sich selbst gegenüber auffällig. Die gleiche Grobheit, Verachtung bis hin zur Todesverwünschung, die sie gegen Juden, bzw. gegen die Religion der Juden oder gegen Juden in Israel haben, die verwandelt sich nach Innen in höchste Sensibilität. Wenn man einen der sich ähnelnden Brüder mit falschem Namen anredet, gerät er außer sich. Der Name Antisemitismus ist tabu. Darum ist auch die Prozentzahl 20 relativ niedrig, denn die meisten Menschen, die Juden nicht mögen, verwenden andere Namen für ihr Unbehagen. Mir kommt es so vor, als hätte der Bruder Antisemitismus einen geheimnisvollen, vom Unheil umwehten Ruf. Seine Brüder bewundern ihn, wollen aber nicht so gern in der Öffentlichkeit mit ihm gesehen werden. Der bewunderte Bruder bekommt nämlich immer einmal von diesem oder jenem Menschen einen kräftigen Schlag. Mit der Antisemitismuskeule. Obwohl sie den Bruder sehr bewundern, mit welchem Stoizismus er die Schläge hinnimmt - er scheint darunter auch nicht allzu sehr zu leiden -, schadet es ihrem Ruf, wenn ihr Aussehen allzu sehr von der Keule zerzaust wäre. Es wäre ihnen peinlich. Darum sind sie immer auf der Lauer, ob auch nur eine Andeutung auf diesen verfemten Namen herauszuhören wäre. Sie haben ein perfekt nuanciertes Vokabular hinsichtlich der Kriterien, welcher Name wann und wo verwendet werden darf oder auch nicht. Wenn es nicht passt, schlagen sie mit der Antisemitismuskeule zurück. Die wird nämlich ebenso gern, wenn nicht noch lieber in die andere Richtung geschwungen.
anne.c - 26. Jan, 22:56
Bundespräsident Wulff hielt eine Rede zur Wannseekonferenz. Und die interessiert mich eigentlich mehr als seine „Verfehlungen“. Manches fand ich bedenklich, auch wenn ich vermute, dass der Text von einem Redeschreiber geschrieben wurde. Aber er ist nun einmal der Redner.
Solche Reden finden sozusagen in einem geschlossenen, wenn nicht sogar abgedunkelten Raum statt, das heißt, sie haben wenig mit der Realität zu tun. Letztendlich werden sie zur eigenen Erbauung gehalten: Wie gut „gedenken“ wir doch! Sie schmerzen niemanden. Darum werden sie auch schnell wieder vergessen. Diese Reden muss man im Zusammenhang mit anderen Ereignissen und Aussprüchen sehen, erst dann ergeben sie einen Sinn.
Wenn man es sich vorstellt: Einen Tag davor drückte Wulff dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde die Hand. Dem gleichen Menschen, der behauptet, dass das was auf der Wannseekonferenz beschlossen wurde, auf eine Initiative der Juden selbst zurückgeht. Damit sie nämlich dank der Vernichtung eines Teils der Juden, einen Vorwand hätten, sich im Gebiet Palästina anzusiedeln. Dafür hat er seinen Doktortitel bekommen und er gilt als Intellektueller! Auch vermindert er in seiner Doktorarbeit die Zahl der umgebrachten Juden auf ein Sechstel, in Deutschland ein zu ahndendes Verbrechen. Es wäre eine gute Gelegenheit für Wulff gewesen, Herrn Abbas danach zu fragen und seine Antwort dann in die Rede einfließen zu lassen.
Auf der Wannseekonferenz wurde auch das Schicksal der Kinder von Bialystock beschlossen. Der 1.300 Kinder (von insgesamt sogar 5.000 Kindern), die einst, im Jahre 1943, für einen Austausch gegen deutsche Internierte in die Freiheit gelassen werden sollten. Wogegen der Mufti von Jerusalem, der bis heute von den Palästinensern sehr verehrt wird, Einwand erhob. Worauf man dann dieselben Kinder, die eine Zeit lang für den Austausch aufgepäppelt worden waren, auf bestialische Weise umbrachte. Zum Teil wurden sie wie junge Hunde erschlagen. Mir fällt dann auch ein, wie im Deutschen Pfarrerblatt jener Artikel stand, worin erklärt wurde, die Juden haben in Israel/Palästina nicht zu suchen, also ganz im Sinne des Mufti von Jerusalem. Ich glaube, wenn Bundespräsident Wulff in diesen Zusammenhängen gesprochen hätte, wäre es eine Rede mit ausreichend Diskussionsstoff gewesen. So bleibt es eine Rede zur Selbsterbauung.
Die Verbindung, die der Bundespräsident zur Zwickauer Neonaziszene in Bezug auf die Wannseekonferenz herstellte, halte ich auch für bedenkenswert. Es ist so, als wenn Privates und Gesellschaftliches miteinander vermischt werden. Auf der Wannseekonferenz wurde staatlicherseits die Ermordung von mehreren Millionen Menschen beschlossen. Nicht dass ich die Tötung von 10 Menschen durch ein hasserfülltes Trio als gering ansehen würde. Aber eine ganze Volksgemeinschaft stand nun nicht hinter den Mördern. Es hätte dann zumindest gesagt werden müssen, dass diese Mörder zwar für sich handelten, dass mit ihnen aber eine gewisse Partei sympathisiert, die der Staat nicht in der Lage ist zu verbieten. Im Übrigen erinnert mich die Erwähnung dieser Neonaziszene ein wenig an die Thesen des Antisemitismusforschers, des etwas fragwürdigen Professor Benz, die da besagen: Antiislamismus wäre der Antisemitismus von heute.
anne.c - 22. Jan, 17:44
Am Sonntag wurde von einer Fernsehmoderatorin irgendetwas nicht übermäßig Bedeutsames über Israel berichtet. Es ging um Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu. Aber in was für einem höhnischern Ton! Sie sagte: „Und das in einem Land, das sich immer rühmt, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein!“ Mir fiel ein, wie dieselbe Moderatorin – wenn es aus irgendeinem Grund dazu kommt, dass die Nachrichten etwas über Verbrechen der Deutschen im 2. WK bringen -, wie viele Journalisten die Angewohnheit hat zu sagen: "die Nationalsozialisten". Also nicht Deutsche haben Kriegsverbrechen begangen, es waren immer die "Nationalsozialisten". Wesen von einem anderen Planeten. Da ist große Distanz. Während, wenn es um Israel geht, höhnische, oft unsachgemäße Bemerkungen eingeschoben werden, die von innerem Engagement sprechen. Denn: Korruption und ähnliche Vergehen haben nichts mit Demokratie zu tun, und wie Korruption in einer Demokratie oder dagegen in einem Unrechtsregime behandelt werden, das weiß jeder. Und Israel ist nun mal die einzige Demokratie im Nahen Osten, ob es sich „rühmt“ oder nicht rühmt.
Ich weiß, dass es subjektive Eindrücke sein können, mit denen ich derlei spitze Untertöne wahrnehme. Man liest ja andererseits immer einmal, dass es Menschen gibt, die den Eindruck haben, die deutsche Presse gehe „wegen des Holocausts mit Samthandschuhen mit Israel um“. Aber allein subjektiv sind „subjektive Eindrücke“ nicht. Es gibt schon Maßstäbe und Kriterien für Subjektivität.
Diese kleine Szene hat überhaupt keine Bedeutung, außer dass sie exemplarisch ist. Diese nette Moderatorin von der man den Eindruck gewinnt, sie hat immer vor der Sendung schon ein wenig über den Nachrichten geweint: Auf dieser Stelle entfaltet sie beißende Ironie. Es fällt niemanden auf, es rauscht an den Ohren vorbei, doch immer bleibt ein wenig hängen. Und es ist nicht nur die nette Moderatorin, die sich Israel so streng vornimmt, diese Hatz ist – was die Medien betrifft – allgegenwärtig. Man soll sich bloß die Kommentare in den Blogs normaler, seriöser Zeitungen durchlesen, nachdem ein Artikel über Israel erschien. Nicht wenige Zuschriften werden schnellstmöglich gelöscht. Da ist der gewonnene Eindruck nicht mehr subjektiv, denn man liest Aussagen, die man objektiv gesehen als antisemitisch bezeichnen kann. Und die Journalisten haben damit nichts zu tun, ebenso wenig wie die Deutschen mit den Nationalsozialisten.
anne.c - 18. Jan, 14:03
Manche Leute werden sich noch an den 15. Januar 1990 erinnern. Manche auch nicht, weil „Wende“ für sie nur ein Synonym ist, das in jede Richtung gedeutet werden kann, und bei dem Details keine Rolle spielen. Aber die echten „Wendekenner“ wissen, dass es in diesen Tagen große Befürchtungen gab, es könne zu schwerwiegenden Rückwärtsbewegungen kommen, und die Stasi greife zu Mitteln, die ihnen die Macht zurück bringen. Diese Befürchtungen mobilisierten andererseits wieder die Revolutionäre jeglicher Art und gipfelten im Sturm auf die Stasizentralen.
Auch vor Ort war einmal wieder eine Demo geplant. Damals vermengten sich Akteure und Gegenakteure, Aktionen und Reaktionen, so dass es im Nachhinein schwer ist, alles zu entwirren. Fest stand jedoch, dass es hier wohl kaum jemanden gab, der glaubhaft war und der eine freie Rede halten könnte. Es gab nur Einen, den Pastor. Dieser Tatsache ist das Erblühen der Kirchenmänner zu Politikern in den damaligen Zeiten zu verdanken.
Also auch unser Pastor S. war gefragt. Obwohl er gerade eine Knieoperation hinter sich hatte und mühsam auf Krücken ging. Der 15. Januar war ein stürmischer, schneeloser kalter Tag. Das Volk wanderte durch den Ort bis es einen Hügel erreichte. Pastor S. bekam eine Laterne in die Hand gedrückt. Er erklomm den Hügel, und von da oben hielt er seine Rede an das Volk. Ihr Inhalt bestand hauptsächlich darin, dass wir „keine Gewalt“ anwenden wollen, dass wir besonnen sein, uns aber nichts mehr gefallen lassen wollen, und dass wir es auf keinen Fall dulden werden, dass die Stasi ihre Macht zurück gewinne.
Dieser Anblick: der Pastor auf Krücken mit der schwankenden Laterne auf dem düsteren Hügel – der war schon starker Eindruck und wir werden ihn unser Leben lang nicht vergessen. Gern höre ich zu, wenn jetzt, gut zwanzig Jahre später, Herr und Frau S. uns über diesen unvergesslichen Tag berichten. Herr S. erzählt so etwas gern in Form einer Anekdote. Wie er sich innerlich auf das abendliche Auftreten vorbereitete. Und da kam ein Anruf. Vom Rat des Kreises. Man spürt dann, wie sich Herrn S. damaliger jahrzehntelang eingeschliffener Respekt und seine Angst vor den damals hohen Herren mit der heutigen Erleichterung und der Freude am Erzählen mischen. Hinter seinem Rücken macht seine Frau ironische Gesten und erklärt den Zuhörern: „Er wurde so klein mit Hut!“ Auch Herr S. verbirgt nicht, wie „klein“ er wurde. Darauf sagte der Vertreter des Rates des Kreises am Telefon: „Wenn sie heute Abend die Demo machen, werden wir dafür sorgen, dass alle Wege frei sind und sie sich überall bewegen können“. Und damit war dann eigentlich auch klar, wie es mit der DDR bald enden wird.
anne.c - 14. Jan, 22:07
Der Deutschlandfunk macht seinem Namen alle Ehre. Wenn man eine halbe Stunde lang politische Berichterstattung im DLF hört, bekommt man folgendes Weltbild: Es gibt ein Land, von dem geht alles Schlechte und Böse in der Welt aus: Das sind die USA. Es gibt ein Land, das der Welt Frieden und Wohlstand bringt: das ist Deutschland. Wenn es außer von den USA noch Böses auf der Welt geben sollte, dann ist dieses Böse die Reaktion auf das Böse der USA. Weiterhin gibt es ein ominöses böses Land: Das ist Israel. Die Rolle Israels wird im Zwielicht gehalten, weil man nicht genau entscheiden kann, wie man es darstellen soll. Ist Israel nicht überhaupt die Voraussetzung für alles Böse der USA, bestimmt nicht Israel die amerikanische Politik? Da hält man sich bedeckt und arbeitet nur mit Andeutungen, denn irgendwie ahnt man, dass man Reaktionen herausfordern könnte, die zwar das beinhalten, was man selbst denkt, die aber aus einem Grunde nicht nach außen dringen sollen. Denn dann müssten die Redakteure des DLF krampfhaft bemüht sein, die Reaktionen wieder einzudämmen, die sie selbst hervorgerufen haben. So bei einer Sendung, als unvermittelt bei einer telefonsichen Diskussion über den grausamstem und einzigen Geheimdienst der Welt (CIA) ein Zuhörer sofort dahin sprang, wohin der DLF seine Zuhörer (z. B. durch unmittelbares Aneinanderreihen von „Grausamkeiten“, die von diesen beiden Ländern ausgehen in ihren Nachrichtensendungen) führte: Er wechselte vom Kriegsverbrecher Busch direkt zu den zionistischen Räubern in Israel. Das „Rudern“ der Redakteurin war durchs Radio hindurch zu spüren. Sie ruderte mit Worten so angestrengt, dass ich im Geist ein treibendes Ruderboot in einem reißenden Fluss vor mir sah.
anne.c - 7. Jan, 16:07
Es ist so viel von den Vertriebenen die Rede. Dabei gibt es so gut wie keine mehr. Es leben zwar noch Leute, die als Kinder und junge Leute vertrieben worden waren, aber sie haben fast nichts gemeinsam mehr mit den Vertriebenen meiner Kindheit. Manchmal höre ich noch Anklänge an einen Dialekt, und die alten Sudetendeutschen und Schlesier sind immer noch heraus zu erkennen. Aber das sind wirklich die ganz Alten.
In meiner Kindheit war ich von Vertriebenen umgeben, das ist mir erst heute richtig bewusst. Es ist mir auch erst als Erwachsene klar geworden, was für ein Reichtum in dem damaligen Leben unter den Vertriebenen lag. Die Dialekte, die verschiedenen Verhaltensweisen, die Erzählungen, die Namen der Orte, von denen sie redeten. Es war mir nicht im Geringsten bewusst, was es bedeutete, ein Vertriebener, ein Flüchtling zu sein. Aber ich habe sie wahrgenommen. Ich war umgeben von Reden über Krieg und Flucht. Von Vertreibung war übrigens nicht die Rede, ich hörte immer nur von Flucht. Und vom Krieg. Wenn Männer miteinander herumrum standen, sprachen sie über den Krieg und nannten verschiedene Orte und Dienstgrade. Was heute immer behauptet wird: Man habe nur geschwiegen, und man habe darüber nicht reden dürfen, das ist Erfindung und Lüge, um die Vergangenheit und deren Folgen in einem anderen Licht darstellen zu können.
Sicher verschwieg man auch in privatem Reden vieles. Nie habe ich eine Frau erzählten hören, dass sie vergewaltigt wurde. Womit ich als Kind wohl auch wenig hätte anfangen können. Auch die Legendenbildung begann damals schon: Man hbe ja nichts gewusst! Ein Ausdruck, den ich öfter hörte war: Die haben sie weggeholt... Dann ging es um Juden. Mehr sagte man dazu nicht, da herrschte schon das Tabu.
Aber dass die Leute nicht von ihrer Flucht geredet hätten: Das ist lächerlich. Nichts fand ich spannender als diese Geschichten. Für mich gab es erst einmal keinen Unterschied zwischen Einheimischen, Vertriebenen, Menschen die im Krieg waren oder nicht. Trotzdem habe ich mitbekommen, dass die Vertriebenen die interessanteren Menschen waren. Es sind diejenigen, die meine Kindheit emotional sehr bereichert haben. Was zwischen diesen Menschen und den Einheimischen vor sich gegangen war, davon hatte ich keine Ahnung und bekam davon auch nichts mit. Das offenbarte sich mir viel später, als ich dann über manches Fluchtschicksal bewusst hörte. Ich fand es immer den schlimmeren Teil der Fluchtgeschichte: Wie hartherzig diejenigen behandelt worden waren, die alles verloren hatten. Wie sie von den Landleuten, die im Krieg geschworen hatten, als „Volk und Schicksalsgemeinschaft“ zusammen zu halten, nun wie Aussätzige und Gesindel behandelt wurden.
anne.c - 5. Jan, 10:44
Ich möchte von vorherein und ausdrücklich betonen, dass ich nichts gegen „die Kirche“ habe und auch nicht Menschen, die einer christlichen Kirche angehören unterstelle, Vorurteile gegen Juden zu haben. Dafür kenne ich zu viele Christen (oder sagen wir mal: etliche), die ein herzliches und entspanntes Verhältnis zu Juden haben und die gemeinsam mit ihnen an Projekten arbeiten, seien es biblische, seien es Aufgaben, die sich mit der Vergangenheit und der Erinnerung daran befassen. Trotzdem bin ich immer wieder erstaunt, wie oft bei kirchlichen Veranstaltungen, gelinde gesagt, „schräges Zeug“ über Juden (oder Israel) zu hören ist. Behauptungen, die einfach falsch sind, auch Unterstellungen und Falschinterpretationen. Ich möchte hier weniger das aufschreiben, was jeder den Medien entnehmen kann, sondern das, was ich selbst erlebte und hörte.
Und ich war tatsächlich dabei, als eine junge Pastorin, noch nicht lange von der Universität gekommen, der Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide bei einem Seminar ins Gesicht sagte: „Die Juden haben Jesus ans Kreuz geschlagen!“ Frau Lapide war um eine scharfe Antwort nicht verlegen.
Und ich war in einem Gottesdienst, bei dem Pastor W. ohne Skrupel sagte: „Nach dem Gesetz des Alten Testaments gilt die Regel: Auge um Auge. Zahn um Zahn. Diese Regel hat irgendwie noch eine Berechtigung. Heutzutage wären die Palästinenser froh, wenn man sie nach diesem Gesetz behandelte, doch die Israeli überziehen für einige nicht treffende selbst gebastelte Sprengkörper Gaza mit Bombenteppichen.
Und ich war in der Bibelstunde, als Pfarrer R. zu einem x-beliebigen Thema auf einmal die Bemerkung anfügte: „Es hat auch seine Schattenseiten, dass die Juden sich als das erwählte Volk betrachten. Zum Beispiel haben sie eine Mauer quer durch Jerusalem gebaut. Ich fragte: „Meinen sie, dass die Israeli diese Mauer wegen ihres Erwähltseins gebaut haben oder könnte es auch mit der Sicherheit zu tun haben?“ Mit einer gewissen pastoralen Herablassung sagte er: „Ach, liebe Frau, was wissen sie schon!?“ Ich sagte: „Ich möchte nur wissen, meinen sie das wirklich so? Sind ihnen in die Luft gesprengte Israelis lieber als eine Mauer? “, und gleich fiel dem zweiten anwesenden Pfarrer ein, dass es doch eigentlich Zeit sei, den Abend zu beenden, so dass prompt der abendliche Segen erfolgte, zufällig ein Segen aus dem Alten Testament, der aaronitische.
anne.c - 31. Dez, 16:17