Holocaustgedenktag 2024

Seit vielen Jahren ist es ein jährliches Ritual für mich, am 27.1. ins nahe Städtchen zu fahren, um an einer Holocaust-Gedenkstunde teilzunehmen. Auch wenn so etwas von manchem als leeres Ritual empfunden wird, als eine stereotype Kranzablegung. Das kann es durchaus sein. Besonders bei staatlich-offiziellen Veranstaltungen mag das der Fall sein. Aber was wäre, wenn es diese Rituale nicht gäbe? Wenn ich mit unserer kleinen Schar am Mahnmal in der kleinen Stadt stehe, stelle ich mir vor, wie viele Menschen dort in den Häusern sind, und sich nicht im Geringsten für die Gedenkstunde interessieren. Schon das ist eine Motivation, daran teilzunehmen. Außerdem bin ich neugierig, wie so etwas stattfindet, wer dabei ist, welche Beweggründe er dazu hat. Gerade in so einer kleinen Stadt, wo die Menschen sich kennen, ist das gut möglich.

Jedes Jahr am 27. Januar findet sich also eine kleine Schar von Menschen am Mahnmal des ehemaligen KZ-Außenlagers des Städtchens zusammen. Man ist wie eine Familie, die sich einmal im Jahr zum Familientag trifft. Die Schar der Teilnehmer ist geringer geworden, viele sind zu alt oder gar gestorben. Meistens wird die Kundgebung von dezenter Musik oder von Klezmermusik beschallt. Reden werden gehalten, Kränze an der Stelle wo viele Häftlinge begraben sind, und wo sich heute künstlerische Stelen und Namenstafeln befinden, niedergelegt.

Mahnmal

Der Bürgermeister der Stadt begann die Veranstaltung mit einer Rede. Er war ein distinguierter, recht sympathischer Herr, er wirkte glaubwürdig. Er sprach sehr persönlich zu den Leuten: schwer wäre ihm die Rede gefallen, eine schlaflose Nacht hätte sie ihn gekostet, seine Rede wäre ihm ein wichtiges Anliegen. Dabei könne er von sich behaupten, dass seine Familie in keiner Weise ins Nazigeschehen involviert gewesen sei, wenngleich Vater und Großeltern, nahe beim KZ Ravensbrück wohnend, sehr genau mitbekommen haben, was für schlimme Dinge damals geschehen sind. Er sprach von den „schlimmen Dingen“, die ja auch dieses Städtchen nicht unberührt gelassen haben, und es wäre sehr schlimm, dass nun schon wieder Schlimmes in Israel geschehe. Und auch in Gaza. Das, was in Gaza geschieht, wäre unverhältnismäßig

Dann betonte der Bürgermeister seine „bewusst christliche Haltung“, und aus dieser heraus müsse er sagen, dass man nicht nach dem Spruch. „Auge und Auge, Zahn um Zahn“ handeln darf. Man soll Versöhnung anstreben. Die Verurteilung des Rachegedankens (wie er es meinte) beschäftigte ihn sehr, er widmete ihm mehrere Sätze. Wie er die Rede beendete, weiß ich nicht mehr, denn ich war zu konsterniert. Das am 27.1.2024 ! Die Rede wurde mit verhaltenem Schweigen quittiert, was daran lag, dass wirklich nur wenige, ca. 40 Personen, der Rede zugehört hatten.

Später sprach der Pfarrer – mehr so in philosophischer Weise – und erwähnte einen Satz von Alexander Mitscherlich (in Abwandlung von Hölderlin), in dem vorkommt: „Die Deutschen sind Denker, aber keine Menschen“. Ich flüsterte meinem Begleiter zu: „Der Bürgermeister ist ein Mensch, aber kein Denker!“

Das muss man sich vorstellen: am Holocaustgedenktag, der dazu da ist, nicht zu vergessen, was einst Schreckliches Juden angetan wurde, belehrt der Redner die Juden, dass sie sich nicht wehren dürfen, dass sie alles über sich ergehen lassen müssen. Und das nach diesem Massaker, nach dieser furchtbaren Verwundung des Staates Israel. Man kann die Rede als eine Ermunterung zu einem neuen Holocaust interpretieren! Dazu der Hinweis, dass die Juden mit dem Gedanken der Rache leben (Auge um Auge), und da müssen wir ihnen sagen, dass wir als Christen da ganz anders handeln. Davon abgesehen hat er, auch wenn er sein Christentum betont, keine Ahnung, was diese Aussage „Auge um Auge“ bedeutet, nämlich damals die Abkehr von der Blutrache.

Alles, was er sagte, sagte er in tiefem Ernst, so wie jemand, der nach reiflicher Überlegung zu hehren Gedanken gekommen ist. Die Rede war ein eindrucksvolles Beispiel, wie jemand, der wohl kein böser Mensch ist, den Geist des Antisemitismus in sich aufnimmt und auch weiter verbreitet. So funktioniert es! Und dem Bürgermeister, der in einer schlaflosen Nacht nachgedacht hat, dem war nicht bewusst, dass er gar nicht gedacht hat, sondern dass „es in ihm gedacht hat“. Wirklich ein Musterbeispiel.

Später trat eine Bekannte auf mich zu, um mich zu begrüßen. Mit einem Blick auf meinen Israel-Aufnäher auf der Jacke, sagte sie spontan: „Du bist mit der Rede vom Bürgermeister doch sicher nicht einverstanden!“ , was ich bestätigte. Das heißt: Die Botschaft war eindeutig und gut erkennbar.

Warum ich nach dieser Rede ruhigblieb und nicht widersprach? Ich musste die Rede erst einmal „verdauen“, mir bewusst machen, was er da eigentlich gesagt hat. So kann ich nur mit einiger Verspätung auf die Rede reagieren.

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