Die Erlebnisse, die ich in diesem Blog schildere, sind aus dem eigenen Erleben oder aus dem meiner Bekannten. D.h., ich kann sie nicht wissenschaftlich belegen, ich bin keine Historikerin und habe keinen Zugang zu Akten und Archiven. Allerdings glaube ich, dass vieles, was in der DDR geschah, nicht in Gesetzesform gegossen war, vielleicht auch regional verschieden gehandhabt wurde.
Meine Bekannte erzählte mir vor Kurzem sehr anschaulich, wie ihr Sohn (Jahrgang 1975) in der dritten oder vierten Klasse für die NVA (Nationale Volksarmee) geworben wurde. „Zwei Lehrerinnen kamen zu uns, und wie die uns bearbeitet haben! Er hätte dann viel schlechtere Bildungschancen oder keinen Zugang zum Hochschulstudium. Und er müsse, wenn er studieren will, ja sowieso 3 Jahre zur Armee, da könnten sie doch schon jetzt die Entscheidung treffen“. Die Familie hat sich geweigert, die Entscheidung war ihnen zu weit reichend, und später wurde sie sowieso obsolet.
Die Hypothese, dass man nur studieren darf, wenn man sich für eine 3-jährige Dienstzeit bei der NVA verpflichtet (im Gegensatz zum nur 1 1/2 -jährigen Pflichtwehrdienst), war allgemein verbreitet und wurde auch allgemein angewandt, jedenfalls für begehrte Studienrichtungen. Aber nicht immer. Ich kenne sogar Leute, die Medizin studiert hatten, trotz nur 1 ½ Jahre Armee. Es hing sehr vom Einzelnen ab, von seiner Durchsetzungsfähigkeit und Hartnäckigkeit. Manchmal hing der Zugang zum Studium auch nicht von der Wehrdienstdauer ab, sondern von der Bereitschaft, sich für bestimmte Dinge zur Verfügung zu stellen. Aber auch das musste nicht sein, man sollte immer den Einzelfall kennen.
Das übergroße Interesse, junge Leute in die Armee zu pressen, war allumfassend in der DDR. Da war der Wehrkundeunterricht, der ab 1978 allgemein und für jeden verbindlich in die Schulen eingeführt wurde. Auch da gab es einige Hartnäckige, oft aus christlichen Elternhäusern, die sich weigerten, daran teilzunehmen, und jeder hat dabei seine eigene, besondere Geschichte erlebt.
Studenten erzählten mir, mit welch Methoden Theologiestudenten genötigt worden waren, an der vormilitärischen Studentenausbildung teilzunehmen. Die Theologiestudenten, die damals für ihre Haltung „Friedenschaffen, ohne Waffen“ bekannt waren, wurden durch eine raffinierte Methode unlösbar mit den jahrgangsmäßig gleichen Studenten anderer Fachrichtungen verquickt, und nicht nur dass, sondern auch mit deren Karrierechancen, so dass ein anständiger Theologiestudent die vormilitärische Ausbildung nicht verweigern konnte, weil er anderen, ihm unbekannten Studenten damit schadete.
anne.c - 22. Nov, 17:47
Die gerichtliche Verurteilung fand in Rostock statt. Es war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Gerichtsverhandlung ohne Publikum stattfindet, die Urteilsverkündung musste aber öffentlich sein. Rechtsanwalt Schnur hatte erwirkt, dass die Mutter bei der Verhandlung anwesend sein darf. Wir anderen Angehörigen wollten zur Urteilsverkündung dabei sein. Die Verhandlung wurde auf den frühen Morgen gelegt, wohl in der Annahme, dass es schwierig wäre, ohne Auto so früh in Rostock zu sein. Wir waren pünktlich zur Stelle, mussten dann aber zur Kenntnis nehmen, dass das Gerichtsgebäude erst ab 10 Uhr für die Öffentlichkeit geöffnet war. Das hieß, wir hatten keine Chance, der Verkündung beizuwohnen, trotz gesetzmäßigem Anspruch.
„Er müsste doch gleich mit dem Transportauto gebracht werden. Komm, wir stellen uns an den Hintereingang“, sagte ich. Auch wenn die Methoden der Stasi sonst sehr ausgeklügelt waren, so war ein Gerichtsgebäude nicht so beschaffen, dass es hermetisch dicht war. Der verrumpelte Hinterhof lag ohne Zaun und Eingangstor offen da (vielleicht waren auch Zaun und Tor da, aber alles stand offen). Der Transporter kam auch sofort, und mein Bruder stieg in Handschellen gefesselt aus. Wir johlten und riefen: „Wir sind da, lass dich nicht klein kriegen“, und schon war er im Gebäude verschwunden. Wir wollten diese Zeremonie wiederholen, wenn er das Gerichtsgebäude wieder verlässt. Der Transporter wartete, jemand versuchte uns zu verscheuchen, was nicht möglich war, da wir auf offener Straße standen. Es fuhr ein weiteres Auto vor, und ich sagte: „Wenn sie ihn jetzt ´rausbringen, könnten wir ihn nicht sehen“, denn das Auto verdeckte genau die Lücke zwischen Tür und Transporter. Wir hörten eine Tür klappen, und uns wurde klar, dass dieses Auto genau zu diesem Zweck dorthin geordert worden war.
Der Transporter machte sich auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis zurück. Da saßen wir am längeren Hebel, denn der Ausgang des Gerichts mündete auf eine vielbefahrene Straße, und um diese Zeit war besonders viel Verkehr. Der Fahrer musste lange warten. Wir trommelten auf das Auto, riefen dem Gefangenen Mut zu und freuten uns über die Nervosität des Fahrers. Bald konnte er um die Ecke biegen, und bald kam auch unsere Mutter aus dem Gerichtsgebäude. Sie erzählte, dass M. wegen „versuchter Republikflucht“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.
anne.c - 16. Nov, 21:53
Es ist noch nicht lange her, da wurde meine alte Mutter ins Kino eingeladen in den Film „Das Leben der anderen“. Ich habe sie selten so wütend erlebt wie nach dem Film: „So ein Schund! So war die Stasi nicht, das hatte nichts mit der Stasi zu tun, ich kenne die doch!“
Wir rekonstruierten die Zeit als mein Bruder M. zum Stasiopfer wurde. Mein 26-jähriger Bruder wohnte im Jahr 1980 in Ostberlin. Auf der Durchreise wollten wir ihn besuchen, fanden aber seine Wohnung von der Polizei versiegelt. Uns schwante nichts Gutes. Bald darauf wurde meine alleinstehende Mutter mehrmals von der Stasi wegen ihres Sohnes verhört. Sie hatte keine Angst vor der Stasi, bekam aber genügend Gelegenheit, sich mit deren Mentalität und Gepflogenheiten bekannt zu machen. Mein Bruder wurde wegen des Vorhabens der Republikflucht angeklagt. In Wirklichkeit hatte er keine konkreten Fluchtpläne, lebte aber ein unstetes Leben und gehörte zu der Sorte Mensch, die die DDR gern losgeworden wäre. Da war es sinnvoll, das Gute mit dem Nützlichen zu verbinden. Man verhaftete also so einen Menschen unter irgendeinem Vorwand und ließ ihn dann von Westdeutschland für viel Geld freikaufen.
Vieles, was die Stasi unternahm, war willkürlich, es lief aber alles formal nach bestimmten Gesetzlichkeiten ab. So fanden sich einige
„gute Freunde“, die Spitzelberichte schrieben welche beinhalteten, dass mein Bruder und ein Kumpel mit einem langen Seil Lasso werfen geübt hatte, um mittels des Seils, das in Berlin von Osthaus zu Westhaus geschwungen werden sollte, von Ost nach West zu gleiten. Das war völlig verrückt, aber das Denken junger Leute in der DDR kreiste damals sehr um das Thema: `wie könnte ich „abhauen“?´ Die Übung hatte tatsächlich stattgefunden, und das Seil gab es auch. Die Beweislage musste zu einem gerichtsverwertbaren Prozess zusammen geschustert werden. Der Bruder saß 6 Monate in Stasiuntersuchungshaft, um dann nach einer Gerichtsverhandlung noch 4 Monate im „normalen“ Gefängnis zuzubringen. Anschließend wurde er in den Westen (für viel Devisen) abgeschoben.
(Lustig sind dabei Details: wie der Bus mit den etwas verlottert angezogenen Ost-Verlassenden einen Extrahalt einlegte, alle sich ihrer Kleidung entledigen mussten und in DDR-Dederonanzüge gesteckt wurden, damit man sieht, wie „anständig“ die DDR ihre Bürger ziehen lässt. Die Anzüge riefen bei ihren Trägern große Empörung hervor. Mein Bruder erzählte uns auch die Redewendung, dass man zu Gefangenen, die aus welchen Gründen auch immer, sich entschlossen hatten, doch im Osten zu bleiben, sagte: „Er macht den Zonenstich“, eine Metapher die bald in unseren Sprachschatz einging).
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 11. Nov, 13:20
Am Ende des kleinen Parks in unserer Nähe stand über viele Jahre ein Schild mit dieser Aufschrift. Warum es gerade an dieser unauffälligen Stelle stand, kann wohl niemand erklären. Ein Plakatmaler hatte es gemalt, es wurde aufgestellt, und danach wurde es von niemanden mehr beachtet. Von mir auch nicht, obwohl ich fast täglich an ihm vorbei ging. Ich hätte es wenigstens fotografieren sollen, damit man in späterer Zeit einen Beweis hätte, dass es einmal vorhanden war. Man hätte sich Gedanken machen können, was das Schild für eine Aussage hat: ´allmächtig, weil wahr´, scheint mir gedanklich nicht schlüssig. Ob Sozialismus oder auch nicht. Ich denke, Schilder jener Art sollten die Leute darauf hinweisen, dass man an vielen Stellen in diesem „allmächtigen und darum wahren“ Sozialismus mit Absurdem konfrontiert wurde, worüber man einfach nicht nachdenken sollte.
Auch stelle ich mir vor, dass im Laufe der Jahre einige Millionen Kinder mindestens einmal in der Woche, meistens öfter, laut ausgerufen hatten: „Immer bereit!“, wenn ihnen zuvor die Formel „Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“ vorgesagt, meistens vorgebrüllt, wurde. Ob diese jetzt Erwachsenen noch einmal daran denken? Und die vielen Jungs, damals in der vierten Klasse, die sich im Alter von 9 Jahren verpflichtet hatten, mit 18 Jahren für drei Jahre in die Nationale Volksarmee einzutreten. Ob sie manchmal an diese Verpflichtung denken? Um die Verpflichtung von Kindern für die Nationale Volksarmee wurde ein ungeheures Theater veranstaltet. Jedes Jahr auf´s Neue mussten Klassenlehrerinnen Eltern aufsuchen, um sie zu überreden, ihrem 9-jährigen Jungen die spätere 3-jährige Verpflichtung zur Armee abzuringen. Sowohl Lehrer als auch Eltern nahmen die Prozedur ernst. Die Klassenlehrerin musste nachweisen, dass ein gewisser Prozentsatz der Jungs sich verpflichtet hatte. (Ich denke, so 20 % waren angepeilt). Die Eltern schafften es meist erfolgreich, sich dagegen zu wehren, entweder mit Ausreden, Hinhalten oder auch mit einer heftigen Auseinandersetzung. Dass so eine Verpflichtung selbst im allmächtigen Sozialismus rechtlich nicht bindend sein konnte, wussten sowohl Lehrer als auch Eltern, trotzdem wurde das Spiel von den meisten mitgespielt. Ein gewisser Prozentsatz derjenigen, deren Eltern unterschrieben hatten, fühlte sich vielleicht später für eine Armeeverpflichtung genötigt. Und wenn nicht: der Klassenlehrerin war es vollkommen egal, sie war ja nicht mehr zuständig. Trotzdem war es ein wichtiges Ritual, pünktlich zu Ende der vierten Klasse eine gewisse Anzahl Armeeverpflichtungen nachweisen zu müssen.
Die Armeeverpflichtung 9-jähriger Jungs war ebenso absurd wie das Aufstellen von Schildern mit leeren Parolen. Das Leben in der DDR war durchzogen von absurden und leeren Ritualen und Parolen. Sinnlos waren sie nicht, denn sie hatten den Zweck, unbotmäßige Menschen auszusortieren. „Feinde des Sozialismus“ gaben sich etwa zu erkennen, indem sie ein Schild abmontierten oder beschmierten (in solchen Fällen lief die Fahndung auf höchsten Touren), und wenn man den Feind entdeckte, so hatte man wieder einmal beweisen können, dass der Sozialismus allmächtig ist.
anne.c - 5. Nov, 11:30
Es muss geistige Bezüge zwischen der Hizbollah und der Redaktion des Deutschen Pfarrerblattes geben, denn sonst hätte sich die Terrororganisation nicht die Mühe gemacht, ausgerechnet einen Artikel dieses Blattes auf ihre Internetseite zu stellen. Der legendäre Artikel des legendären Alt-Testamentlers, Dr. Vollmer, hatte vor 9 Jahren für viel Aufregung gesorgt und auch eine heftige Kontroverse hervorgerufen. Für mich war es der Anlass, dieses
Blog zu beginnen. Der Artikel ist eine einzige Schmähschrift auf den Staat Israel. Wer den Artikel von Dr. Vollmer noch einmal lesen möchte, kann dies auf der deutschsprachigen
Internetseite der Terrororganisation Hizbollah nachlesen.
Dem Deutschen Pfarrerblatt ist zuzugestehen, dass es mehrere theologische Experten zu Wort kommen ließ, die kontrovers zu Dr. Vollmer reagierten, und diese Reaktionen wurden wiederum nicht auf der Internetseite der Hizbollah wiedergegeben. Trotzdem: Der Geist war wieder einmal aus der Flasche gekommen. Im Geist der Hizbollah spukt er weiter. Und in den Geistern mancher Pfarrer und Bischöfe spukt er weiter, indem sie z.B. durch die Lande ziehen und
Vorträge halten, , die zum Ausdruck bringen, dass „Gott sich nicht an ein Territorium bindet“, „dass Land keine Erlösung bringt“ und dass es Menschen gibt, die einer „Überidentifizierung mit dem Holocaust“ erliegen. Kurz gesagt: dass Juden in Israel nichts zu suchen haben.
anne.c - 20. Okt, 21:14
In einem Kurort in unserer Gegend wird jährlich eine Buchmesse veranstaltet, bei der regionale Verlage ihre Neuerscheinungen und in der Region ansässige Schriftsteller ihre Werke vorstellen. Es war im Jahr 2011, als ich mir das Programm ansah. Ein junger Schriftsteller, Sohn eines in der DDR populären Verfassers von Politthrillern, hatte die Ereignisse rund um den 11.9.2001 recherchiert und gab sie hier der Öffentlichkeit unter dem Titel "Inside 9/11" bekannt. Ein junger Mann von hier, Sohn unserer Landschaft, in diesem Metier! Die Lesung wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich fuhr früh los, damit ich rechtzeitig einen Sitzplatz bei der Lesung bekomme. Ich hatte dann aber Schwierigkeiten mit dem Parkplatz und traf erst minutengenau in der Messehalle ein. Es war das verlängerte erste Oktoberwochenende. Im Ort wimmelte es von Menschen. Ein Künstlerort. Dementsprechend wirkte das Publikum. Künstler, Kunstinteressierte oder Menschen, die sich gern im künstlerischen Flair bewegen.
Die Messehalle hatte einen kleinen abgetrennten Raum für Lesungen. Ich fragte am Einlass, ob die Veranstaltung hier stattfindet und ob man Eintritt zahlen müsste. Die Dame dort sagte etwas verlegen: „Eigentlich ja….., aber setzen sie sich doch einfach da hin“. In einer Stuhlreihe saßen drei Personen, die unschwer als Angehörige des jungen Schriftstellers zu identifizieren waren. Und nun noch ich. Der Schriftsteller Paul S. kam. Er überlegte, ob er überhaupt anfangen solle. Dann trafen aber noch zwei Ehepaare ein, und so fand die Lesung statt.
Paul S. betonte, dass er keinesfalls eine Verschwörungstheorie zum 11.9. hätte. Er hätte nur Fakten zusammengetragen, und die Schlüsse daraus solle jeder für sich selbst ziehen. Man muss es Paul S. zugestehen, dass er recht gute rhetorische Fähigkeiten hatte. Die Lesung, die hauptsächlich die Lebensläufe von Donald Rumsfeld und Dick Cheney umfasste, und ihr Zusammenwachsen zu einer Art Connection in engster Verbindung mit der amerikanischen Öl- und Rüstungsindustrie war außerordentlich langweilig, und trotzdem las er so gut, dass man nicht einschlief und sogar ein wenig mitdenken konnte. Es gab deutliche Hinweise, dass seit Jahren darauf hingearbeitet wurde, in den USA eine Situation zu schaffen, die es ermöglichte, die Verfassung außer Kraft zu setzen. Ebenso war eine deutliche Linie zu erkennen, Vorwand für einen Krieg zu schaffen, damit die entsprechenden Industrien zum Zuge kommen können. Dass in solch einer Situation billigend der Tod vieler eigener Leute in Kauf genommen würde, hätte Tradition, denn so wäre es damals 1941 in Pearl Harbour auch gewesen, als der amerikanische Präsident schon im Vorherein vom Angriff der Japaner gewusst hätte, aber den Überfall als guten Anlass ansah, seinem „kriegsmüden“ Volk ein wenig auf die Sprünge zu helfen, was wiederum der Rüstungsindustrie auf die Sprünge half. Ob sowohl Pearl Harbour als auch 9/11 von den Amerikanern selbst erdacht und ausgeführt worden war, blieb unklar, denn das Motto der Schriftstellerlesung war: „Man kann es so sehen, man kann es aber auch so sehen, und seine Meinung muss sich jeder selbst bilden.“
Diese zweideutige Aufforderung wurde in der anschließenden Diskussion gern aufgenommen. Diskussion ist übertrieben, denn lediglich ein Mann aus der kleinen Besucherschar stellte sich als redseliger Experte heraus. Es war ein älterer korpulenter Herr, der sich schwer auf seinen Stock stützte, gekleidet in eine Art Rangeruniform mit einem Käppi auf dem Kopf, das unerklärlicherweise einen Anstecker mit einer britischen Flagge hatte. Es war ein Fachgespräch unter Gleichrangigen. Die Fakten flogen einem nur so um die Ohren: Flughöhen, Flugwinkel, Uhrzeiten……. Ein Stichwort gab das andere: „Kennen sie auch Andreas von Bülow?“ „Selbstverständlich. Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Unter Helmut Schmidt“. Das Gespräch war fast emotionslos, dafür aber sehr intensiv. Der korpulente Herr äußerte lediglich Bekümmerung über sich selbst. Denn er hätte so viel überlegt um seine eigenen Vermutungen zu entkräften, aber es wäre einfach nicht anders möglich. „Niemals hätte ein Fluganfänger diesen Winkel fliegen können…..“ und: „ 9.24 Uhr!! Das wäre doch absurd, dass Al-Quaida Interesse am Tod der vielen kleinen Leute gehabt hätte. Die hätten doch das Finanzkapital treffen wollen, und die ganzen Juden kamen doch erst nach 12 Uhr in ihre Büros!“ Paul S. hielt sich bedeckt, und wiederholte seinen Spruch: „Man kann es so sehen, …..“
Wohl wissend, dass es nach einer solchen Veranstaltung – egal wie sie verlaufen würde – nichts Schöneres geben kann als ein entspanntes, und nur privates Gespräch unter angenehmen Menschen, hatte ich mich anschließend bei Freunden zum Kaffeetrinken eingeladen. Der Kaffeetisch war schon gedeckt. Die einzigen Sätze, die dabei über die nachmittägliche Veranstaltung fielen waren: Ich hatte meine Verwunderung darüber geäußert, dass keine Einwohner des Ortes gekommen waren. Ich erhielt die Antwort: „Ach, die S., die sind hier im Ort sehr unbeliebt. Zu denen geht von uns keiner“.
anne.c - 14. Okt, 19:27
Vorläufige Beruhigung in die Versammlung brachte ein Ehepaar, das, angeregt von diesem Thema, über eine Lesung des Schriftstellers Chaim Noll, er ist der in Israel lebende Sohn des in der DDR sehr bekannten Schriftstellers Dieter Noll, berichtete. Aufmerksam geworden durch eine Zeitungsnotiz, waren sie zu einer Lesung von Chaim Noll gefahren und waren sehr befremdet über das, was sie dort erlebt hatten. Dass der Sohn von Dieter Noll s o aussehen konnte! Wie ein streng gläubiger Jude! Vor meinen geistigen Augen sah ich einen Menschen mit Schläfenlocken und Kaftan und war sehr erstaunt, als ich später im Internet das Foto eines ganz normalen Mannes sah. Das einzig ´Jüdische´ an ihm war eine Kippa. Sein Bart war kurz, nicht länger als Bärte, wie sie auch hier Männer tragen, seine runde Brille war so, wie sie hier in den 70/80-ger Jahren oft getragen wurden. Dieser Habitus hatte das Ehepaar schockiert, und die Lesung ebenfalls, denn er hatte über ein Selbstmordattentat in Israel gelesen. Selbstmordattentate von Palästinensern gab es gerade in jener Zeit in großem Ausmaß mit vielen Toten und Verletzten. Ich fragte, warum Herr Noll nicht über etwas hat lesen sollen, was er selbst erlebt hat. Eine direkte Antwort darauf bekam ich nicht, man hörte heraus, dass sich so eine Lesung nicht gehöre. Das sagten auch andere Teilnehmer. So bekam ich z.B. Antworten wie: „er hätte z.B. über den Frühling in Israel oder die Liebe eines Palästinensers zu einer Israelin“ lesen können. Warum gerade darüber? So etwas sollte man nicht ergründen wollen. Ich wunderte mich nicht über Konfusion und Aufregung, denn ich hatte die Erfahrung gemacht, dass solcherlei Diskussionen um Juden wie aus heiterem Himmel entstehen, sich wie ein plötzliches Gewitter entfalten und etwas verlegen wieder in sich zusammensinken. Beim genauen Hinsehen kann man meistens doch einen Menschen als Ursache entdecken, in diesem Fall diejenige, die das Buch als Diskussionsgrundlage ausgewählt hatte
(In einem anderen Fall, den ich beschrieb, war es ein
ehemaliger Verfassungsrichter, den man bei jeder Tagung, die mit Antisemitismus zusammenhängt, antreffen konnte, und der dabei jede Gelegenheit nutzte, ungefragt Vorträge über das „Unrecht der israelischen Besatzung“ zu halten, und der gleichzeitig – öffentlich – sagte, dass nichts ihn so sehr im Leben beschäftigt hat, wie der Gedanke an den Holocaust.)
Der Abend ging friedlich zu Ende. Da es keine These gab, die zu widerlegen oder zuzustimmen war, musste es auch keine Einigung geben, das Gespräch flaute einfach ab. Die folgenden Literaturabende verliefen friedlich, vielleicht weil in guter Absicht kein israelischer Schriftsteller mehr ausgesucht wurde.
anne.c - 4. Okt, 20:44
Es mag etwa 15 Jahre her sein, als sich in einer Stadt ein Literaturkreis gründete. Eine neu hinzu gezogene Frau wollte das kulturelle Leben der Stadt etwas bereichern (fast immer sind es die neu Hinzugezogenen, die solcherart Initiativen ergreifen), und warb in der Lokalzeitung um Teilnehmer für so einen Kreis. Ich dachte, es könne nicht schaden, wenn ich erfahre, was die Leute lesen und was sie darüber denken, und so wurde ich zu einer der ersten von anfangs zahlreichen Teilnehmern. Der Kreis bestand über lange Zeit. Die Entwicklung von einem offenen Kreis mit ´gehobenem Anspruch´, bei dem sich die Zahl der Teilnehmer nach und nach sehr reduzierte zu einer gemütlichen, festen und geschlossenen Truppe, wo man sich nach einem ausgiebigen Kaffeetrinken erzählte, was jeder so in letzter Zeit gelesen hat, wäre einer Erzählung Wert. Ich habe es nicht bereut, in jeder Phase dabei gewesen zu sein. Der Kreis hat mir sehr viele Eindrücke beschert.
Ob sich die Diskussion, von der ich erzählen möchte, am ersten oder an einem der folgenden Literaturabenden zutrug, weiß ich nicht mehr. Konzipiert waren die Literaturgespräche so, dass alle Teilnehmer, jeder für sich, ein bestimmtes Buch liest, und man beim nächsten mal darüber gemeinsam diskutieren sollte. Für den ersten oder zweiten Abend war das Buch „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amoz Os vorgeschlagen. Ob es Zufall war, dass der Vorschlag von einer Frau kam, die sich im Verlauf der Jahre als eiserne Palästinenserfreundin, und – man kann schon sagen -, Israelfeindin herausstellte, weiß ich nicht, aber es gibt auch unbewusste Zufälle. Das Buch - es trägt autobiographische Züge -, handelt von der tragischen Kindheit des Protagonisten. Die stand neben dem Selbstmord der Mutter im Zeichen der Gründung des Staates Israel und des unmittelbar darauffolgenden Angriffs arabischer Staaten auf Israel. Etwa die Hälfte der Leser konnte mit dem Buch nicht viel anfangen, da sie zu wenig geschichtliches Wissen über jene Ereignisse hatte. Manche Leute fanden das Buch als Roman spannend und ergreifend. Es kam jedenfalls eine rege Diskussion zustande. Mit Tuvia Tenenbom würde ich sagen: „Ich kann es gar nicht begreifen, dass wir schon wieder bei den Juden sind!“
Es kam, wie es kommen musste: Kein Jude war anwesend, aber der Kreis von gut meinenden und selbstgerechten Deutschen redete sich in Rage. Hier gab es, im Gegensatz zu
politisch korrekt organisierten Vorträgen keine haarscharfe Trennung zwischen `Juden` (über die man in getragenem Ton redet, etwas verlegen und: es war schlimm, damals!) und `Israeli´ (über die man sehr genau viel Nachteiliges und Böses weiß). Es geriet alles durcheinander. Ich glaube, die meisten waren sich nicht einmal bewusst, was sie sagten, denn ich hörte neben mir eine Frau sagen: „Ja, ich weiß auch nicht, warum die Juden für uns so ein rotes Tuch sind, wie sie da mit ihren Schiffen in´s Land eingefallen sind!“ Es gab kein gegenseitiges Antworten oder Argumentieren, es war mehr eine allgemeine Aufregung.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 28. Sep, 22:14