Die nächste Station ist Schottland. Hier, so hat Tuvia gehört, hat die „Church of Scotland“ gerade eine Streitschrift mit dem Titel „Das Erbe Abrahams“ herausgegeben, die besagt, dass Juden nichts ´Besonderes` wären und dass sie keinen Anspruch auf Israel haben. Der Anspruch der Juden auf Israel wäre Missbrauch der Bibel. So etwas kann sich Tuvia nicht ausgedacht haben, denn in unserer deutschen evangelischen Kirche gibt es eine ähnliche Schrift, herausgegeben vom deutschen Pfarrerblatt im Jahr 2011, die für mich übrigens der Anlass war, diesen Blog zu beginnen, und die eine einzige Schmähschrift auf den Staat Israel ist, voll mit Verdrehungen und Halbwahrheiten.
(Man kann den Artikel übrigens nachlesen auf der Internetseite der islamischen Revolution)
Weiterhin ist in Schottland gerade der Boykott gegen Israel aktuell beim berühmten Fringe Festival, dem größten Kulturfestival weltweit. Viele Personen aus dem Kulturleben, ja auch jüdische Personen haben sich dafür eingesetzt, dass keine israelischen Ensembles dort auftreten dürfen, und in diesem Jahr (2018) werden die Israeli tatsächlich ausgeschlossen. Warum sie; aber Gruppen aus z.B. China, Russland, Türkei nicht? Darauf weiß niemand eine Antwort, wobei sowieso alle Antworten auf die Fragen, die Tuvia sehr direkt und präzise stellt, stets ausweichend sind. Sowohl von den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde als auch von Vertretern der Kirche. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde leugnen anfangs strikt, dass es in Schottland Antisemitismus gäbe. Sie erweisen sich als eine Ansammlung von verschreckten und auf sich selbst konzentrierten Gemeindegliedern. Die älteren Herren in der jüdischen Gemeinde in Glasgow wirken besonders verschreckt, denn sie behaupten, wenn sie etwas „Falsches“ sagten, dann könnten sie von der öffentlichen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden.
Beim Gespräch mit Leuten von der Straße hört und sieht Tuvia anderes. In einer Ladenkette, die palästinensische Waren verkauft – diese wird von der Church of Scotland bezuschusst -, gibt es z.B. Landkarten zu kaufen, auf denen Israel gar nicht vorhanden ist: logische Konsequenz aus der Schmähschrift der Kirche, die diese auf Anfrage ausweichend als eine Streitschrift bezeichnet. Der Chef des Ladens, mit dem sich Tuvia auf arabisch unterhält, gesteht ihm, dass er es gar nicht erwarten kann, in ein palästinensisches Haifa zu ziehen. Im Buchladen von „Amnesty International“ wird ihm erzählt, dass den Palästinensern von den Israeli Menschenrechte verweigert werden, dafür hat der Laden aber keine Hemmung „Mein Kampf“ und die „Protokolle der Weisen von Zion“ zu handeln, denn das wären nun einmal Dokumente der Zeitgeschichte.
In Schottland ist der Brexit und der Wunsch nach Unabhängigkeit Schottlands ein aktuelles Thema. In einem Referendum hatten sich 2014 die Bürger Schottlands mit 55 % gegen eine Abspaltung von Großbritannien ausgesprochen. Das wird allgemein als „undemokratisch“ bezeichnet, denn man solle ein neues Referendum abhalten, so lange bis die Zahlen genehm seien. Tuvia wundert sich über diese Art von Demokratieverständnis (mich weniger, denn bei uns ist man es schon gewohnt, dass demokratische Wahlen „rückgängig“ gemacht werden). Er fragt sich allerdings auch, wer die vielen sozial Schwachen und Obdachlosen, die er dort sieht, versorgen wird, denn bis jetzt kommen die Gelder für sie aus London.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 25. Jul, 22:04
Tuvias Reise beginnt also zunächst nicht unter Briten – wie es der Titel des Buches verspricht -, sondern unter Iren in der irischen Hauptstadt Dublin. Ziemlich bald nach seiner Ankunft erzählt ihm ein Ire, den er in einem Restaurant trifft, dass Irland das antiisraelischste und antijüdischste Land in Europa wäre. Man würde diese Einstellung allerdings als „Antizionismus“ bezeichnen. Tuvia wunderte sich, denn er hielt es für erklärlicher, dass Iren vielleicht Hass auf Briten empfinden könnten, von denen sie lange unterdrückt worden waren. Die Briten sind in Irland tatsächlich nicht besonders beliebt, man hält sie für unfreundlich und arrogant. Doch unerklärlicherweise gilt die Empathie und verschiedener Aktionismus den Palästinensern. Gerade hat eine Senatorin einen Gesetzesentwurf eingebracht nach dem Handel mit Waren aus „besetzten Gebieten“ mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen bedacht werden soll. Tuvia, der diese Senatorin nach ihren Beweggründen dazu befragen will, bekommt, wie so manches andere mal auch, keinen Termin. An verschiedenen Stellen, z.B. auf dem Rathaus von Dublin hängen Palästinenserflaggen. Der Oberbürgermeister von Dublin erklärt das für eine Sache von Solidarität und Mitgefühl. Jedesmal, wenn Tuvia nach Solidarität und Mitgefühl mit Ländern wie Tibet, Westsahara oder Nordzypern fragt, bekommt er ausweichende Antworten: man kann sich nicht um alles Elend der Welt kümmern. Er spricht mit Damen vom Hilfsverein, mit Studenten: nie war jemand von ihnen in Israel, geschweige in Gaza. Ihre Unwissenheit über diesen Teil der Erde ist unermesslich, und Tuvia muss sich solche Aussagen anhören wie: ´Hamas ist die Regierung der Palästinenser´ oder ,Israel´ will Siedlungen in Gaza bauen´. Tuvia kommt zu dem Schluss: Palästina ist ein Bewusstseinszustand! Und: der Hass der Iren auf Juden ist simpel und mächtig!
So begibt sich Tuvia, der amerikanisch-israelische Jude, in den anderen Teil Irlands, nach Nordirland, Belfast. Um sich beliebt zu machen, wartete er nicht erst darauf, dass seine Gesprächspartner auf Palästina zu sprechen kommen, sondern er fragt sie gleich danach, und erhält auch die entsprechenden Antworten: ´Israel hat palästinensisches Land gestohlen´ oder ´ich kann nicht verstehen, wie eine Nation, die so gelitten hat, anderen Leid zufügt´. Im Buchladen der Organisation Sinn Féin, die kämpferische Organisation der Iren, die ihre Aufgabe in der Vereinigung Irlands mit Nordirland sieht, gibt es Gaza T-Shirts und palästinensische Flaggen zu kaufen. Auch ein Wandbild mit einer Palästina-Flagge, das die Aufschrift trägt: „Widerstand ist kein Terrorismus“, entdeckt er. Auf dem Stadthaus hängen sogar drei Palästinaflaggen. Nach dem Grund für die Beflaggung gefragt, bekommt er die Antwort: Hier spielten Juden gegen Nordirland Fußball, und die Beflaggung wäre der Protest dagegen.
In der nächsten Stadt, Londonderry, die bei der Bevölkerung nur Derry genannt wird, weil das ´London` davor unangenehm ist, sagt eine Frau ihm klipp und klar: Israeli sprengen Palästinenser in die Luft, Juden sind Abschaum, Hitler hat nicht genug umgebracht usw. Tuvia, nicht verlegen durch solcherlei Reden, hat das als Video aufgenommen und ins Internet gestellt, was für erhebliche Unruhe sorgte und ihm schlimme und gehässige Kommentare einbringt.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 23. Jul, 19:37
Wieder flatterte mir ein neues „Allein“-Buch von Tuvia Tenenbom in´s Haus. Diesmal hatte sich Tuvia allein unter die Briten begeben. Mehrmals war ich privat in Großbritannien und habe deshalb einen persönlichen Eindruck von dem Land und seinen Leuten, und ich wollte meine eigenen Eindrücke mit denen Tuvias vergleichen. Tuvia hielt sich im Jahr 2018 für sechs Monate in Großbritannien und Irland auf, d.h. der Titel des Buches ist wieder irreführend, denn gerade die Unterschiede der verschiedenen Landsleute bringen Leben in das Buch. Seine Reise beginnt in Irland, er ist folglich unter Iren, dann wechselt er nach Nordirland, nach Schottland, England und Wales.
Tuvias war bei seinem Aufenthalt hauptsächlich am Theater interessiert, da er selbst Regisseur und Theaterleiter ist und eine hohe Meinung über die britische Theaterkultur hat. Ganz besonders war er – wie immer – an den Menschen, an ihren Meinungen zu gesellschaftlichen Themen interessiert und ging von der Vorstellung aus, dass über nichts anderes als über den damals bevorstehenden Brexit die Rede sein wird. Wie immer benutzte Tuvia den Kunstgriff, bei seinen Gesprächen mit Menschen in verschiedene Rollen zu schlüpfen, wobei ihm die Beherrschung der arabischen Sprache zugute kam, wenn er mit Menschen mit arabischem Hintergrund sprach. Manchmal verbarg er seine jüdische Herkunft, oft gab er sich als deutscher Journalist aus. Sein Rollenwechsel wird ihm ab und zu vorgeworfen, doch ich würde darauf erwidern: Wie kommt es, dass Menschen anders reagieren und sprechen, wenn sie wissen, dass sie einen Juden als Gesprächspartner haben oder eben auch nicht? Sagt das nicht eher etwas über die entsprechenden Menschen aus?
Was Tuvia nicht erwartete, war dass er auf relativ wenig Interesse am Brexit traf, dafür eine allgemein verbreitete Empathie für die „Palästinenserfrage“ (weniger für Palästinenser, denn von denen war wenig bekannt), die mehr oder weniger Antisemitismus einschloss. Gerade in diesen Monaten eskalierten die Vorwürfe an den Labour Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der wegen seines antisemitischen Verhaltens angegriffen wurde. Tuvia ließ keine Gelegenheit aus, sich bei englischen Parlamentariern, Journalisten und Mitgliedern der jüdischen Gemeinden darüber zu informieren. Tuvias Kontaktfreudigkeit sowie seine Vorliebe für gutes Essen bringt ihn mit vielen Menschen verschiedenster Art zusammen, denn wo begegnet man den Menschen, wenn nicht im Pub oder im Restaurant? In diesem Buch gibt es eine künstlerische Besonderheit: seinen unsichtbaren Begleiter, einen Adler, der bei besonderen Gelegenheiten auftaucht, ihn ermutigt und ihm den Weg zum nächsten Abenteuer weist.
/Fortsetzung folgt)
anne.c - 20. Jul, 20:49
Neulich unterhielt ich mich mit einem Verwandten, der sich in seiner beruflichen Laufbahn verbessert hatte. Von einem deutschlandweiten Konzern war er zu einem Weltkonzern gewechselt. Unsere Unterhaltung war denkbar simpel. Da ich weiß, dass in Büros das Kaffeetrinken eine große Rolle spielt, fragte ich ihn, wie man es im neuen Betrieb mit dem Kaffeetrinken halte, ob das Kaffeetrinken auch hier wichtig sei und ob sie auch so eine gute Kaffeemaschine hätten, wie in dem alten. „Oh ja, das Kaffeetrinken spielt auch eine Rolle, manche haben auch etwas daran auszusetzen, aber sie meckern wirklich auf hohem Niveau“. „Wieso, wie ist denn das Niveau, wie geht das zu?“, fragte ich. Er erzählte, dass man sich jetzt, in dem Weltkonzern, nicht mehr um das Kaffeekochen und das Einräumen in die Spülmaschinen kümmern müsse, weil es auf jeder Etage einen Kaffeeservice gibt, der sich um alles kümmert.
Da ich in die Welt der Mitarbeiter in Spitzentechnologie normalerweise keinen Einblick habe, fand ich die Tatsache des Kaffeeservices interessant. Also: selbst beim Kaffeekochen sind die Hierarchien geordnet. Je wirtschaftsträchtiger der Betrieb, desto größer die Annehmlichkeiten für die Mitarbeiter. Ich schätze, das wird in allen anderen Bereichen auch so sein, bis hin zur Vergütung. Das ist auch einsichtig. Je „höhergewertet“ die Firma, desto mehr ist man bemüht, die Angestellten bei Laune zu halten, damit die Spezialisten bleiben. Ich glaube, es gibt noch einen anderen Grund für den bequemen Kaffeeservice. In der Gesellschaft gibt es ungeschriebene Gesetze, die fast jeder irgendwie verinnerlicht hat: wer was wo und wie er etwas macht und unter welchen Umständen er dementsprechend lebt. Es wäre sicher unter der Würde eines Weltkonzerns, wenn die Angestellten sich dort selbst den Kaffee zubereiten müssten.
anne.c - 12. Jul, 22:33
Gestern saßen wir mit einem Freund zusammen und sprachen von früheren Zeiten. Wir mussten uns bewusst machen, dass er eine Generation jünger ist als wir, und dass er unsere Berichte nicht als gleichwertig ansah, sondern als Berichte der Älteren. Was haben wir nicht alles im Kommunismus erlebt, und was haben wir indirekt durch die Erzählungen der Mitmenschen miterleben können! Ich denke sogar, unsere Erlebnisse wären interessant, aber interessieren sie jemanden?
Ich erzählte gestern dem Freund., wie ich den Spruch: „Der Verbrecher kommt immer einmal an den Ort seiner Tat zurück“. zweimal erlebt habe. Mein Bruder hatte beim Lesen seiner Stasiakte herausbekommen, dass die belastenden Berichte, die zu seiner Verhaftung geführt hatten, von B. gekommen waren. „Pongo“, sein treuer Kumpel, gutmütig und unzuverlässig. Um die Berichte ging es wahrscheinlich gar nicht so, denn meinen Bruder hätte man sicher auf irgendeine Weise sowieso in den Westen katapultiert - renitent, wie er war, aber diese Berichte waren eben der Anlass, um ihn vor´s Gericht zerren zu können wegen: Fluchtabsichten. Genau um diese Zeit, als mein Bruder schon von den Spitzelberichten wusste, wir dementsprechend auch, tauchte B. in meiner Werkstatt auf. B. tat so, als wolle er etwas bei mir bestellen, er hatte gerade eine neue Frau, mit der er sich einrichten wollte. (Später erlebte ich ihn noch mit einer weiteren neuen Frau). Ebenso wie ich es schon einmal bei einem ominösen Besucher erlebt hatte, wurde die Bestellung nicht konkretisiert, sondern nur angedeutet. Ich ließ mir mit keiner Miene etwas anmerken, weil mir die Sache sowieso egal war, und ich die Geschichte eher lächerlich fand.
Einige Jahre später hatte ich ein Déjavu. Mich besuchte mein früherer Klassenkamerad G. Der war ganz früher bei der Armee, dann war er irgendwie in der Stadtverwaltung, Abteilung Inneres, in Wismar gelandet, und hatte bei einem Klassentreffen damit angegeben, dass er über alles, was in Wismar geschieht, Bescheid weiß. Ebenso wie damals B., empfing ich G. dann auch freundlich, plauderte mit ihm, und ließ mir wirklich nichts anmerken, schon weil mir der Grund seines Besuchs erst hinterher einfiel: In Wismar war ja mein anderer Bruder vor der Wende Pfarrer gewesen, hatte da allerhand Spektakuläres veranstaltet, schließlich eine Amerikanerin unter großer Teilnahme der Bevölkerung geheiratet (der Marktplatz vor dem Standesamt war brechend voll, sicher 1000 Leute, die einfach nur „Anteil nahmen“ (wieviel davon von der Stasi waren, ist nicht zu ermitteln), und DDR-Fähnchen und US-Fähnchen schwenkten.
Jedenfalls hatte der G. sicher auch seinen Anteil an der Bespitzelung meines Bruders. Dieser bekam nach der Wende sogar Fotos, von Aufpassern, wie sie in einem Nachbarhaus auf ihn lauern, in die Hand. Als ich später über die Angelegenheit nachdachte, wunderte ich mich: So ganz justiziabel waren ihre Taten wohl nicht. Mich interessierten sie gar nicht. Aber irgendwie muss es doch in den Menschen innerlich arbeiten, sie fühlen sich unwohl, und wollen irgendwie heraus bekommen, welche Einstellung ihre früheren „Opfer“, bzw. ihre Angehörigen zu ihnen haben. Besucht haben beide mich nie mehr
anne.c - 2. Jul, 21:53
Zur letzten Erkundung hielten wir in einem kleinen Straßendorf an einem kleinen Kirchlein. Es sah aus, als wäre es schon nicht mehr in Betrieb. Das Kuriose an diesem Dorf war, dass weder Häuser noch Kirche ein Lebenszeichen von sich gaben, und wenn man nur 3 km weiter fuhr, war man auf der Autobahn. Zum Abschied grüßte ein überdimensionaler Heldenstein auf dem Kirchplatz: Mit einem Relief eines Stahlhelmträgers und der Aufschrift: „Den Gefallenen zur Ehr, den Lebenden zur Lehr! Weltkrieg 1914-1918 und 1939-1945“
Ein „normaler“ Heldenstein auf einem „normalen“ Kirchenplätzchen. Man könnte darüber nachdenken, warum diese Heldensteine ausgerechnet auf den Kirchplätzen stehen und nicht vielleicht auf einem Dorfplatz. Man könnte auch überlegen, warum Menschen gerade geehrt sind, oder ihnen das ewige Leben versprochen wird, oder nicht von der Liebe Christus geschieden werden können, weil sie im Krieg zu Tode kamen. Was sie als Soldaten gemacht haben, zählt überhaupt nicht, sondern einfach die Tatsache, dass sie in Kriegen die mit unzähligen Toten und mit unzähligen Kriegsverbrechen verbunden waren, gefallen sind, erhebt sie über normale, ebenfalls sterbliche Menschen. Mehrmals habe ich an Pfarrer und Kirchengemeinden geschrieben und um eine Erklärung dafür gebeten, aber eine Antwort bekam ich nie.
Zum Glück war der Tag in vieler Hinsicht erlebnisreich, hätten wir ausschließlich in Kirchen den „Geist des Lebens“ erkundet, dann hätten wir feststellen müssen, dass wir kaum dem Geist des Lebens begegnet sind, umso mehr dem Geist der Erstarrung und des Todeskultes.
anne.c - 14. Jun, 09:32
Der nächste Halt galt einem kleinen Städtchen, so eins, wie man es früher als Marktflecken bezeichnete. Aus den umliegenden Dörfern fuhren damals die Menschen mit Kleinbahn und Bus dorthin zum Einkaufen. Die Stadt hat eine wunderbare Lage, weit über eine Ebene zu sehen, ist sie auf einer Art Tell gelegen, 2 alte Stadttore und eine schlichte, sehr große Kirche in Backsteingotik prägen die Silhouette. Die Struktur des Städtchens ist so schön, dass sie nach der Wende zur Modellstadt erklärt wurde und besondere städtebauliche Förderung genoss. So begeistert ich immer wieder von dem Städtchen bin, ebenso deprimiert bin ich jedes mal wenn ich es verlasse. Die Stadt ist tot. Mehrmals durchfuhr ich sie in ihrer ganzen Länge und sah nicht einen einzigen Menschen auf der Straße. So ein leeres, verlassenes Städtchen kann man sich gar nicht vorstellen. Sicher führt die Stadt im Verborgenen auch ein Eigenleben, man müsste sich länger dort aufhalten, um dieses zu entdecken.
Dafür hielten wir nicht lange genug. Wir parkten auf dem vor Kurzem für ca. 100 000 € sanierten Kirchenplatz. Vor der Sanierung war der Kirchenplatz ein lauschiger Ort, der im Einklang mit der gotischen Backsteinkirche war. Jetzt war der Kirchenplatz ein von stadtarchitektonischer „Meisterhand“ gestalteter fremder Platz, der nichts mit der Kirche gemeinsam hat. Verschiedene Pflasterungen edler Art gab es und Stelen, die zu nichts taugten. Die in coronamäßigen Abständen gereihten Würfel sollten wohl Sitzgelegenheiten sein. Ein riesiges metallenes „Kunstwerk“ bildete das Ende des Platzes. Zu Glück war die Bezeichnung des Kunstwerks mitgeliefert, es hieß „Der Bassist“. Leider bin ich nicht bibelkundig genug, um mich an einen Bassisten aus der Bibel zu erinnern, mir kam nur König David mit der Harfe in den Sinn, vielleicht hatte eine Verwechslung der Musikinstrumente vorgelegen. Mit einigem Entsetzen stellten wir fest, dass wir gerade zuvor das idyllische Atelier des Künstlers besucht hatten, auf dem sehr schöne Kunstwerke zu sehen waren.
Ich konnte mir nur vorstellen, dass dieser „Bassist“ aus dem Fundus des Künstlers stammte von Kunstwerken, die er loswerden wollte. Dass der „Bassist“ wirklich Kunst war, konnte man an dem daneben aufgestellten Schild ersehen:

"Das Kunstwerk ist kein Spielgerät"
Nun ist der Bassist so stabil, dass kein kletterndes Kind ihm etwas zuleide tuen kann, möglicherweise hat diese drohende Aufschrift mit Sicherheitsvorschriften zu tun.
Ich dachte, es wäre wahrscheinlich wirklich sinnvoller gewesen, hier einige nette Spielgeräte aufzustellen, und eine Atmosphäre zu schaffen, wo Kinder sich wohl fühlen. Die Stadt macht einen Eindruck, dass sie um jedes einzelne Kind ringen sollte, damit Kirchengemeinde und Stadt eine Zukunft haben. Wenn an dieser Stelle zu Pfingsten ein Geist walten sollte, dann könnte man ihn als Geist der Absurdität bezeichnen.
anne.c - 9. Jun, 22:34
Wir kamen in ein schönes Dorf. Da es nicht zerschnitten von einer Durchgangsstraße war, gruppierten sich die gut erhaltenen Bauernhäuser rund um die Kirche, die mitten im Dorf stand. Den gepflegten Friedhof prägte eine mächtige Linde, die in schönstem Grün war.
Trotz wieder geschlossener Kirche waltete hier der Geist, es war aber ein anderer als der Heilige Geist. Ein modernes, künstlerisch gestaltetes Kriegsdenkmal ließ die Gedanken auf Kriege richten. Ganz genau konnten wir es nicht herauszufinden. Es war nicht vermerkt, dass die vielen Männernamen, geordnet nach verschiedenen Gemeinden rundherum, Namen von im Krieg gefallen Soldaten sein sollten, man ahnte es aber. Ob erster oder zweiter Weltkrieg? Wohl beide Kriege, wie man anhand der Namen vermutete, die teilweise sehr altertümlich und teilweise weniger altertümlich klangen.
Zwei ums Leben gekommene "namenlose" landwirtschaftliche Arbeiter sind auf einer Stele aufgeführt. Ob das etwa Menschen aus dem Dorf waren, die im Ausland Landwirtschaft betrieben hatten, so wie die anderen dort wohl den Krieg betrieben hatten? Oder etwa Landarbeiter, - woher auch immer -, die im Ort gearbeitet hatten? Wie mögen sie ums Leben gekommen sein? Es mutet befremdlich an, dass, alle Männer mit Namen verzeichnet die Landarbeiter dagegen als „namenlos“ aufgeführt waren. Entweder hat man sich nicht die Mühe gemacht, ihre Namen zu erforschen oder man hielt es nicht für Wert, etwa fremde Namen unter die der Dorfbewohner zu mischen.
Kurz gesagt: Die Gedenkstätte ließ viel Raum für Phantasie.
Egal, ob Namensinhaber und Namenlose, sie standen alle unter den gleichen Bibelversen:
„Lass dich nicht von Bösem überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“
„Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“
Die Bibelstellen könnte man auf viele Weisen interpretieren, doch die Mühe nahmen wir uns nicht, denn es warteten weitere Künstlerquartiere auf uns. Im gleichen Dorf gab es einen Keramiker, der ansonsten Keramiken dieser Art herstellte:

Es ist zu hoffen, dass Namensplatten und Keramikfiguren des Kriegerdenkmals ihm einen Verdienst eingebracht haben.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 6. Jun, 22:46