Samstag, 18. Januar 2020

Auf dem Berg der Seligpreisungen

(Ein Erlebnis auf meiner zweiten Israelreise, 2010, einer Individualreise)

Der Berg der Seligpreisungen bescherte uns ein eigenartiges Erlebnis: Oben am Parkplatz, gleich neben einer Klosteranlage, trafen wir auf eine süddeutsche christliche Reisegruppe. Wir schlossen uns an und folgten ihnen auf versteckten Wegen, die die Bergkuppe hinunterführten zu einer Stelle, wo man einen besonders schönen Blick auf den See hat. Dort ist eine Gruppe Olivenbäume malerisch auf dem Hügel verteilt, und unter einem der Bäume gab es, wohl für pastorale Zwecke, einen Sitz mit einem altarähnlichen Stein davor – dort soll Jesus die Bergpredigt gehalten haben.

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Wir trafen gerade wieder auf die Gruppe, als ihr Reiseleiter zur Auslegung der Bergpredigt anhob: Die Seligpreisungen überging er: „da sie ja allgemein bekannt sind“, und er konzentrierte sich auf die Auslegung der auf die Seligpreisungen folgenden „Gesetzesverschärfungen“. Das führte er in der Weise aus, dass er immer gegeneinander stellte: die hohe moralische Überlegenheit der christlichen Religion gegen die niedere Geisteshaltung des Judentums, das nicht zur Vergebung fähig wäre. Seine Schäfchen hörten ihm schweigend und ergriffen zu.

Ich war überrascht: wie in deutschen christlichen Reisegruppen geredet wird, wenn der israelische Fremdenführer gerade nicht dabei ist, das weiß ich gut, sowohl aus eigenem Erleben als auch aus Berichten christlicher Reisender. Dass man sich allerdings auf den Berg der Seligpreisungen zurückzieht, um ungestört die Regungen des eigenen schlechten Gewissens ins Gegenteil zu ziehen, das war mir neu.

Zwei Tage später saßen wir 50 km südlich im Kibbuz E.H. beim Kaffeetrinken. Wir lernten Y.s zweite Frau kennen. Nur um wenige Jahre jünger als er, war sie alt genug, dass sie auf ihrem Arm das Brandmal einer Auschwitz-Nummer hatte. Beide bewirteten uns freundlich und führten uns durch den Kibbuz. Und ich dachte: „Das sollen also die sein, die nicht vergeben wollen, und die da auf dem Berg das sind die moralisch Überlegenen!“ Ich bezeichnete unser Erlebnis da oben als „pastorale Groteske“ und war in meinem Misstrauen gegen „Idyllen“ bestätigt.

Samstag, 11. Januar 2020

Erlebnisse auf einer Israelreise

Meine Blogeinträge sollen keine Auseinandersetzung mit aktuellen Themen sein, sondern sie befassen sich, wie geschrieben, mit Ideologien - wie sie entstehen und wie sie sich auf Menschen auswirken. Möglichst gehe ich dabei von eigenem Erleben aus und spüre nach, wie dieser oder jener Gedanke entstanden ist. Fast mit Erschrecken stellte ich fest, dass sehr vieles, oft ganz Harmloses, mit der eigenen Geschichte bis hin zur Geschichte der Vorfahren zusammenhängt, selbst wenn man sich dessen nicht bewusst ist.

Da im Augenblick das Thema Antisemitismus aktuell ist - es soll ja viele Antisemitismusbeauftragte geben, bei denen mir nicht immer klar ist, ob sie für oder gegen Antisemitismus beauftragt sind, erzähle ich einige Anekdoten, die mir die Augen öffneten.

Meine erste Reise nach Israel machte ich 1993. Des Reisens ungewohnt, wagte ich keine Individualreise, außerdem hatte eine gute Freundin, eine Pfarrerin, die Reise organisiert. Demzufolge waren Pfarrer und Kirchenmitglieder Teilnehmer der Gruppe. Viel Merkwürdiges habe ich dabei erlebt, viele Gesprächsfetzen, die an mein Ohr drangen. Eine Reiseteilnehmerin, ältere Pfarrfrau, die ich gern mochte und von der ich viel Gutes im Leben erfahren habe, stammte ursprünglich aus dem Sudentenland und war 1946 vertrieben worden. Diese Tatsache war ihr Lebensthema, auf das sie bei Unterhaltungen nach einer gewissen Weile immer wieder zurückkam. Unsere israelische Reiseleiterin war eine Jüdin, die 1938 gerade noch so mit ihren Eltern, ebenfalls aus dem Sudetengebiet, hatte nach Palästina fliehen können. Was ihr ohne die Flucht bevorgestanden hätte, weiß jeder. Auch unsere wirklich liebe Pfarrfrau wusste es und sprach es wohlwollend gegenüber der Reiseleiterin aus: „Da haben sie aber Glück gehabt, dass sie rechtzeitig geflohen sind“. Ich glaube, dieser Ausspruch war es, der mir für vieles die Augen öffnete und eine Kette von Gedanken in Bewegung setzte, die immer noch arbeiten.

"Unter Besatzern"

"Unter Besatzern"

Während dieser Reise hatte ich zwei private Besuche bei Juden unternommen, die ich noch vor Öffnung der DDR-Grenze kennen gelernt hatte, was die Reisegruppe in einige organisatorische Umstände brachte, aber schließlich hatte alles gut geklappt. Über meine Besuche erzählte ich meinen Mitreisenden nichts, hauptsächlich weil ständig so ein angeregtes Geschnatter in der Gruppe zugange war, dass an meinen Erlebnissen kein großes Interesse bestand. Wahrgenommen hatten die Mitreisenden meine „Ausreißer“ durchaus, und das machten sie mir deutlich klar. Bei der (wie ich später feststellte) üblichen Gruppenindoktrination für christliche deutsche Israelbesucher in der deutschen evangelischen Gemeinde Jerusalem stellte ich einzig und allein die Frage: „Wie war es denn vor der israelischen Besatzung (von der ständig die Rede war), gab es damals einen palästinensischen Staat?“, worauf die Referentin sofort ihre Tonlage abmilderte. Nach dem Vortrag trat eine der Pfarrfrauen auf mich zu und gab mir einen Ratschlag. Und sie sagte: „Wissen sie, bei dieser Angelegenheit dürfen gerade wir als Deutsche uns nicht auf die eine oder auf die andere Seite stellen. WIR haben gleich gemerkt, dass sie auf der anderen Seite stehen!“

So aussagekräftig dieser Ratschlag auch war - ich muss heute immer noch darüber lachen.

Samstag, 4. Januar 2020

Zum Tod von Hermann Gremlitza oder: Was hatte ich mit Hermann Gremlitza gemeinsam?

Die Nachricht vom Tod des „konkret“-Herausgebers H.L. Gremlitza scheint ziemlich unbeachtet durch die Medien gegangen zu sein. Um die Jahrtausendwende herum hatte ich einige Jahre lang seine Zeitschrift abonniert. Ich ließ es dann wieder: die Sprache gefiel mir nicht, das allzu „Linkslastige“ ebenfalls nicht, da ich es in meinem Leben zur Genüge erfahren hatte. Gemeinsam hatte ich mit ihm seine unbedingte Abscheu gegen „Nazihaftes“ und sein Eintreten für Israel.

Einmal kam es zu einer Begebenheit, wo Gremlitza und ich im übertragenen Sinn direkt zusammen trafen. Ich schlug die vom Briefträger gelieferte Zeitschrift „konkret“ auf, überflog eine gedruckte Todesanzeige, las einen mir bekannten Namen, und ohne Nachdenken zu müssen, fügte sich für mich ein Bild zusammen, das mir bis heute unglaublich erscheint.

Die Vorgeschichte ist, dass wir uns Ende der 80-ger/Anfang der 90-ger Jahre mit einem Ehepaar aus dem Westen, das eine Generation älter war als wir, angefreundet hatten. Ursprünglich Freunde meiner Eltern, kamen sie mehrmals zu Besuch, weil sie Verwandte in der Gegend hatte, bei denen sie nicht wohnen konnten. Der Mann war in Baden Württemberg Direktor einer Internatsschule, die Frau, eigentlich Theologin, hatte eine Schar Kinder groß gezogen. Sie war das, was man als muntere schwäbische Hausfrau bezeichnet, er ein etwas verspäteter 68-ger. Der Mann war in der Friedensbewegung aktiv, hatte an Sitzblockaden teilgenommen und war sogar dafür verhaftet worden. Wir haben nur gute Erinnerungen an diese Begegnungen: gemeinsame Ausflüge, ganz viel Erzählen: wie es im Westen - in ihrem entsprechenden Milieu - zugeht , ihre Anteilnahme an unseren heran wachsenden Kindern und vieles mehr.

Und nun las ich im „konkret“ den Namen dieser meiner Freundin als Unterzeichnerin einer Todesanzeige. Damals kam es in Mode, in überregionalen Zeitungen Todesanzeigen für seine im Krieg gefallenen Väter und Brüder zu setzen, mit entsprechenden Texten dazu. H.L. Gremlitza war eine besonders makabre Todesanzeige aufgefallen und versuchte sich (vergeblich) mit den Unterzeichnern in Verbindung zu setzen. Aus der im „konkret“ nachgedruckten Anzeige erfuhr ich erst, dass unsere Freundin zwei Brüder im Krieg verloren hatte. Sie und ihre Schwester hatten die Anzeige, ich glaube in der FAZ, gesetzt. Mit eisernem Kreuz darauf, es wurde von Russland- und Frankreichfeldzug geschrieben und: wörtlich! „ihr Tod war nicht umsonst“, ja noch Absurderem: "ihr Anliegen war Völkerverständigung".

Solche Anzeigen, unabhängig davon wer sie setzt, setzen geradezu den Nazigeist frei. Eisernes Kreuz - Symbol des Krieges, ohne jegliche Distanzierung davon. Russland- und Frankreichfeldzug als Völkerverständigung. Das waren sie - allerdings hat man sich mit den Völkern eben auf die „deutsche Art“ verständigt. So war es keine Lüge. Wenn ich mir vorstelle, dass diese Anzeige von einer Theologin veröffentlicht wurde!

Ich dachte an dieses nette Ehepaar: Sie haben bei Weitem das meiste Geld gespendet, als ich einmal eine Sammlung für einen ihnen völlig unbekannten Ausländer machte. Zwei ihrer Kinder sind mit Ausländern verheiratet, ihre Tochter lebte ihr halbes Leben in einem Dorf am Mittelmeer, und die gesamte Familie hat unzählige Urlaube dort verbracht, sie war in dem Dorf in Frankreich wie zu Hause. Sie haben wirklich Völkerverständigung gelebt, aber warum müssen sie ihren umgekommenen Brüdern, die freiwillig oder gezwungen, an einem Krieg teilnahmen, von dem klar ist, mit welch ungeheuren Verbrechen er verbunden war, bescheinigen: Was diese machten, war auch etwas in diesem Sinne von Verständigung?

Ich habe mich zu der Ansicht durchgerungen: ´Unbedarftheit ist manchmal auch eine Erklärung für Unerklärliches. Aber auch Unbedarftheit bedarf geistiger Hintergründe`.

Samstag, 21. Dezember 2019

Rentnerreisen - damals und heute

Das „West-Reisen“ war in den Gedanken eines Ostbürgers übermächtig: Wer darf, wer darf nicht, dazu die eifrig zwischen Ost und West umherreisenden Rentner. Ich habe sogar einen aufregenden Fall von mehreren zeitweiligen Ost-West Reisen mit Paß- und Identitätstausch erlebt, – es war einfach ein unerschöpfliches Thema. Zwei kleine Anekdoten, die zusammen passen:

Die eine ist noch nicht lange her. Im Steuerbüro fragte mich zum Abschied professionell-freundlich die Angestellte: „Und, geht’s ihnen gut, ist alles in Ordnung“ „Ja, danke…“ Sie ließ nicht locker und fragte, ob auch alles in der Familie gesund und in Ordnung sei. Schon um ihr Fragen loszuwerden, antwortete ich: „Ach ja, mein Mann geht heute in Rente“. Sie strahlte: „Oh, herzlichen Glückwunsch. Dann können sie ja jetzt reisen!“ Ich bedankte mich und lachte nur innerlich, denn sie war zu jung um die Doppeldeutigkeit ihrer Aussage zu begreifen. Sie meinte natürlich den von ihr unterstellten Lebensinhalt eines Rentners: die nun gewonnene Zeit nutzen, um die Welt zu bereisen. Es gab eine Zeit, in der das Erreichen des Rentenalters nur eins bedeutet hatte: Endlich in den Westen reisen zu dürfen!

Mir fiel eine Szene aus den frühen 80-ger Jahren ein. Eine befreundete Ost- und eine Westfamilie trafen bei einem Besuch aufeinander. Je ein kleines Mädchen, 7 und 8 Jahre, gehörten dazu. Die Mädchen waren von keinerlei Ost-West Überlegungen belastet und waren einfach nur neugierig aufeinander. Das Westmädchen erzählte, dass sie in den Ferien in Paris war. Das Ostmädchen antwortete munter, dass sie auch mal nach Paris fahren wird. Ein erstaunter Erwachsener drehte sich nach ihr um und fragte: „Wie willst du denn nach Paris kommen?“ Darin sah das Mädchen überhaupt kein Problem: „Na, wenn ich 60 bin, dann werde ich Rentnerin, und dann kann ich nach Paris fahren.“

Dienstag, 17. Dezember 2019

Wahlmöglichkeiten

Wenn ich eine „Botschaft“ im Erzählen von West-Ost Erlebnissen hätte, dann wäre es etwa diese: Das alltägliche Leben in der DDR war einem großen Druck ausgesetzt, den man aber verinnerlicht hatte, und mit dem man – je nach Freiheitsbedürfnis – einigermaßen normal leben konnte. Interessant ist es, wie sich jeder Einzelne in den verschiedenen Situationen entschieden hat. Man hatte, obwohl man unter Zwang lebte, Wahlmöglichkeiten.

Zum Thema „Telefon“, über das nur ein Bruchteil der Familien verfügte, kann ich folgendes erzählen: Ich wartete bis ich einige wichtige Telefonanlässe zusammengestellt hatte (mit Handwerkern, mit Behörden, manchmal mit Verwandten und Bekannten, aber nur wenn es wichtig war), und dann ging ich mit meiner Liste zu einer Freundin, bei der es ein Telefon gab und telefonierte diese ab. Der Mann meiner Freundin war Staatsbeamter und hatte ein recht verantwortungsvolles Amt. Wenn ich kam um zu telefonieren, sagte er: „Ja, geh´ schon ins Büro, du weißt ja, wo der Schlüssel liegt“. Was dieses einfache menschliche Verhalten damals bedeutete, kann heute (zum Glück) niemand nachvollziehen. Von Staates Seite aus gesehen: in dem Büro hätten Staatsgeheimnisse sein können! Mir war es in dem Büro auch immer bewusst, dass mein Bekannter unter Umständen (die sich zum Glück nicht ergeben haben) in große Schwierigkeiten hätte kommen können und ich führte diese Gespräche immer verantwortungsvoll. Vergessen habe ich ihm diese Großzügigkeit bis heute nicht.

Dienstag, 10. Dezember 2019

Westreisen - oder: wo warst du am 9.11.1989?

Der 30. Jahrestag des „Mauerfalls“ wurde - so wie andere „Großereignisse“ auch - mit großem Getöse medial vorbereitet, um sofort nach dem 9.11. ins Loch des Vergessens zu fallen. Ich hatte den Eindruck, dass in den öffentlichen Berichten nicht weiter gedacht wurde, als bis zu der Frage: „Wo warst du am 9.11.1989?“ – zu mehr reichte es nicht. Schon das ist ein Grund dafür, mich noch ein wenig mit diesem Thema zu befassen.

Was ich im Nachdenken a la „Ich hätte das nie für möglich gehalten!“ nie gehört oder gelesen habe, ist das Thema „Westreisen“, das ich für einen wesentlichen Rammbock in die Mauer halte. Schon in den 70-ger Jahren durften Angehörige unter bestimmten Bedingungen, etwa anlässlich des herannahenden Todes oder einer Beerdigung eines sehr nahen Angehörigen in des Westen reisen. Da man sich in den ca. 14 Jahren der hermetischen Abriegelung schon einigermaßen an diesen Zustand gewöhnt hatte, waren diese ersten Verwandtenbesuche Sensationen. Um ehrlich zu sein, so sensationell auch wieder nicht, denn Rentner durften schon seit den 60-ger Jahren in den Westen reisen, jede Menge „Konsumgüter“ mitbringen, die die DDR dann nicht zu produzieren brauchte und die Wunderdinge erzählen, die da zu sehen waren.

Mit den Jahren waren die Anlässe und der Verwandtschaftsgrad, der zu Westreisen berechtigte, beträchtlich ausgeweitet worden. Ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und erzählten sich: wer wo war, wer „heimlich“ noch eine zusätzliche Auslandsreise gemacht hat, besonders Auserwählte und Glückliche hatten die Berechtigung erhalten, mit dem Auto zu reisen, Vorgesetzte hatten die wirklichen Experten bei Dienstreisen ausgebootet. Dass die Sehnsucht, dort selbst einmal hinzureisen übermächtig wurde, ist gut nachzuvollziehen. Die Standfestigkeit der Bürger, zu ihrem Staat zu stehen, wurde sehr aufgeweicht.

Diese in manchen Gesellschaftsschichten schon fast routinemäßigen Reisen führten zu ebenso unerschöpflichen Überlegungen, ob der und der überhaupt reiseberechtigt gewesen wäre, warum der … und der nicht… Als ob die Gesetze der DDR in steinerne Gesetzestafeln gemeißelt gewesen wären.

Die Geschichten und Erlebnisse rund um die Westreisen bieten Stoff genug und könnten in die Überlegungen in den Mauerfall durchaus einfließen. Warum davon kaum die Rede war? Der Mythos muss bewahrt werden. Und: es kam wohl niemand darauf, weil alle beschäftigt damit waren zu überlegen: ´Wo bist du am 9. November 1989 gewesen?´

Donnerstag, 28. November 2019

Distanziert euch von euren Westverwandten!

In der DDR war es üblich, dass sich Menschen von ihren Verwandten distanzieren mussten. Auch Eltern von ihren Kindern und umgekehrt. Eine Gemeindeschwester berichtete mir erschüttert, wie sie bei einem Patienten, einem alten Mann ein Schreiben vorfand, worauf er bestätigte, dass er sich von seinen Söhnen, die in den Westen „abgehauen“ (das war die übliche Bezeichnung) waren, lossagt. In diesem Fall war das besonders makaber, da der Mann längst aus dem Arbeitsalter heraus war, also keine beruflichen Nachteile mehr erfahren konnte. Er war dazu genötigt worden, und so tat er es eben.

Wer beruflich Karriere machen wollte und nahe Westverwandte hatte, sollte oft unterschreiben, dass er mit diesen keinen Kontakt mehr haben wird. Gezwungen wurde dazu niemand. So kenne ich den Fall eines Betriebsleiters, der sich weigerte zu unterschreiben, dass er die Westgeschwister nicht treffen wird. Er blieb trotzdem Betriebsleiter. Später wünschte sich sein Sohn, zur See zu fahren. Menschen, die in der Seefahrt arbeiteten, hatten besonders strenge Auflagen, keine Westkontakte zu haben. Denn die Seefahrer hatten natürlicherweise mehr Möglichkeiten „abzuhauen“. Der Betriebsleiter wollte seinem Sohn keine Steine in den Weg legen und unterschrieb schweren Herzens die Distanzierung von seinen Westgeschwistern. (Dass der zu See fahrende Sohn unterschreiben musste, keinen Kontakt mit dem Westen zu haben, war selbstverständlich, aber nahe Verwandte mussten auch bürgen). Die Westgeschwister hatten zum Glück genug DDR-Kenntnis, so dass sie nicht entrüstet waren, sondern sich von da an mit dem Bruder „heimlich“ bei anderen Verwandten trafen. Die Wirklichkeit war nämlich, dass der Einhaltung der „Distanzierungen“ normalerweise keine große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, es war nur ein Mittel, um die betreffenden Menschen notfalls zu erpressen.

Sonntag, 24. November 2019

Erzählt Euch eure Biographien

Das war eines der Schlagwörter im Zuge der deutschen Vereinigung. Zum Gedenken an „30 Jahre Mauerfall“, als man sich Gedanken machte, warum Ost und West immer noch nicht so recht zueinander passen, wurde es wieder aus der Mottenkiste heraus geholt. In unserem Regionalfernsehen hatte man die Idee, 30-jährige und 60-jährige, die jeweils Ost- und Westhintergrund hatten, zusammen zu bringen, und sich sozusagen ihre Biografien erzählen zu lassen. Mehr zu erzählen hatten naturgemäß die Älteren. Es wurden solche Fragen gestellt wie: ´und wie habt ihr euch gefühlt?´ Die Älteren erzählten, wie aufgeregt sie in der Wendezeit waren und dass sie nie gedacht hätten, dass das und das eintritt….. Oder: ´konntet ihr euch das und das kaufen?, und ehrfürchtig erfuhr man, dass es vieles nicht zu kaufen gab. Abgesehen davon, dass die Beteiligten Menschen waren, die es nicht gewohnt waren, vor der Kamera etwas zu erzählen und dass die Beiträge nur kurz waren, war es doch erschütternd zu erleben, wie nichtssagend diese Beiträge waren. Ich denke, jeder Einzelne hätte etwas zu erzählen gehabt. Das hätten selbst erlebte Anekdoten sein müssen, die Wesentliches aus dem Leben in der DDR kenntlich machen. Möglichst nicht das, was man in jeder Zeitung lesen kann. So werde ich in den nächsten Beiträgen einige DDR-Geschichten schreiben, zum Teil sind sie in diesem Blog schon einmal beschrieben.

Zum Beispiel, wie ich mit meiner 10-jährigen Tochter dem Eintritt der jungen Pioniere in die Organisation der „Thälmann-Pioniere“ beiwohnte. Zwar gehörte das Kind den Pionieren nicht an, aber die Lehrerin hatte gleich danach eine Elternversammlung einberufen. Ich sagte, da gehen wir einfach nicht hin, aber meine Tochter sollte mit einem Schulkameraden in der Elternversammlung ein Lied singen (es war ausgerechnet: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat?“), und da das Kind sehr pflichtbewusst war, bestand es darauf, pünktlich zum Schulappell zu kommen. Da erlebten wir eine gespenstische Situation, ein Erlebnis, was heutzutage außer in Nordkorea wohl keinem mehr vergönnt ist zu erleben. Auf dem dunklen Schulhof, direkt vor dem Thälmannrelief, standen blockweise aufgereiht die Klassen, die dieser Zeremonie alle beiwohnen mussten. Jeweils einen Schritt vor dem Block stand der jeweilige Pionierratsvorsitzende. Vor ihnen hatte sich eine Formation von Fackelträgern aufgereiht. Eine Lehrerin, die im normalen Leben eine normale Frau war, raunte mit vollkommen verstellter Stimme eine Ansprache. Gedichte wurden rezitiert. Die Thälmann Pioniere der älteren Garde banden den Jungpionieren ihr neues Halstuch um. Es zog sich eine Weile hin, mir erschien das alles als absurd und gespenstisch.

Anschließend gingen die Eltern in die Klasse zur regulären Versammlung. Bis jetzt hatte ich es noch nie erlebt, dass Kinder zu dieser Versammlung gesungen haben (es war ein Trick, damit das Nichtpioniermädchen erlebt, was sie an diesem Abend Schönes versäumt und dass noch ein weiteres Kind mitwirkte, war um dieses zu verschleiern). Die beiden Kinder sangen munter ihr Lied, und ich freute mich, meine Tochter beim Gesang zu erleben. Sie durften dann schon nach Hause gehen und mussten nicht das Ende der Klassenversammlung abwarten.

Das wirklich Absurde fand 2 Jahre später statt. Da war die Wende + Vereinigung gelaufen, Thälmann-Schule war nicht mehr passend, ebenso wenig das Thälmannrelief davor. So wurden kurzerhand Bauarbeiter bestellt und – da es gerade so passte -, wurde das Relief genau in der Unterrichtszeit vor den Augen der Schüler zertrümmert.

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