Samstag, 9. November 2019

Zum „Fall der Berliner Mauer“ vor 30 Jahren

Am 19. Januar 1989, sagte Erich Honecker: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.

Nach dem „Fall“ dieser Mauer, nur knapp 10 Monate nach diesem Ausspruch, hörte man immer wieder Begeisterung über dieses unglaubliche Wunder, und dass man es nie für möglich gehalten hat, dass dieser Fall je eintritt. Sogar heute noch, im Rückblick 30 Jahre danach, hört man, dass Menschen ihren Unglauben darüber äußern, dass sie es vor dem 9.11.1989 je für möglich hätten halten können, sich diesen Fall (im doppelten Sinne) vorstellen zu können.

Äußerungen jener Art besagen, dass man Erich Honecker sehr ernst genommen hat und an die DDR glaubte. Es scheint, als würde man nach 30 Jahren immer noch an Erich Honecker und die DDR glauben.

Da halte ich es mehr mit meinem Verwandten, der 1989 dem verrotteten und nicht mehr benötigten Klohäuschen seines Landhauses einen Tritt gab und dazu sagte: „So wie man dieses Klohäus´chen mit einigen Tritten zu Fall bringen kann, so wird es mit den kommunistischen Regimes geschehen“. Das, was man als Friedliche Revolution bezeichnet, kann man als Implosion der DDR bezeichnen.

Freitag, 1. November 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - V )

Da bemerkte ich, dass meine Freundin sich unbehaglich fühlte. Ich hatte den Eindruck, sie wolle die Versammlung gern verlassen. Da ich meinen Part vollbracht, sogar noch eine Diskussion bestritten hatte, sagte ich, dass wir beide doch jetzt gern gehen möchten (wir waren insgesamt ca. 2 Stunden dort), und dass es vielleicht sinnvoll sei, noch einmal im etwas kleineren Kreis die Dinge zu besprechen. Zum Abschluss gaben wir allen Teilnehmern die Hand. Unsere Gastgeber verabschiedeten sich halb aufgeregt, halb verlegen. Sie hatten ein kleines Geschenkpaket für mich vorbereitet. Ich sagte, dass mir der Abend gefallen hat, und dass es mir nichts ausmacht, wenn nicht alle einer Meinung sind. Meine Freundin gestand mir später, dass sie überhaupt nicht begriffen hat, was da vor sich geht, dass sie der Diskussion nicht folgen konnte, weil sie über die Voraussetzungen nur flüchtig informiert war.

Später überlegte ich, wie wohl die Gruppe hinterher mit dem einladenden Ehepaar umgegangen sein mag. Mit dem christlichen Hintergrund kann ich mir nicht vorstellen, dass sie das Ehepaar B. wegen ihres vollkommenen Fehlgriffs einfach nur verhöhnt haben. Ich schätze, Herr Pastor J. hat die Sache noch einmal endgültig klargestellt und dann ist man vielleicht zum persönlichen Teil des Abends übergegangen: wer wohin gereist ist, was nach meiner Beobachtung eines der Hauptthemen in ähnlich situierten Kreisen ist. Einige Reiseziele waren mir in der Unterhaltung voraus schon zu Ohren gekommen.

Nachdem ich zu Hause war, schrieb ich bald eine E-Mail an das Ehepaar B., in der ich als Resümee des Abends zusammen fasste, dass zwischen den Ansichten von Pastor J. und mir nur ein winziger Unterschied, allerdings mit beträchtlichen Folgen, liegt: Pastor J. meint, dass eventuell judenfeindliche Verse im Neuen Testament gar nicht judenfeindlich sind, dass sie im übertragenen Sinn verfasst sind und in der späteren Geschichte miss interpretiert wurden. Ich sehe es so, dass die Evangelien durchaus von Menschen, nicht etwa von Gott, geschrieben sind, und dass diese meinten, was sie schrieben und bestimmte Absichten damit verfolgten. Als Anlage schickte ich einen kurzen Text eines niederländischen Theologen mit, der diese Thematik gut erklärte. Darauf bekam ich keine Antwort, was mich enttäuschte. Es passte nicht zu dem Ehepaar, und ich fand, dass die Leute nach meiner Nachsichtigkeit nun auch mir etwas schuldig wären. Bei dieser Überlegung hatte ich nicht Herrn Bs. Tütligkeit einkalkuliert. Natürlich kam noch etwas, sogar ein Brief, dem ein Blumengutschein beigelegt war, aber einen Monat später. Eine freundliche Antwort. Die Diskussion wurde so erklärt, dass man in ihrem Kreis manchmal etwas heftig und nicht immer tolerant diskutiere. Bei mir dachte ich: ´Ach, w ü r d e t ihr doch nur diskutieren!´ Ich bedankte mich freundlich.

Der Titel dieses Berichts ´Eins greift ins Andere´ erscheint mir für meine Erlebnisse zutreffend. Denn nicht nur die Ereignisse, die ich als vielschichtig und lebendig empfunden habe, griffen ineinander. Dazu gehören Gespräche, die ich später mit anderen Menschen führte, und die Gedanken, die ausgehend von den einzelnen Erlebnissen in die verschiedensten Richtungen schweifen und immer weiter greifen können. Je nachdem ob man bereit ist, sich darauf einzulassen, kann ´eins ins andere greifen´ oder auch nicht.
(Ende)

Dienstag, 29. Oktober 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - IV)

Wir beide hatten uns auch vorgestellt, daraufhin begann ich den Vortrag. Zuerst erzählte ich die Vorgeschichte, wie es so weit gekommen ist, dass ich hier sitze: das Seminar in Güstrow, die Bekanntschaft mit Professor Schmidt, meine Rezension seines Buches in der Kirchenzeitung. Dann erzählte ich straff zusammengefasst, worum es in dem Buch geht: Welche Wirkung die sehr emotionalen und in vieler Hinsicht beeindruckenden Passionen von Bach in den Menschen hervorrufen können. Dass die Passionsmusiken sich auf Texte in den Evangelien beziehen, die eindeutig judenfeindlich sind und die eine Blutspur durch die Geschichte gezogen haben. Dass das Bewusstsein darum weder Verurteilung von Evangelien noch Passionstexten bedeuten, sondern dass man sich der Geschichte und der Wirkung bewusst sein sollte, die geschichtlichen Zusammenhänge kennen und eine Stellung dazu finden und haben solle. Rhetorisch war der Vortrag sicher nicht einwandfrei – ich bin es nicht gewohnt, Vorträge zu halten. Aber ich sprach frei und las einige selbst erlebte Anekdoten, z.B. wie ich dabei war, als eine junge mecklenburgische Pastorin der jüdischen Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide direkt und – ich würde es so bezeichnen – frech ins Gesicht sagte: „Die Juden haben Jesus gekreuzigt“ Oder ich machte die Bemerkung, dass die meisten Menschen ihre lieb gewonnen Antipathien nicht gern lassen, was auf Juden bezogen nach dem Krieg schlecht möglich war, und man die durch die Jahrhunderte gepflegte Abneigung gegen Juden kulturell transmittierte. Der Besuch der Passionsmusiken hat nach dem Krieg einen großen Aufschwung genommen, so wie nebenbei gesagt, auch die Verehrung für Wagnermusiken.

Während meines Vortrags, der etwa eine Dreiviertelstunde dauerte, schaute der Pastor mich aufmerksam an. Ich würde fast sagen, er hing an meinen Lippen. ´Was für Gespräche mögen sich mit ihm vielleicht ergeben`?, fuhr es mir durch den Kopf. Kaum hatte ich geendet und noch um eventuelle Fragen gebeten, da legte Pastor J. los, ohne überhaupt eine Denkpause zu lassen. Ja, er ging mich frontal an. Meinen Vortrag lehne er komplett ab, Judenfeindlichkeit gibt es in den Evangelien nicht und er lasse sich seinen Matthäus nicht schlecht machen. Ich fragte etwas entgeistert, was denn die Ursache für die Pogrome an den Juden, Vertreibungen und Inquisition in der Geschichte gewesen wären. Das hätte alles auf Missinterpretationen beruht, antwortete mir Pastor J.

Darauf schaltete sich ein zweiter Mann an, und der wurde schon nicht mehr theologisch, sondern menschlich aufbrausend und bewegte sich mit seinen Aussagen am Rand der Unhöflichkeit. „Ich bin sowieso dagegen, ständig in altem Schlamm zu wühlen….“ Mir fiel nichts Besseres ein als ihm zu sagen, das wäre doch nun mal Thema des Abends und dann solle er bitte nicht in der Bibel lesen, denn die wäre besonders alt. Darauf hatte er keine Antwort, was ihn noch wütender zu machen schien. Weitere Aussagen oder Fragen wurden getätigt, alle von Männern, die sich hinter ihren Pastor stellten (was ich irgendwie auch rührend fand). An manche Fragen, Aussagen und an ihre Reihenfolge kann ich mich nicht mehr erinnern. Einmal, als es mir zu dumm wurde, sagte ich: „Herr Pastor J. Sie wissen doch in der Kirchengeschichte Bescheid, erzählen sie doch bitte etwas über die Rolle der evangelischen Kirche in der Nazizeit“. Ohne Zögern gab er die Antwort: „Da gab es den verrückten Spinner Müller, aber dann gab es auch die bekennende Kirche und Bonhoeffer, und deren Rolle wird bedeutend unterschätzt“. Er erzählte noch, dass es in seiner Gemeinde einen Kelch von Bonhoeffer gegeben hat.

In mir spielten sich nun andere Gedanken ab. Als erstes empfand ich einfach nur Verblüffung. Da man mich wegen des Artikels eingeladen hatte, war ich ohne zu hinterfragen davon ausgegangen, dass eine gewisse Übereinstimmung in den Ansichten vorliegt. Aber natürlich: Herr B. hatte mich eingeladen, um ein interessantes Thema für den von ihm und seiner Frau veranstalteten Abend zu haben. Er war tütelig genug, um nicht zu erkennen, dass die Ansichten seines ehemaligen Gemeindepastors und meine nicht kompatibel waren. Wie nett das Ehepaar B. mich empfangen hatte, fiel mir ein. Wir müssen hier ´rauskommen, ohne dass es eklatmäßig zugeht, und ich darf keinen Keil in diese sonst ganz nette Gesellschaft treiben! Zwischendurch packte mich die Wut: Was, ich bin doch eingeladen worden, ich fahre 300 km mit dem Auto hierher und muss mir das anhören! Auch wunderte ich mich im Stillen, dass sich nach 40 Jahren Gesprächskreis nicht eine Gesprächskultur mit Für und Wider, Ja und Aber, Einerseits und Andererseits entwickelt hat. Zumindest bei Auseinandersetzungen hätte eine gewisse Moderation erfolgen müssen. Diese Rolle wäre natürlicherweise dem Pastor zugefallen. Ich stellte mir vor, dass die „normalen“ Gesprächsabende so stattfinden, dass einer ein Thema vorgibt, und jeder sagt nach und nach etwas „Positives“ dazu, wie ich es auch schon anderswo erlebt habe. In dieser Hinsicht war der Abend für die Gruppe vielleicht ein heilsames Erlebnis.

Sonntag, 27. Oktober 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - III)

Etwa zwei Monate nach dem Erscheinen meines Artikels in der Potsdamer Kirchenzeitung bekam ich die Anfrage von der Redaktion, ob man meine E-Mail Adresse weiter geben dürfe, weil jemand Interesse an dem Beitrag hat. Bald darauf bekam ich eine E-Mail von einem Herrn aus Potsdam, der erzählte, dass er einem christlichen Gesprächskreis angehört, der schon seit vielen Jahren monatlich zusammenkommt, um jeweils zu einem bestimmten Thema zu diskutieren. Seine Frau und er hätten meinen Artikel interessant gefunden und würden sich freuen, wenn ich einmal zu ihrem Kreis käme und der Artikel zum Diskussionsthema würde. So eine Gelegenheit hielt ich wiederum für mich interessant und außerdem reizte es mich, verschiedene Freunde in Potsdam bei der Gelegenheit zu besuchen.

Mit dem Herrn aus Potsdam, Herrn B. wechselte ich einige E-Mails. Eines Tages war es so weit, dass ein telefonischer Kontakt zustande kam. Wir sprachen noch einmal über den Termin, und Herr B. fragte mich, in welchem Stadtteil ich wohne. Ich antwortete, dass ich in gar keinem Stadtteil wohne, sondern dass ich von der Ostsee käme. Es schien mir, dass ich durchs Telefon höre, wie Herrn B. die Kinnlade herunterfiel. Er wurde verlegen und konnte es irgendwie nicht zusammenbringen, dass ich in 300 km Entfernung wohne, dass ich aber zum Gesprächskreis komme. Er machte sogar die Bemerkung, dass er der Meinung gewesen wäre, wenn man in der Potsdamer Kirchenzeitung schreibt, dass man aus Potsdam wäre. Da kam zum ersten mal der Verdacht in mir auf, dass Herr B. vielleicht etwas lebensfremd und umständlich wäre (ich bezeichnete ihn als „tütelig“). Diese Vermutung verstärkte sich, als Herr B. vor meiner Abreise mich mehrmals anrief, um mir verschiedene Hinweise zu geben. Z.B. in wie viel hundert Meter Entfernung von ihrer Wohnung ich dann parken solle, weil ich bestimmt keinen Parkplatz bekommen werde oder Hinweise, wo es am nächsten Tag Staus auf dem Weg geben werde. Was er mir schwerer vermitteln konnte war, welche Rolle ich an dem Abend einnehmen sollte und wie mein Auftreten organisatorisch vonstattengehen werde. Ich hatte mich mit einem Konzept vorbereitet und mir einige Anekdoten aufgeschrieben, die meinen Vortrag illustrieren sollten.

In Potsdam wohnte ich bei meiner Freundin, die sich bereit erklärt hatte, mich an dem Abend zu begleiten. Mit dem Auto fuhren wir in einen Potsdamer Stadtteil und fanden sofort einen Parkplatz direkt vor Familie Bs. Haustür. Wir befanden uns in einer mittelgroßen Plattenbausiedlung. Herr B. hatte mir damals am Telefon gesagt, dass seine Familie die einzige aus dem Kreis wäre, die noch in der Plattenbausiedlung, dem Ursprung des Gesprächskreises wohnt, während die anderen nach der Wende in eine andere Wohngegend zogen oder sich ein Haus gebaut hätten. Das schien ihm nichts auszumachen. Mir war es sympathisch, verstärkte aber meinen Verdacht auf eine gewisse Weltfremdheit des Mannes.

Von dem sehr freundlichen Ehepaar, ca. 70 Jahre alt, wurden wir in Empfang genommen. Die Frau schien die Energischere von beiden zu sein. Der Mann bestätigte durch eine gewisse Umständlichkeit meine ihm im Voraus unterstellte „Tütligkeit“. Beiden hatte ich ein kleines Geschenk mitgebracht, worüber sie gerührt waren. Das Wohnzimmer war zum Teil ausgeräumt und mit Sitzgelegenheiten vollgestellt. Auf einem Tisch waren Getränke und ein wenig Knabberzeug. Wir nahmen uns einen Platz, und schon kam ein Ehepaar nach dem anderen. Alles Menschen ca. zwischen 60 und 75 Jahren. Dieser Kreis hatte sich schon vor 40 Jahren – in Opposition zur DDR – gegründet. Man war wie eine Familie. Die ältesten von ihnen waren ein Pastor und seine Frau. Er war ihr damaliger Gemeindepastor, der weiterhin dem Kreis verbunden ist. Nach ein wenig Hin und Her begann ein gegenseitiges Vorstellen: Alter, Beruf und Zahl der Kinder und Enkelkinder. Überwiegend gehörten die ca. 18 Teilnehmer der technischen Intelligenz an: Ingenieure und Naturwissenschaftler überwogen.

Freitag, 25. Oktober 2019

Eins greift ins andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - II)

Ein Glanzpunkt der Tagung war der Vortrag des emeritierten Theologieprofessors und Bibelwissenschaftlers J.M. Schmidt zum Thema „Judenfeindlichkeit in den Passionsmusiken?“ Der Vortrag überzeugte durch seinen klaren Aufbau und seine differenzierte und logische Beweisführung, und der Vortragende durch seine Identifizierung mit der Thematik, einschließlich seiner Liebe zur Musik zu der auch die Passionsmusiken gehören und seine Hinwendung zu den Zuhörern. Selbst wer zum Inhalt Vorbehalte hegte, war vom Vortrag beeindruckt.

Da auch ich zu den beeindruckten Zuhörern gehörte, schickte ich an Professor Schmidt im Anschluss an das Seminar eine E-Mail, in der ich ihm dankte und meine Anerkennung sowohl für den Inhalt des Vortrags als auch für die gekonnte Darbietung zollte. Darauf bekam ich eine freundliche Antwort und den Hinweis, dass im Frühjahr eine neue Auflage seines Buches „Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Zur Geschichte ihrer religiösen und politischen Wahrnehmung und Wirkung“ erscheinen wird. Ich schrieb, dass er mich dann bitte darüber informieren möchte. In einem Anfall von Naivität fügte ich hinzu, dass ich dann eine Rezension darüber anfertige, die ich Zeitungen anbieten werde.

Im März kam der Hinweis, dass das Buch in der „Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig“ erschienen ist. Zu der Zeit befand ich mich im Krankenhaus. Ich fühlte mich nicht in der Lage, das Buch zu lesen, geschweige zu rezensieren. Besonders als ich das Buch in den Händen hatte. Es war 670 Seiten stark, in wissenschaftlicher Sprache mit unzähligen Fußnoten geschrieben. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich getrieben, die versprochene Rezension zu schreiben. So lag ich da im Krankenhaus auf meinem Bett und quälte mich durch die Seiten. Ich hatte den Eindruck, nichts zu verstehen und alles Gelesene sofort zu vergessen. Dabei entwickelte ich die Methode, alles was mir wesentlich erschien, mit Bleistift zu unterstreichen und anhand der unterstrichenen Stellen jedes Kapitel in einem Satz zusammen zu fügen. Tatsächlich bekam ich es fertig, bis Mitte April eine Rezension anzufertigen. Groß war meine Überraschung, als Professor Schmidt mir darauf antwortete, dass ich in dem Aufsatz genau seinen Intentionen entsprochen habe.

Nun schickte ich die Rezension an drei Zeitungen, an zwei kirchliche Zeitungen und an eine jüdische Zeitung. Übertriebene Erwartungen, dass der Artikel zum Druck angenommen wird, hatte ich nicht. Umso größer war die Freude, dass beide Kirchenzeitungen die Rezension druckten. Der Redakteur der jüdischen Zeitung schrieb mir, dass er die Thematik interessant fände, dass er darüber aber kaum Bescheid wisse und er nicht zu Unrecht etwas „judenfeindliches“ über Bach schreiben möchte. Darauf antwortete ich, dass es mir keinesfalls um die Person J.S. Bach gehen würde, sondern um die Wirkung, die die Passionsmusiken auf Menschen ausgeübt haben. Aber das überzeugte nicht. Mit der Veröffentlichung meiner Rezension in zwei Zeitungen erschien mir das Kapitel zufrieden stellend gelöst und damit zu Ende gebracht zu sein

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Eins greift ins andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen)

Im Sommer 2017 nahm ich in einer evangelischen Akademie in Güstrow an einem Seminar teil, das die Überschrift „Antisemitismus in den Medien“ trug. Ein wenig irreführend war der Titel, denn Medien spielten hier eine untergeordnete Rolle. Mich interessierten die Medien schon, höre ich doch oft im DLF, den Sender, der bei uns oft läuft, bösartige Beiträge, fein säuberlich und politisch korrekt immer auf „Israel“ bezogen und nicht auf „Juden“, die man aber eindeutig als antijüdisch identifizieren kann.

Das Seminar war in vieler Hinsicht hoch interessant, leider muss ich sagen, dass mir in Erinnerung besonders der Satz eines „Antisemitismusforschers“, einem jungen Mann mit zwei Doktortiteln, geblieben ist: „An dem, was man den Juden vorwirft, ist immer ein Körnchen Wahrheit“. Schlagartig erkannte ich viel über Antisemitismus und stellte die Vermutung an, dass Antisemitismusforscher entweder so gebannt auf den Antisemitismus starren, dass sie selbst davon eingenommen werden oder dass gerade ihr Hang zum Antisemitismus sie dazu leitet, diesen zu erforschen.

Interessant war die Veranstaltung ebenfalls in Bezug auf seine Teilnehmer. Ja, vielleicht interessierten diese mich mehr, als das etwas gestelzte Dozieren der jungen Referenten. Die Teilnehmer am Seminar waren eher zurückhaltend, manche wirkten unsicher, sie wollten etwas wissen, was sie dann aber doch nicht unbedingt wissen wollten. Denn sie kamen größtenteils aus christlichen Kreisen und konnten es schwer ertragen, dass „ihr“ Luther oder „ihr“ Bach auf irgendeine Weise diskreditiert werden könnten. Sie schienen sich vorzustellen, dass „Antisemitismus“ etwas Abstraktes und Statisches ist, und dass man entweder Antisemit ist oder eben nicht. Dass es Ursachen und Wirkungen, Wurzeln, Haupt- und Nebeneinflüsse geben, dass man zu etwas mehr oder weniger tendieren kann, oder dass etwas existieren könnte, was man Geist nennt, schien kaum im Bewusstsein zu sein.

Ein besonderer und herausragender Teilnehmer war ein ehemaliger Verfassungsrichter, der immer wieder und bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit auf den „Unrechtsstaat Israel“, über den er bestens Bescheid wusste obwohl er nie dort war, zu sprechen kam, was meine Vermutung über die Mutierung von Judenfeindlichkeit zu Israelfeindlichkeit erhärtete. Obwohl ihm kaum widersprochen wurde – eher aus Unvermögen als aus Einverständnis – fühlte er sich, wie er zum Schluss sagte, unverstanden, sogar angefeindet. Einige male hatte ich ihn im Verlauf des Seminars heftig zurecht gewiesen, mir wurde dabei von anderen Teilnehmern oder dem Seminarleiter ebenfalls nicht widersprochen, aber auch nicht zugestimmt.

Dienstag, 15. Oktober 2019

Gedanken über Antisemitismus

Ab und zu besuche ich eine Veranstaltung, die den Antisemitismus zum Thema hat. Weil dort eine Anzahl von fremden Menschen zusammenkommt, die sowohl aus ihrer Hilflosigkeit angesichts des Themas oder auch aus einer gewissen Besessenheit keinen Hehl machen. Immer sind die Gespräche der Menschen interessanter als die Vorträge selbst. So lernte ich bei solch einer Tagung einen pensionierten Verfassungsrichter kennen, der sich als Besucher dazu berufen fühlte, bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit auf den „Unrechtsstaat Israel und das Leid der Palästinenser“ hinzuweisen. Sein Auftreten hatte etwas von Besessenheit – ich bekam eine Ahnung davon, was Antisemitismus sein könnte. Es fielen Worte wie: „Gaza ist ein Gefängnis“ oder „jüdische Lobbygruppen mischen sich in die Politik ein“. Er ergriff das Wort, hielt Vorträge über die Entstehung Israels, ob es zum Thema passte oder nicht. Die Veranstalter erwiesen sich meist hilflos ihm gegenüber und wagten nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Ausführungen fehl am Platz wären.

Bei einer vor einigen Wochen stattgefundenen Tagung über Antisemitismus kam mir als erstes der Verfassungsrichter vor die Augen, so dass ich mir vorkam wie im Märchen vom Hasen und Igel: „Ich bin all hier!“ Diesmal hielten Referenten aus 5 osteuropäischen Ländern profunde Vorträge, wie es mit dem Antisemitismus in ihren Ländern ist, ob und wie er sich entwickelt hat, was für markante Zwischenfälle es in der Geschichte gegeben hat, wie sich die Besetzung durch die Deutschen auf das Verhalten der Bevölkerung ausgewirkt hat. Ein tschechischer Botschaftsrat referierte über den ersten Präsidenten der Republik, Tomas Masaryk, der sehr dazu beigetragen hat, dass es in Tschechien kaum Antisemitismus gibt. Der Referent berichtete über den legendären Hilsner Prozess, der etwa mit dem berühmten Dreyfuss Prozess zu vergleichen ist, und bei dem der junge Rechtsprofessor Masaryk eine ähnliche Rolle einnahm, wie in Frankreich der Schriftsteller Emile Zola. Ein jüdischer Hausierer war des Ritualmordes angeklagt, und Professor Masaryk konnte die Anklage widerlegen und verhalf dazu, dass das Todesurteil gegen den Hausierer Hilsner zurück genommen wurde. Der Vortrag ging weiter, und auf Nachfrage, wie es in der Gegenwart wäre, sagte der Botschaftsrat, dass Antisemitismus in Tschechien eigentlich nur von dort lebenden Palästinensern, also von außerhalb, ausgeht.

Da war das Stichwort für den Verfassungsrichter gefallen. Er fragte, wie es möglich sei, Palästinenser und Vorfälle aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts in einem Atemzug zu nennen. Den Tschechen brachte das nicht im Geringsten in Verlegenheit: „Sie haben in meinem Vortrag auf dem Bildschirm die Abbildungen der antisemitischen Stereotype gesehen, die während der Hilsner Hysterie gedruckt und verbreitet wurden. Genau solche Abbildungen werden heute von Palästinensern über Juden verbreitet“. Die Antwort war so einfach, klar und verständlich, dass dem Verfassungsrichter keine Entgegnung einfiel.

Mittwoch, 9. Oktober 2019

Sah Westdeutschland in der DDR einen Unrechtsstaat? Oder: Staat liebt Staat

Folgendes erzählte mir ein Bekannter. Ich fragte ihn, was seine Frau für einen Beruf hat, und er antwortete, dass sie Lehrerin an einer Schule für Behinderte ist. Ihre Ausbildung hat sie in der DDR in den kirchlichen Fürstenwalder Samariteranstalten zur Psychiatriediakonin gemacht und hatte schon mehrere Jahre Praxis in der Arbeit mit behinderten Menschen, als die Mauer fiel. Solcherart Ausbildungen gab es in der DDR an mehreren Orten und zu verschiedenen sozialen Berufen. Kennzeichen der kirchlich ausgebildeten Berufe war es, dass der DDR-Staat sie nicht anerkannte, obwohl durch die Westkontakte der Kirchen die Ausbildungen breiter und qualifizierter als vergleichbare staatliche waren. Die Ausgebildeten arbeiteten normalerweise sowieso in kirchlichen Einrichtungen. So viel hatte ich gewusst.

Was ich nicht gewusst hatte war, dass der DDR-Staat diese Berufe aus dem Grund nicht anerkannte, weil die nötige politische Qualifizierung, d.h. das Studieren der Lehren von Marx und Engels und die dazu gehörenden Prüfungen in kirchlichen Ausbildungen fehlten. Im Zuge der Einigungsverhandlungen kam auch dieses Thema zur Sprache, und es war offensichtlich: der westdeutsche Staat kann die kirchlichen Berufe nicht anerkennen, wenn sie nicht den DDR-staatlichen Abschluss haben. Auch wenn die Leute schon Jahre Berufserfahrung hatten. Allerdings hatten sie später die Möglichkeit, in Gesamtdeutschland noch eine Zusatzschulung samt Berufsanerkennung zu machen (ob nun auch in Marxismus-Leninismus? Wohl eher nicht.), von der die meisten einen Gewinn hatten. So auch die Frau meines Bekannten.

Ärgerlich war es trotzdem, weil bei Neugründungen von Schulen oder sozialen Einrichtungen die ehemaligen Pionierleiterinnen mit ihrem DDR-Grundschullehrerabschluss den "unqualifizierten" kirchlichen Mitarbeitern trotz Berufserfahrung vorgezogen wurden.

Allerdings hatte man der Frau meines Bekannten schon vor der Vereinigung noch etwas anderes angeboten: In dem halben Jahr, als es die so genannte demokratische DDR gab, also die mit der frei gewählten Volkskammer, da gab man den „beruflich nicht Anerkannten“ die Möglichkeit, noch in Kursen und im Eiltempo den Marxismus-Leninismus zu studieren und eine dazu gehörende Abschlussprüfung abzulegen. Dann wären sie zu voll vom DDR-Staat und somit auch vom BRD-Staat anerkannten Berufskräften geworden. Mein Bekannter sagte, da wären sich seine Frau und andere zu blöd vorgekommen, und sie nahmen lieber die Nachschulung im Westen – in welchen Fächern auch immer – in Kauf.

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