Sonntag, 27. Oktober 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - III)

Etwa zwei Monate nach dem Erscheinen meines Artikels in der Potsdamer Kirchenzeitung bekam ich die Anfrage von der Redaktion, ob man meine E-Mail Adresse weiter geben dürfe, weil jemand Interesse an dem Beitrag hat. Bald darauf bekam ich eine E-Mail von einem Herrn aus Potsdam, der erzählte, dass er einem christlichen Gesprächskreis angehört, der schon seit vielen Jahren monatlich zusammenkommt, um jeweils zu einem bestimmten Thema zu diskutieren. Seine Frau und er hätten meinen Artikel interessant gefunden und würden sich freuen, wenn ich einmal zu ihrem Kreis käme und der Artikel zum Diskussionsthema würde. So eine Gelegenheit hielt ich wiederum für mich interessant und außerdem reizte es mich, verschiedene Freunde in Potsdam bei der Gelegenheit zu besuchen.

Mit dem Herrn aus Potsdam, Herrn B. wechselte ich einige E-Mails. Eines Tages war es so weit, dass ein telefonischer Kontakt zustande kam. Wir sprachen noch einmal über den Termin, und Herr B. fragte mich, in welchem Stadtteil ich wohne. Ich antwortete, dass ich in gar keinem Stadtteil wohne, sondern dass ich von der Ostsee käme. Es schien mir, dass ich durchs Telefon höre, wie Herrn B. die Kinnlade herunterfiel. Er wurde verlegen und konnte es irgendwie nicht zusammenbringen, dass ich in 300 km Entfernung wohne, dass ich aber zum Gesprächskreis komme. Er machte sogar die Bemerkung, dass er der Meinung gewesen wäre, wenn man in der Potsdamer Kirchenzeitung schreibt, dass man aus Potsdam wäre. Da kam zum ersten mal der Verdacht in mir auf, dass Herr B. vielleicht etwas lebensfremd und umständlich wäre (ich bezeichnete ihn als „tütelig“). Diese Vermutung verstärkte sich, als Herr B. vor meiner Abreise mich mehrmals anrief, um mir verschiedene Hinweise zu geben. Z.B. in wie viel hundert Meter Entfernung von ihrer Wohnung ich dann parken solle, weil ich bestimmt keinen Parkplatz bekommen werde oder Hinweise, wo es am nächsten Tag Staus auf dem Weg geben werde. Was er mir schwerer vermitteln konnte war, welche Rolle ich an dem Abend einnehmen sollte und wie mein Auftreten organisatorisch vonstattengehen werde. Ich hatte mich mit einem Konzept vorbereitet und mir einige Anekdoten aufgeschrieben, die meinen Vortrag illustrieren sollten.

In Potsdam wohnte ich bei meiner Freundin, die sich bereit erklärt hatte, mich an dem Abend zu begleiten. Mit dem Auto fuhren wir in einen Potsdamer Stadtteil und fanden sofort einen Parkplatz direkt vor Familie Bs. Haustür. Wir befanden uns in einer mittelgroßen Plattenbausiedlung. Herr B. hatte mir damals am Telefon gesagt, dass seine Familie die einzige aus dem Kreis wäre, die noch in der Plattenbausiedlung, dem Ursprung des Gesprächskreises wohnt, während die anderen nach der Wende in eine andere Wohngegend zogen oder sich ein Haus gebaut hätten. Das schien ihm nichts auszumachen. Mir war es sympathisch, verstärkte aber meinen Verdacht auf eine gewisse Weltfremdheit des Mannes.

Von dem sehr freundlichen Ehepaar, ca. 70 Jahre alt, wurden wir in Empfang genommen. Die Frau schien die Energischere von beiden zu sein. Der Mann bestätigte durch eine gewisse Umständlichkeit meine ihm im Voraus unterstellte „Tütligkeit“. Beiden hatte ich ein kleines Geschenk mitgebracht, worüber sie gerührt waren. Das Wohnzimmer war zum Teil ausgeräumt und mit Sitzgelegenheiten vollgestellt. Auf einem Tisch waren Getränke und ein wenig Knabberzeug. Wir nahmen uns einen Platz, und schon kam ein Ehepaar nach dem anderen. Alles Menschen ca. zwischen 60 und 75 Jahren. Dieser Kreis hatte sich schon vor 40 Jahren – in Opposition zur DDR – gegründet. Man war wie eine Familie. Die ältesten von ihnen waren ein Pastor und seine Frau. Er war ihr damaliger Gemeindepastor, der weiterhin dem Kreis verbunden ist. Nach ein wenig Hin und Her begann ein gegenseitiges Vorstellen: Alter, Beruf und Zahl der Kinder und Enkelkinder. Überwiegend gehörten die ca. 18 Teilnehmer der technischen Intelligenz an: Ingenieure und Naturwissenschaftler überwogen.

Freitag, 25. Oktober 2019

Eins greift ins andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - II)

Ein Glanzpunkt der Tagung war der Vortrag des emeritierten Theologieprofessors und Bibelwissenschaftlers J.M. Schmidt zum Thema „Judenfeindlichkeit in den Passionsmusiken?“ Der Vortrag überzeugte durch seinen klaren Aufbau und seine differenzierte und logische Beweisführung, und der Vortragende durch seine Identifizierung mit der Thematik, einschließlich seiner Liebe zur Musik zu der auch die Passionsmusiken gehören und seine Hinwendung zu den Zuhörern. Selbst wer zum Inhalt Vorbehalte hegte, war vom Vortrag beeindruckt.

Da auch ich zu den beeindruckten Zuhörern gehörte, schickte ich an Professor Schmidt im Anschluss an das Seminar eine E-Mail, in der ich ihm dankte und meine Anerkennung sowohl für den Inhalt des Vortrags als auch für die gekonnte Darbietung zollte. Darauf bekam ich eine freundliche Antwort und den Hinweis, dass im Frühjahr eine neue Auflage seines Buches „Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Zur Geschichte ihrer religiösen und politischen Wahrnehmung und Wirkung“ erscheinen wird. Ich schrieb, dass er mich dann bitte darüber informieren möchte. In einem Anfall von Naivität fügte ich hinzu, dass ich dann eine Rezension darüber anfertige, die ich Zeitungen anbieten werde.

Im März kam der Hinweis, dass das Buch in der „Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig“ erschienen ist. Zu der Zeit befand ich mich im Krankenhaus. Ich fühlte mich nicht in der Lage, das Buch zu lesen, geschweige zu rezensieren. Besonders als ich das Buch in den Händen hatte. Es war 670 Seiten stark, in wissenschaftlicher Sprache mit unzähligen Fußnoten geschrieben. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich getrieben, die versprochene Rezension zu schreiben. So lag ich da im Krankenhaus auf meinem Bett und quälte mich durch die Seiten. Ich hatte den Eindruck, nichts zu verstehen und alles Gelesene sofort zu vergessen. Dabei entwickelte ich die Methode, alles was mir wesentlich erschien, mit Bleistift zu unterstreichen und anhand der unterstrichenen Stellen jedes Kapitel in einem Satz zusammen zu fügen. Tatsächlich bekam ich es fertig, bis Mitte April eine Rezension anzufertigen. Groß war meine Überraschung, als Professor Schmidt mir darauf antwortete, dass ich in dem Aufsatz genau seinen Intentionen entsprochen habe.

Nun schickte ich die Rezension an drei Zeitungen, an zwei kirchliche Zeitungen und an eine jüdische Zeitung. Übertriebene Erwartungen, dass der Artikel zum Druck angenommen wird, hatte ich nicht. Umso größer war die Freude, dass beide Kirchenzeitungen die Rezension druckten. Der Redakteur der jüdischen Zeitung schrieb mir, dass er die Thematik interessant fände, dass er darüber aber kaum Bescheid wisse und er nicht zu Unrecht etwas „judenfeindliches“ über Bach schreiben möchte. Darauf antwortete ich, dass es mir keinesfalls um die Person J.S. Bach gehen würde, sondern um die Wirkung, die die Passionsmusiken auf Menschen ausgeübt haben. Aber das überzeugte nicht. Mit der Veröffentlichung meiner Rezension in zwei Zeitungen erschien mir das Kapitel zufrieden stellend gelöst und damit zu Ende gebracht zu sein

Mittwoch, 23. Oktober 2019

Eins greift ins andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen)

Im Sommer 2017 nahm ich in einer evangelischen Akademie in Güstrow an einem Seminar teil, das die Überschrift „Antisemitismus in den Medien“ trug. Ein wenig irreführend war der Titel, denn Medien spielten hier eine untergeordnete Rolle. Mich interessierten die Medien schon, höre ich doch oft im DLF, den Sender, der bei uns oft läuft, bösartige Beiträge, fein säuberlich und politisch korrekt immer auf „Israel“ bezogen und nicht auf „Juden“, die man aber eindeutig als antijüdisch identifizieren kann.

Das Seminar war in vieler Hinsicht hoch interessant, leider muss ich sagen, dass mir in Erinnerung besonders der Satz eines „Antisemitismusforschers“, einem jungen Mann mit zwei Doktortiteln, geblieben ist: „An dem, was man den Juden vorwirft, ist immer ein Körnchen Wahrheit“. Schlagartig erkannte ich viel über Antisemitismus und stellte die Vermutung an, dass Antisemitismusforscher entweder so gebannt auf den Antisemitismus starren, dass sie selbst davon eingenommen werden oder dass gerade ihr Hang zum Antisemitismus sie dazu leitet, diesen zu erforschen.

Interessant war die Veranstaltung ebenfalls in Bezug auf seine Teilnehmer. Ja, vielleicht interessierten diese mich mehr, als das etwas gestelzte Dozieren der jungen Referenten. Die Teilnehmer am Seminar waren eher zurückhaltend, manche wirkten unsicher, sie wollten etwas wissen, was sie dann aber doch nicht unbedingt wissen wollten. Denn sie kamen größtenteils aus christlichen Kreisen und konnten es schwer ertragen, dass „ihr“ Luther oder „ihr“ Bach auf irgendeine Weise diskreditiert werden könnten. Sie schienen sich vorzustellen, dass „Antisemitismus“ etwas Abstraktes und Statisches ist, und dass man entweder Antisemit ist oder eben nicht. Dass es Ursachen und Wirkungen, Wurzeln, Haupt- und Nebeneinflüsse geben, dass man zu etwas mehr oder weniger tendieren kann, oder dass etwas existieren könnte, was man Geist nennt, schien kaum im Bewusstsein zu sein.

Ein besonderer und herausragender Teilnehmer war ein ehemaliger Verfassungsrichter, der immer wieder und bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit auf den „Unrechtsstaat Israel“, über den er bestens Bescheid wusste obwohl er nie dort war, zu sprechen kam, was meine Vermutung über die Mutierung von Judenfeindlichkeit zu Israelfeindlichkeit erhärtete. Obwohl ihm kaum widersprochen wurde – eher aus Unvermögen als aus Einverständnis – fühlte er sich, wie er zum Schluss sagte, unverstanden, sogar angefeindet. Einige male hatte ich ihn im Verlauf des Seminars heftig zurecht gewiesen, mir wurde dabei von anderen Teilnehmern oder dem Seminarleiter ebenfalls nicht widersprochen, aber auch nicht zugestimmt.

Dienstag, 15. Oktober 2019

Gedanken über Antisemitismus

Ab und zu besuche ich eine Veranstaltung, die den Antisemitismus zum Thema hat. Weil dort eine Anzahl von fremden Menschen zusammenkommt, die sowohl aus ihrer Hilflosigkeit angesichts des Themas oder auch aus einer gewissen Besessenheit keinen Hehl machen. Immer sind die Gespräche der Menschen interessanter als die Vorträge selbst. So lernte ich bei solch einer Tagung einen pensionierten Verfassungsrichter kennen, der sich als Besucher dazu berufen fühlte, bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit auf den „Unrechtsstaat Israel und das Leid der Palästinenser“ hinzuweisen. Sein Auftreten hatte etwas von Besessenheit – ich bekam eine Ahnung davon, was Antisemitismus sein könnte. Es fielen Worte wie: „Gaza ist ein Gefängnis“ oder „jüdische Lobbygruppen mischen sich in die Politik ein“. Er ergriff das Wort, hielt Vorträge über die Entstehung Israels, ob es zum Thema passte oder nicht. Die Veranstalter erwiesen sich meist hilflos ihm gegenüber und wagten nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Ausführungen fehl am Platz wären.

Bei einer vor einigen Wochen stattgefundenen Tagung über Antisemitismus kam mir als erstes der Verfassungsrichter vor die Augen, so dass ich mir vorkam wie im Märchen vom Hasen und Igel: „Ich bin all hier!“ Diesmal hielten Referenten aus 5 osteuropäischen Ländern profunde Vorträge, wie es mit dem Antisemitismus in ihren Ländern ist, ob und wie er sich entwickelt hat, was für markante Zwischenfälle es in der Geschichte gegeben hat, wie sich die Besetzung durch die Deutschen auf das Verhalten der Bevölkerung ausgewirkt hat. Ein tschechischer Botschaftsrat referierte über den ersten Präsidenten der Republik, Tomas Masaryk, der sehr dazu beigetragen hat, dass es in Tschechien kaum Antisemitismus gibt. Der Referent berichtete über den legendären Hilsner Prozess, der etwa mit dem berühmten Dreyfuss Prozess zu vergleichen ist, und bei dem der junge Rechtsprofessor Masaryk eine ähnliche Rolle einnahm, wie in Frankreich der Schriftsteller Emile Zola. Ein jüdischer Hausierer war des Ritualmordes angeklagt, und Professor Masaryk konnte die Anklage widerlegen und verhalf dazu, dass das Todesurteil gegen den Hausierer Hilsner zurück genommen wurde. Der Vortrag ging weiter, und auf Nachfrage, wie es in der Gegenwart wäre, sagte der Botschaftsrat, dass Antisemitismus in Tschechien eigentlich nur von dort lebenden Palästinensern, also von außerhalb, ausgeht.

Da war das Stichwort für den Verfassungsrichter gefallen. Er fragte, wie es möglich sei, Palästinenser und Vorfälle aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts in einem Atemzug zu nennen. Den Tschechen brachte das nicht im Geringsten in Verlegenheit: „Sie haben in meinem Vortrag auf dem Bildschirm die Abbildungen der antisemitischen Stereotype gesehen, die während der Hilsner Hysterie gedruckt und verbreitet wurden. Genau solche Abbildungen werden heute von Palästinensern über Juden verbreitet“. Die Antwort war so einfach, klar und verständlich, dass dem Verfassungsrichter keine Entgegnung einfiel.

Mittwoch, 9. Oktober 2019

Sah Westdeutschland in der DDR einen Unrechtsstaat? Oder: Staat liebt Staat

Folgendes erzählte mir ein Bekannter. Ich fragte ihn, was seine Frau für einen Beruf hat, und er antwortete, dass sie Lehrerin an einer Schule für Behinderte ist. Ihre Ausbildung hat sie in der DDR in den kirchlichen Fürstenwalder Samariteranstalten zur Psychiatriediakonin gemacht und hatte schon mehrere Jahre Praxis in der Arbeit mit behinderten Menschen, als die Mauer fiel. Solcherart Ausbildungen gab es in der DDR an mehreren Orten und zu verschiedenen sozialen Berufen. Kennzeichen der kirchlich ausgebildeten Berufe war es, dass der DDR-Staat sie nicht anerkannte, obwohl durch die Westkontakte der Kirchen die Ausbildungen breiter und qualifizierter als vergleichbare staatliche waren. Die Ausgebildeten arbeiteten normalerweise sowieso in kirchlichen Einrichtungen. So viel hatte ich gewusst.

Was ich nicht gewusst hatte war, dass der DDR-Staat diese Berufe aus dem Grund nicht anerkannte, weil die nötige politische Qualifizierung, d.h. das Studieren der Lehren von Marx und Engels und die dazu gehörenden Prüfungen in kirchlichen Ausbildungen fehlten. Im Zuge der Einigungsverhandlungen kam auch dieses Thema zur Sprache, und es war offensichtlich: der westdeutsche Staat kann die kirchlichen Berufe nicht anerkennen, wenn sie nicht den DDR-staatlichen Abschluss haben. Auch wenn die Leute schon Jahre Berufserfahrung hatten. Allerdings hatten sie später die Möglichkeit, in Gesamtdeutschland noch eine Zusatzschulung samt Berufsanerkennung zu machen (ob nun auch in Marxismus-Leninismus? Wohl eher nicht.), von der die meisten einen Gewinn hatten. So auch die Frau meines Bekannten.

Ärgerlich war es trotzdem, weil bei Neugründungen von Schulen oder sozialen Einrichtungen die ehemaligen Pionierleiterinnen mit ihrem DDR-Grundschullehrerabschluss den "unqualifizierten" kirchlichen Mitarbeitern trotz Berufserfahrung vorgezogen wurden.

Allerdings hatte man der Frau meines Bekannten schon vor der Vereinigung noch etwas anderes angeboten: In dem halben Jahr, als es die so genannte demokratische DDR gab, also die mit der frei gewählten Volkskammer, da gab man den „beruflich nicht Anerkannten“ die Möglichkeit, noch in Kursen und im Eiltempo den Marxismus-Leninismus zu studieren und eine dazu gehörende Abschlussprüfung abzulegen. Dann wären sie zu voll vom DDR-Staat und somit auch vom BRD-Staat anerkannten Berufskräften geworden. Mein Bekannter sagte, da wären sich seine Frau und andere zu blöd vorgekommen, und sie nahmen lieber die Nachschulung im Westen – in welchen Fächern auch immer – in Kauf.

Donnerstag, 3. Oktober 2019

Zum Tag der deutschen Einheit

Die deutsche Einheit hat zwar keinen „runden Geburtstag“, dafür aber der Fall der Mauer in gut einem Monat. Wenn man Berichte und Kommentare liest oder hört, meint man, gewisse Verstimmungen herauszuhören. Oft macht man die Ungleichheit zwischen beiden Teilen Deutschlands an den Prozenten fest, wie diese oder jene Geldeinnahme (Löhne, Renten) in dem jeweiligen Landesteil vonstattengeht. Und da fühlt sich derjenige, der weniger hat, „abgehängt“. Ich behaupte, dass jeder einzelne ehemalige DDR-Mensch – ob er so oder so viele oder wenige Prozente bekommt -, ungleich mehr an Materiellem hat, als er es sich vor Fall der Mauer erträumte, einmal besitzen zu können. Selbst ein armer Schlucker kann jetzt einen Farbfernseher besitzen, sogar ein Auto, was für ihn als DDR-Bürger überhaupt das ganze Lebensziel war. Von Smartphones träumte damals noch niemand.

Die Unzufriedenheit, die man meint herauszuhören, muss von etwas anderem herrühren. Damit meine ich, dass gesellschaftliche Verwerfungen entstehen, wenn man Lüge zur Grundlage der Gesellschaft macht.

In der DDR haben wir es erlebt. Wir erlebten, wie diejenigen, die die Gesellschaft bestimmten, das öffentliche Leben zu einem Lügengebilde machten. Darin hatte zwar manches seine Stimmigkeit, aber eben nur so lange man die Lüge als allgemein gültig annahm. Beispielswese wurde immer wieder betont: Der Sozialismus ist wissenschaftlich, und nach der Wissenschaft kommt nach dem Sozialismus zwangsläufig der Kommunismus. Wir lernten im Staatsbürgerkundeunterricht, dass es eine Basis und einen Überbau gibt. Stimmt die Basis nicht, dann kann der Überbau noch so in sich stimmig sein und trotzdem ist das ganze Gebilde, bzw. die jeweilige Gesellschaft falsch – damit meinte man zweifellos die kapitalistische Gesellschaft.

In Wirklichkeit stimmte etwas an der „Basis“ der DDR nicht, und das führte auch zu ihrem Ende. Die DDR-Bürger hatten von ihrer „Basis“ die Nase voll, und letztendlich, sobald sich ein kleiner „Riss“ in der Mauer aufgetan hatte, stimmten sie mit den Füßen ab. Nicht jeder wünschte sich das Gleiche, viele hatten Materielles im Sinn, manche die Reisefreiheit und einige die Freiheit überhaupt. Man rätselt heute, was das Startsignal zur Implosion der DDR war. Manche meinenn, die Biermann-Ausbürgerung, manche meinenn die Tatsache, dass einem immer größeren Personenkreis Privatreisen in den Westen erlaubt waren, manche meinen, die „Basis“ stimmte nicht.

Ob die Unzufriedenheit, die man heute über den Stand der deutschen Einheit heraushört, vielleicht auch damit zu tun hat, dass die „Basis“ nicht stimmt? Unter Basis meine ich, die Vorstellung, dass die deutsche Einheit sich auf einer "friedlichen Revolution" gründe. Dabei wird außer Acht gelassen, dass fast niemand von denen, die Anstoß zur friedlichen Revolution gaben, die deutsche Einheit zum Ziel hatte, sondern dass praktisch alle Bürgerrechtler eine reformierte DDR anstrebten. Man soll den friedlichen Revolutionären ihren Ruhm lassen. Zum Ende der DDR haben sie beigetragen, aber nur in einem gewissen Maße. Die DDR wäre auf jeden Fall implodiert. Vielleicht wäre es nicht ganz so friedlich zugegangen. Wahrscheinlich wäre die Unzufriedenheit auf beiden Seiten nicht so groß, wenn man ehrlicher mit der Geschichte umginge.

Montag, 30. September 2019

Greta ist eine Kunstfigur, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat

Es kommt in Unterhaltungen immer einmal vor, dass die Rede auf das Phänomen „Greta“ kommt. Nicht „Greta“ halte ich für ein Phänomen, sondern wie die Welt der so genannten Erwachsenen mit ihr umgeht und was sie in sie hineinsieht. Das Leben Gretas gäbe Stoff für einen jener Romane von dem man nach dem Lesen sagt: „Sehr skurril, aber von der Wirklichkeit ziemlich weit entfernt!“ Mir erscheint Greta als eine Kunstfigur, die Franz Kafka für einen Roman über eine absurde Welt hätte erfinden können.

Kurz gesagt: ich bin eine Gretaskeptikerin, und ich scheue mich nicht, das hier und da auszusprechen. Im Bekanntenkreis bekomme ich darauf einhellig, als hätten sich diejenigen abgesprochen, die Antwort: „Es ist gut und sehr wichtig, dass die Jugend so engagiert da heran geht und sich Gedanken macht!“ Da kann man heraushören, dass derjenige damit sagen will: ´Auf unsere Generation trifft die Klimschützereuphorie nicht unbedingt zu, aber wir setzen unsere Hoffnung in die Kinder, die sich dieses ´brennenden´ Themas an unserer Stelle annehmen. Es ist ja ihre Zukunft, sie werden es schon machen`. Ich verteidige meine Meinung, dass sowohl Greta als auch ihre Jünger ideologisierte Kinder sind, und dass der Gretawahn sogar schädlich für die Menschheit ist, denn sie offenbart vor aller Augen, dass es nicht das geringste ausmacht, dass was jemand sagt und was er tut, nichts gemeinsam hat, und dass diese Tatsache allgemein anerkannt ist. Als Beispiel nenne ich den stv. Chefredakteur der „ZEIT“ Bernd Ulrich, der Bücher über Ökologie schreibt, „Klimaskeptiker“ verteufelt, und sowohl er als auch seine Kollegen organisieren und werben und fahren als Reisebegleiter mit auf teure Kreuzfahrten in alle Welt. Wahrscheinlich ist es von Vorteil, in der ehemaligen DDR aufgewachsen zu sein, denn da hat man ein gutes Gespür erworben für den Antagonismus zwischen Wort und Tat.

Am 28.9. hörte ich nebenbei im Autoradio eine Sendung des DLF, in der es darum ging, wie Klassenfahrten heutzutage geplant und durchgeführt werden. Da offenbarte sich ein Bild der Schülerschaft, die mit meiner vorher gesagten Theorie, nicht aber mit den Theorien der „Greta-Anhänger“ übereinstimmt. Eine Lehrerin wurde gefragt, ob Flugreisen in Zeiten des Klimaschutzes nicht obsolet seien. Die Lehrerin antwortete, dass ihr das schon bewusst sei, aber ihre Schüler würden sich wohl weigern, 20 Stunden mit dem Bus zu fahren. Ein weiterer Lehrer sagte, dass er sich wünschen würde, als Abschlussfahrt mit der Abiturklasse z.B. einen Fluss von der Quelle bis zur Mündung mit Rädern abzufahren, weil das mehr Erlebnis- und Gemeinschaftsgewinn brächte, aber da würden seine Schüler nicht mitmachen. Auch das "Chillen" dürfte auf Klassenfahrten nicht unberücksichtigt bleiben.
Selbstverständlich machte es niemanden etwas aus, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen.

Sonntag, 1. September 2019

Meine Reise in die Ukraine vom 14. bis zum 23. Juni 2019 (Teil 8)

Das Grab von Rabbi Nachman sahen wir uns am nächsten Tag an, es gab einige kuriose Geschichten rundherum. Ein damals junger Jude aus den USA hatte sich noch vor Ende der Sowjetunion auf abenteuerliche Weise auf den Weg nach Uman, damals eine „verbotene Stadt“ begeben, dort das Grab, das noch von einer Betondecke überzogen war, ausfindig gemacht, und es entwickelte sich, dank der „Wende“, ein gewaltiger Kult um Rabbi Nachman, der hauptsächlich von amerikanischen und israelischen Juden betrieben wird. Inzwischen hat sich das so entwickelt, dass zur Freude der Umaner – denn sie profitieren davon -, schon ein beträchtlicher Teil von großen Gebäuden rings-umher jüdisch ist. Man erkannte es an den Aufschriften. Es gibt Hotels, Läden und was sonst noch so nötig ist. Manches ist noch provisorisch, z.B. die Tunnelwege, links für die Männer, rechts für die Frauen, die abenteuerlich wirken mit Blech- und Bretterverkleidungen. Man gelangt durch den Tunnel in einen Gebetssaal. In einer Ecke steht ein halbes Grab direkt an der Wand. An der anderen Seite der Wand steht die andere Hälfte des Sarkophages in einem Gebetssaal für Männer.


ukraine_105

provisorischer Tunnelweg zu Rabbi Nachmanns Sarkophag

ukraine_104

Rabbi Nachmans Sarkopharg rechts hinten

Unserem Besuch von Rabbi Nachmans Sarkophag anschließend, besichtigten wir, geführt von einer einheimischen Frau, den berühmten Sophienpark (die einzige Stelle, wo ich Ansichtskarten erwerben konnte), ein Landschaftspark, der mich trotz großer Unterschiede an die Pückler-Parkanlagen bei uns erinnerte. Kennzeichen des Parks waren die gewaltigen Steinaufbauten, die sich gut in die Landschaft einfügten. Dazu Pavillons, eine Quelle, Teiche, Grotten, Blumenanlagen, eine Fontäne, Statuen und demnächst wird es noch einen kleinen Zoo geben.

Bei dem Transport und dem Aufstellen der monströsen Steine - damals alles manuell bewältigt -, sind mehrere Menschen um´s Leben gekommen, und so heißt ein besonders großer und bizarrer Stein: Stein des Todes.

Am nächsten Tag begaben wir uns auf den Weg nach Shytomyr. Wir fuhren ein Stück ukrainischer Autobahn, die teilweise sogar einen glatten Belag hatte. Man konnte an gekennzeichneten Stellen wenden. Sie hatte eher Ähnlichkeit mit unseren Überlandstraßen. Hier war mehr Landschaft zu sehen: viele Sonnenblumenfelder noch nicht blühend, reifendes Getreide, das einen an die ukrainische Fahne denken ließ. Dabei hatten wir das, was ich als „echtes Erlebnis“ bezeichne, also etwas, was nicht erwartet wurde und was zudem einen Einblick ins Land verschafft. Auf der Straße war ein LKW, mit einem großen Container beladen, möglicherweise beim Umfahren eines Schlaglochs, im Straßengraben gelandet. Da die Straße vom Bergungsauto und zwei großen Kränen versperrt war, blieb uns nichts anderes übrig, als der Bergung des Lasters, ca. ¾ Stunde zuzusehen, und es war für uns ein zusätzliches Reiseerlebnis.

Mit Verspätung kamen wir in Shytomyr an, aber das Abendbrot stand noch für uns bereit, was nach dem kleinen Abenteuer besonders gut schmeckte. Die ukrainische Küche kann ich nur loben. Grundsätzlich gibt es vor jeder Mahlzeit einen wohl schmeckenden frischen Salat. Und nie verließen wir ohne ein Dessert verschiedenster Art den Tisch.

Unser Führer am nächsten Tag, Freitag, war wieder ein Germanist der dortigen Universität, der Brecht- und Biermannspezialist. Er zeigte uns sein Brechtarchiv in einer Schule, das ein entfernter Bekannter von mir mit eingerichtet hat. Hier in dieser Stadt wurde der Pianist Swjatoslav Richter geboren, ein Russlanddeutscher, und der polnische Dichter und Auschwitzüberlebende Tadeusz Borowski. Michail Bulgakov, dessen Schwester in Shytomyr lebte, hat hier seinen Roman „Die weiße Garde“ geschrieben, ein Buch, das ich mehrmals gelesen habe. Die Stadt wurde immer von vielen Völkerschaften bewohnt, die manchmal friedlich, manchmal im gegenseitigen Kampf miteinander lebten. Der Großvater von Lenin war in dieser Stadt ein angesehener Arzt, der immer noch verehrt wird, weil er einst dem noch viel mehr verehrten Nationaldichter Schewtschenko das Leben rettete. Obgleich in der Ukraine viele Menschen Schewtschenko heißen, war der Dichter Taras Schewtschenko der bedeutendste dieser Art, und viele nach dem Umsturz beseitigten Lenindenkmäler wurden durch Schewtschenko-Denkmäler ersetzt., wir sahen mehrere.

Die Umgebung von Shytomyr ist sehr waldreich, dementsprechend gibt es wenig Landwirtschaft. Die Stadt liegt an einem Nebenfluss des Dnjepr, am Teteriv, der in Schytomyr eine eindrucksvolle Flusskaskade hat und über den es eine Hängebrücke als Fußgängerbrücke gibt, auf der die Einwohner zum Spazierengehen in die Wälder gehen können. Wir sahen das Naturkundemuseum von außen, das in einer prächtigen Kathedrale untergebracht ist. Eine Kreativstube, in der Kinder zu künstlerischer Arbeit angeleitet werden, und die wir besuchten, gab uns einen kleinen Einblick in das Alltagsleben. Die Synagoge von Schytomyr war zu Sowjetzeiten ein öffentliches Bad. Sie ist inzwischen vollkommen erneuert.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Filme über den Holocaust
1978 lief im Fernsehen der inzwischen berühmte Film...
anne.c - 2. Mai, 14:50
Vier ehemalige Diplomaten...
Vier ehemalige Diplomaten haben in der FAZ einen Artikel...
anne.c - 24. Apr, 09:22
Karfreitag
Karfreitag – Kreuzigung Jesu. Da fällt mir eine Begebenheit...
anne.c - 19. Apr, 09:23
Wiederbegegnung
Vor acht Jahren berichtete ich darüber, wie ein Bischof...
anne.c - 10. Apr, 21:30
Diskrepanz oder Kooperation...
Schon zu lange dauert der Krieg zwischen Israel und...
anne.c - 2. Apr, 18:34
Das hätte ich mir nie...
Diesen Ausspruch hört man oft. Manchmal sind es die...
anne.c - 25. Mär, 09:20
Ich fühle mich nicht...
In einem „Spiegel“-Exemplar vom Januar konnte ich ein...
anne.c - 15. Mär, 22:17
No other Land
Zufällig las ich eine Nachricht in einem Nachrichtenportal,...
anne.c - 8. Mär, 20:57
Lager Svatobořice
(Bildunterschrift: Hier begannen sie diejenigen aus...
anne.c - 2. Mär, 16:12
Familie Bibas
Auch mich,so wie unzählige Menschen berühren und erschrecken...
anne.c - 22. Feb, 19:03

Links

Suche

 

Status

Online seit 5011 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2. Mai, 14:50

Disclaimer

Entsprechend dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12.05.1998 gilt für alle Links und Kommentare auf diesem Blog: Ich distanziere mich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller verlinkten Seitenadressen und aller Kommentare, mache mir diese Inhalte nicht zu eigen und übernehme für sie keinerlei Haftung.

Impressum

Anne Cejp
Birkenstr. 13
18374 Zingst