Samstag, 21. Dezember 2019

Rentnerreisen - damals und heute

Das „West-Reisen“ war in den Gedanken eines Ostbürgers übermächtig: Wer darf, wer darf nicht, dazu die eifrig zwischen Ost und West umherreisenden Rentner. Ich habe sogar einen aufregenden Fall von mehreren zeitweiligen Ost-West Reisen mit Paß- und Identitätstausch erlebt, – es war einfach ein unerschöpfliches Thema. Zwei kleine Anekdoten, die zusammen passen:

Die eine ist noch nicht lange her. Im Steuerbüro fragte mich zum Abschied professionell-freundlich die Angestellte: „Und, geht’s ihnen gut, ist alles in Ordnung“ „Ja, danke…“ Sie ließ nicht locker und fragte, ob auch alles in der Familie gesund und in Ordnung sei. Schon um ihr Fragen loszuwerden, antwortete ich: „Ach ja, mein Mann geht heute in Rente“. Sie strahlte: „Oh, herzlichen Glückwunsch. Dann können sie ja jetzt reisen!“ Ich bedankte mich und lachte nur innerlich, denn sie war zu jung um die Doppeldeutigkeit ihrer Aussage zu begreifen. Sie meinte natürlich den von ihr unterstellten Lebensinhalt eines Rentners: die nun gewonnene Zeit nutzen, um die Welt zu bereisen. Es gab eine Zeit, in der das Erreichen des Rentenalters nur eins bedeutet hatte: Endlich in den Westen reisen zu dürfen!

Mir fiel eine Szene aus den frühen 80-ger Jahren ein. Eine befreundete Ost- und eine Westfamilie trafen bei einem Besuch aufeinander. Je ein kleines Mädchen, 7 und 8 Jahre, gehörten dazu. Die Mädchen waren von keinerlei Ost-West Überlegungen belastet und waren einfach nur neugierig aufeinander. Das Westmädchen erzählte, dass sie in den Ferien in Paris war. Das Ostmädchen antwortete munter, dass sie auch mal nach Paris fahren wird. Ein erstaunter Erwachsener drehte sich nach ihr um und fragte: „Wie willst du denn nach Paris kommen?“ Darin sah das Mädchen überhaupt kein Problem: „Na, wenn ich 60 bin, dann werde ich Rentnerin, und dann kann ich nach Paris fahren.“

Dienstag, 17. Dezember 2019

Wahlmöglichkeiten

Wenn ich eine „Botschaft“ im Erzählen von West-Ost Erlebnissen hätte, dann wäre es etwa diese: Das alltägliche Leben in der DDR war einem großen Druck ausgesetzt, den man aber verinnerlicht hatte, und mit dem man – je nach Freiheitsbedürfnis – einigermaßen normal leben konnte. Interessant ist es, wie sich jeder Einzelne in den verschiedenen Situationen entschieden hat. Man hatte, obwohl man unter Zwang lebte, Wahlmöglichkeiten.

Zum Thema „Telefon“, über das nur ein Bruchteil der Familien verfügte, kann ich folgendes erzählen: Ich wartete bis ich einige wichtige Telefonanlässe zusammengestellt hatte (mit Handwerkern, mit Behörden, manchmal mit Verwandten und Bekannten, aber nur wenn es wichtig war), und dann ging ich mit meiner Liste zu einer Freundin, bei der es ein Telefon gab und telefonierte diese ab. Der Mann meiner Freundin war Staatsbeamter und hatte ein recht verantwortungsvolles Amt. Wenn ich kam um zu telefonieren, sagte er: „Ja, geh´ schon ins Büro, du weißt ja, wo der Schlüssel liegt“. Was dieses einfache menschliche Verhalten damals bedeutete, kann heute (zum Glück) niemand nachvollziehen. Von Staates Seite aus gesehen: in dem Büro hätten Staatsgeheimnisse sein können! Mir war es in dem Büro auch immer bewusst, dass mein Bekannter unter Umständen (die sich zum Glück nicht ergeben haben) in große Schwierigkeiten hätte kommen können und ich führte diese Gespräche immer verantwortungsvoll. Vergessen habe ich ihm diese Großzügigkeit bis heute nicht.

Dienstag, 10. Dezember 2019

Westreisen - oder: wo warst du am 9.11.1989?

Der 30. Jahrestag des „Mauerfalls“ wurde - so wie andere „Großereignisse“ auch - mit großem Getöse medial vorbereitet, um sofort nach dem 9.11. ins Loch des Vergessens zu fallen. Ich hatte den Eindruck, dass in den öffentlichen Berichten nicht weiter gedacht wurde, als bis zu der Frage: „Wo warst du am 9.11.1989?“ – zu mehr reichte es nicht. Schon das ist ein Grund dafür, mich noch ein wenig mit diesem Thema zu befassen.

Was ich im Nachdenken a la „Ich hätte das nie für möglich gehalten!“ nie gehört oder gelesen habe, ist das Thema „Westreisen“, das ich für einen wesentlichen Rammbock in die Mauer halte. Schon in den 70-ger Jahren durften Angehörige unter bestimmten Bedingungen, etwa anlässlich des herannahenden Todes oder einer Beerdigung eines sehr nahen Angehörigen in des Westen reisen. Da man sich in den ca. 14 Jahren der hermetischen Abriegelung schon einigermaßen an diesen Zustand gewöhnt hatte, waren diese ersten Verwandtenbesuche Sensationen. Um ehrlich zu sein, so sensationell auch wieder nicht, denn Rentner durften schon seit den 60-ger Jahren in den Westen reisen, jede Menge „Konsumgüter“ mitbringen, die die DDR dann nicht zu produzieren brauchte und die Wunderdinge erzählen, die da zu sehen waren.

Mit den Jahren waren die Anlässe und der Verwandtschaftsgrad, der zu Westreisen berechtigte, beträchtlich ausgeweitet worden. Ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und erzählten sich: wer wo war, wer „heimlich“ noch eine zusätzliche Auslandsreise gemacht hat, besonders Auserwählte und Glückliche hatten die Berechtigung erhalten, mit dem Auto zu reisen, Vorgesetzte hatten die wirklichen Experten bei Dienstreisen ausgebootet. Dass die Sehnsucht, dort selbst einmal hinzureisen übermächtig wurde, ist gut nachzuvollziehen. Die Standfestigkeit der Bürger, zu ihrem Staat zu stehen, wurde sehr aufgeweicht.

Diese in manchen Gesellschaftsschichten schon fast routinemäßigen Reisen führten zu ebenso unerschöpflichen Überlegungen, ob der und der überhaupt reiseberechtigt gewesen wäre, warum der … und der nicht… Als ob die Gesetze der DDR in steinerne Gesetzestafeln gemeißelt gewesen wären.

Die Geschichten und Erlebnisse rund um die Westreisen bieten Stoff genug und könnten in die Überlegungen in den Mauerfall durchaus einfließen. Warum davon kaum die Rede war? Der Mythos muss bewahrt werden. Und: es kam wohl niemand darauf, weil alle beschäftigt damit waren zu überlegen: ´Wo bist du am 9. November 1989 gewesen?´

Donnerstag, 28. November 2019

Distanziert euch von euren Westverwandten!

In der DDR war es üblich, dass sich Menschen von ihren Verwandten distanzieren mussten. Auch Eltern von ihren Kindern und umgekehrt. Eine Gemeindeschwester berichtete mir erschüttert, wie sie bei einem Patienten, einem alten Mann ein Schreiben vorfand, worauf er bestätigte, dass er sich von seinen Söhnen, die in den Westen „abgehauen“ (das war die übliche Bezeichnung) waren, lossagt. In diesem Fall war das besonders makaber, da der Mann längst aus dem Arbeitsalter heraus war, also keine beruflichen Nachteile mehr erfahren konnte. Er war dazu genötigt worden, und so tat er es eben.

Wer beruflich Karriere machen wollte und nahe Westverwandte hatte, sollte oft unterschreiben, dass er mit diesen keinen Kontakt mehr haben wird. Gezwungen wurde dazu niemand. So kenne ich den Fall eines Betriebsleiters, der sich weigerte zu unterschreiben, dass er die Westgeschwister nicht treffen wird. Er blieb trotzdem Betriebsleiter. Später wünschte sich sein Sohn, zur See zu fahren. Menschen, die in der Seefahrt arbeiteten, hatten besonders strenge Auflagen, keine Westkontakte zu haben. Denn die Seefahrer hatten natürlicherweise mehr Möglichkeiten „abzuhauen“. Der Betriebsleiter wollte seinem Sohn keine Steine in den Weg legen und unterschrieb schweren Herzens die Distanzierung von seinen Westgeschwistern. (Dass der zu See fahrende Sohn unterschreiben musste, keinen Kontakt mit dem Westen zu haben, war selbstverständlich, aber nahe Verwandte mussten auch bürgen). Die Westgeschwister hatten zum Glück genug DDR-Kenntnis, so dass sie nicht entrüstet waren, sondern sich von da an mit dem Bruder „heimlich“ bei anderen Verwandten trafen. Die Wirklichkeit war nämlich, dass der Einhaltung der „Distanzierungen“ normalerweise keine große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, es war nur ein Mittel, um die betreffenden Menschen notfalls zu erpressen.

Sonntag, 24. November 2019

Erzählt Euch eure Biographien

Das war eines der Schlagwörter im Zuge der deutschen Vereinigung. Zum Gedenken an „30 Jahre Mauerfall“, als man sich Gedanken machte, warum Ost und West immer noch nicht so recht zueinander passen, wurde es wieder aus der Mottenkiste heraus geholt. In unserem Regionalfernsehen hatte man die Idee, 30-jährige und 60-jährige, die jeweils Ost- und Westhintergrund hatten, zusammen zu bringen, und sich sozusagen ihre Biografien erzählen zu lassen. Mehr zu erzählen hatten naturgemäß die Älteren. Es wurden solche Fragen gestellt wie: ´und wie habt ihr euch gefühlt?´ Die Älteren erzählten, wie aufgeregt sie in der Wendezeit waren und dass sie nie gedacht hätten, dass das und das eintritt….. Oder: ´konntet ihr euch das und das kaufen?, und ehrfürchtig erfuhr man, dass es vieles nicht zu kaufen gab. Abgesehen davon, dass die Beteiligten Menschen waren, die es nicht gewohnt waren, vor der Kamera etwas zu erzählen und dass die Beiträge nur kurz waren, war es doch erschütternd zu erleben, wie nichtssagend diese Beiträge waren. Ich denke, jeder Einzelne hätte etwas zu erzählen gehabt. Das hätten selbst erlebte Anekdoten sein müssen, die Wesentliches aus dem Leben in der DDR kenntlich machen. Möglichst nicht das, was man in jeder Zeitung lesen kann. So werde ich in den nächsten Beiträgen einige DDR-Geschichten schreiben, zum Teil sind sie in diesem Blog schon einmal beschrieben.

Zum Beispiel, wie ich mit meiner 10-jährigen Tochter dem Eintritt der jungen Pioniere in die Organisation der „Thälmann-Pioniere“ beiwohnte. Zwar gehörte das Kind den Pionieren nicht an, aber die Lehrerin hatte gleich danach eine Elternversammlung einberufen. Ich sagte, da gehen wir einfach nicht hin, aber meine Tochter sollte mit einem Schulkameraden in der Elternversammlung ein Lied singen (es war ausgerechnet: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat?“), und da das Kind sehr pflichtbewusst war, bestand es darauf, pünktlich zum Schulappell zu kommen. Da erlebten wir eine gespenstische Situation, ein Erlebnis, was heutzutage außer in Nordkorea wohl keinem mehr vergönnt ist zu erleben. Auf dem dunklen Schulhof, direkt vor dem Thälmannrelief, standen blockweise aufgereiht die Klassen, die dieser Zeremonie alle beiwohnen mussten. Jeweils einen Schritt vor dem Block stand der jeweilige Pionierratsvorsitzende. Vor ihnen hatte sich eine Formation von Fackelträgern aufgereiht. Eine Lehrerin, die im normalen Leben eine normale Frau war, raunte mit vollkommen verstellter Stimme eine Ansprache. Gedichte wurden rezitiert. Die Thälmann Pioniere der älteren Garde banden den Jungpionieren ihr neues Halstuch um. Es zog sich eine Weile hin, mir erschien das alles als absurd und gespenstisch.

Anschließend gingen die Eltern in die Klasse zur regulären Versammlung. Bis jetzt hatte ich es noch nie erlebt, dass Kinder zu dieser Versammlung gesungen haben (es war ein Trick, damit das Nichtpioniermädchen erlebt, was sie an diesem Abend Schönes versäumt und dass noch ein weiteres Kind mitwirkte, war um dieses zu verschleiern). Die beiden Kinder sangen munter ihr Lied, und ich freute mich, meine Tochter beim Gesang zu erleben. Sie durften dann schon nach Hause gehen und mussten nicht das Ende der Klassenversammlung abwarten.

Das wirklich Absurde fand 2 Jahre später statt. Da war die Wende + Vereinigung gelaufen, Thälmann-Schule war nicht mehr passend, ebenso wenig das Thälmannrelief davor. So wurden kurzerhand Bauarbeiter bestellt und – da es gerade so passte -, wurde das Relief genau in der Unterrichtszeit vor den Augen der Schüler zertrümmert.

Samstag, 9. November 2019

Zum „Fall der Berliner Mauer“ vor 30 Jahren

Am 19. Januar 1989, sagte Erich Honecker: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.

Nach dem „Fall“ dieser Mauer, nur knapp 10 Monate nach diesem Ausspruch, hörte man immer wieder Begeisterung über dieses unglaubliche Wunder, und dass man es nie für möglich gehalten hat, dass dieser Fall je eintritt. Sogar heute noch, im Rückblick 30 Jahre danach, hört man, dass Menschen ihren Unglauben darüber äußern, dass sie es vor dem 9.11.1989 je für möglich hätten halten können, sich diesen Fall (im doppelten Sinne) vorstellen zu können.

Äußerungen jener Art besagen, dass man Erich Honecker sehr ernst genommen hat und an die DDR glaubte. Es scheint, als würde man nach 30 Jahren immer noch an Erich Honecker und die DDR glauben.

Da halte ich es mehr mit meinem Verwandten, der 1989 dem verrotteten und nicht mehr benötigten Klohäuschen seines Landhauses einen Tritt gab und dazu sagte: „So wie man dieses Klohäus´chen mit einigen Tritten zu Fall bringen kann, so wird es mit den kommunistischen Regimes geschehen“. Das, was man als Friedliche Revolution bezeichnet, kann man als Implosion der DDR bezeichnen.

Freitag, 1. November 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - V )

Da bemerkte ich, dass meine Freundin sich unbehaglich fühlte. Ich hatte den Eindruck, sie wolle die Versammlung gern verlassen. Da ich meinen Part vollbracht, sogar noch eine Diskussion bestritten hatte, sagte ich, dass wir beide doch jetzt gern gehen möchten (wir waren insgesamt ca. 2 Stunden dort), und dass es vielleicht sinnvoll sei, noch einmal im etwas kleineren Kreis die Dinge zu besprechen. Zum Abschluss gaben wir allen Teilnehmern die Hand. Unsere Gastgeber verabschiedeten sich halb aufgeregt, halb verlegen. Sie hatten ein kleines Geschenkpaket für mich vorbereitet. Ich sagte, dass mir der Abend gefallen hat, und dass es mir nichts ausmacht, wenn nicht alle einer Meinung sind. Meine Freundin gestand mir später, dass sie überhaupt nicht begriffen hat, was da vor sich geht, dass sie der Diskussion nicht folgen konnte, weil sie über die Voraussetzungen nur flüchtig informiert war.

Später überlegte ich, wie wohl die Gruppe hinterher mit dem einladenden Ehepaar umgegangen sein mag. Mit dem christlichen Hintergrund kann ich mir nicht vorstellen, dass sie das Ehepaar B. wegen ihres vollkommenen Fehlgriffs einfach nur verhöhnt haben. Ich schätze, Herr Pastor J. hat die Sache noch einmal endgültig klargestellt und dann ist man vielleicht zum persönlichen Teil des Abends übergegangen: wer wohin gereist ist, was nach meiner Beobachtung eines der Hauptthemen in ähnlich situierten Kreisen ist. Einige Reiseziele waren mir in der Unterhaltung voraus schon zu Ohren gekommen.

Nachdem ich zu Hause war, schrieb ich bald eine E-Mail an das Ehepaar B., in der ich als Resümee des Abends zusammen fasste, dass zwischen den Ansichten von Pastor J. und mir nur ein winziger Unterschied, allerdings mit beträchtlichen Folgen, liegt: Pastor J. meint, dass eventuell judenfeindliche Verse im Neuen Testament gar nicht judenfeindlich sind, dass sie im übertragenen Sinn verfasst sind und in der späteren Geschichte miss interpretiert wurden. Ich sehe es so, dass die Evangelien durchaus von Menschen, nicht etwa von Gott, geschrieben sind, und dass diese meinten, was sie schrieben und bestimmte Absichten damit verfolgten. Als Anlage schickte ich einen kurzen Text eines niederländischen Theologen mit, der diese Thematik gut erklärte. Darauf bekam ich keine Antwort, was mich enttäuschte. Es passte nicht zu dem Ehepaar, und ich fand, dass die Leute nach meiner Nachsichtigkeit nun auch mir etwas schuldig wären. Bei dieser Überlegung hatte ich nicht Herrn Bs. Tütligkeit einkalkuliert. Natürlich kam noch etwas, sogar ein Brief, dem ein Blumengutschein beigelegt war, aber einen Monat später. Eine freundliche Antwort. Die Diskussion wurde so erklärt, dass man in ihrem Kreis manchmal etwas heftig und nicht immer tolerant diskutiere. Bei mir dachte ich: ´Ach, w ü r d e t ihr doch nur diskutieren!´ Ich bedankte mich freundlich.

Der Titel dieses Berichts ´Eins greift ins Andere´ erscheint mir für meine Erlebnisse zutreffend. Denn nicht nur die Ereignisse, die ich als vielschichtig und lebendig empfunden habe, griffen ineinander. Dazu gehören Gespräche, die ich später mit anderen Menschen führte, und die Gedanken, die ausgehend von den einzelnen Erlebnissen in die verschiedensten Richtungen schweifen und immer weiter greifen können. Je nachdem ob man bereit ist, sich darauf einzulassen, kann ´eins ins andere greifen´ oder auch nicht.
(Ende)

Dienstag, 29. Oktober 2019

Eins greift ins Andere (Ein Erlebnisbericht in fünf Teilen - IV)

Wir beide hatten uns auch vorgestellt, daraufhin begann ich den Vortrag. Zuerst erzählte ich die Vorgeschichte, wie es so weit gekommen ist, dass ich hier sitze: das Seminar in Güstrow, die Bekanntschaft mit Professor Schmidt, meine Rezension seines Buches in der Kirchenzeitung. Dann erzählte ich straff zusammengefasst, worum es in dem Buch geht: Welche Wirkung die sehr emotionalen und in vieler Hinsicht beeindruckenden Passionen von Bach in den Menschen hervorrufen können. Dass die Passionsmusiken sich auf Texte in den Evangelien beziehen, die eindeutig judenfeindlich sind und die eine Blutspur durch die Geschichte gezogen haben. Dass das Bewusstsein darum weder Verurteilung von Evangelien noch Passionstexten bedeuten, sondern dass man sich der Geschichte und der Wirkung bewusst sein sollte, die geschichtlichen Zusammenhänge kennen und eine Stellung dazu finden und haben solle. Rhetorisch war der Vortrag sicher nicht einwandfrei – ich bin es nicht gewohnt, Vorträge zu halten. Aber ich sprach frei und las einige selbst erlebte Anekdoten, z.B. wie ich dabei war, als eine junge mecklenburgische Pastorin der jüdischen Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide direkt und – ich würde es so bezeichnen – frech ins Gesicht sagte: „Die Juden haben Jesus gekreuzigt“ Oder ich machte die Bemerkung, dass die meisten Menschen ihre lieb gewonnen Antipathien nicht gern lassen, was auf Juden bezogen nach dem Krieg schlecht möglich war, und man die durch die Jahrhunderte gepflegte Abneigung gegen Juden kulturell transmittierte. Der Besuch der Passionsmusiken hat nach dem Krieg einen großen Aufschwung genommen, so wie nebenbei gesagt, auch die Verehrung für Wagnermusiken.

Während meines Vortrags, der etwa eine Dreiviertelstunde dauerte, schaute der Pastor mich aufmerksam an. Ich würde fast sagen, er hing an meinen Lippen. ´Was für Gespräche mögen sich mit ihm vielleicht ergeben`?, fuhr es mir durch den Kopf. Kaum hatte ich geendet und noch um eventuelle Fragen gebeten, da legte Pastor J. los, ohne überhaupt eine Denkpause zu lassen. Ja, er ging mich frontal an. Meinen Vortrag lehne er komplett ab, Judenfeindlichkeit gibt es in den Evangelien nicht und er lasse sich seinen Matthäus nicht schlecht machen. Ich fragte etwas entgeistert, was denn die Ursache für die Pogrome an den Juden, Vertreibungen und Inquisition in der Geschichte gewesen wären. Das hätte alles auf Missinterpretationen beruht, antwortete mir Pastor J.

Darauf schaltete sich ein zweiter Mann an, und der wurde schon nicht mehr theologisch, sondern menschlich aufbrausend und bewegte sich mit seinen Aussagen am Rand der Unhöflichkeit. „Ich bin sowieso dagegen, ständig in altem Schlamm zu wühlen….“ Mir fiel nichts Besseres ein als ihm zu sagen, das wäre doch nun mal Thema des Abends und dann solle er bitte nicht in der Bibel lesen, denn die wäre besonders alt. Darauf hatte er keine Antwort, was ihn noch wütender zu machen schien. Weitere Aussagen oder Fragen wurden getätigt, alle von Männern, die sich hinter ihren Pastor stellten (was ich irgendwie auch rührend fand). An manche Fragen, Aussagen und an ihre Reihenfolge kann ich mich nicht mehr erinnern. Einmal, als es mir zu dumm wurde, sagte ich: „Herr Pastor J. Sie wissen doch in der Kirchengeschichte Bescheid, erzählen sie doch bitte etwas über die Rolle der evangelischen Kirche in der Nazizeit“. Ohne Zögern gab er die Antwort: „Da gab es den verrückten Spinner Müller, aber dann gab es auch die bekennende Kirche und Bonhoeffer, und deren Rolle wird bedeutend unterschätzt“. Er erzählte noch, dass es in seiner Gemeinde einen Kelch von Bonhoeffer gegeben hat.

In mir spielten sich nun andere Gedanken ab. Als erstes empfand ich einfach nur Verblüffung. Da man mich wegen des Artikels eingeladen hatte, war ich ohne zu hinterfragen davon ausgegangen, dass eine gewisse Übereinstimmung in den Ansichten vorliegt. Aber natürlich: Herr B. hatte mich eingeladen, um ein interessantes Thema für den von ihm und seiner Frau veranstalteten Abend zu haben. Er war tütelig genug, um nicht zu erkennen, dass die Ansichten seines ehemaligen Gemeindepastors und meine nicht kompatibel waren. Wie nett das Ehepaar B. mich empfangen hatte, fiel mir ein. Wir müssen hier ´rauskommen, ohne dass es eklatmäßig zugeht, und ich darf keinen Keil in diese sonst ganz nette Gesellschaft treiben! Zwischendurch packte mich die Wut: Was, ich bin doch eingeladen worden, ich fahre 300 km mit dem Auto hierher und muss mir das anhören! Auch wunderte ich mich im Stillen, dass sich nach 40 Jahren Gesprächskreis nicht eine Gesprächskultur mit Für und Wider, Ja und Aber, Einerseits und Andererseits entwickelt hat. Zumindest bei Auseinandersetzungen hätte eine gewisse Moderation erfolgen müssen. Diese Rolle wäre natürlicherweise dem Pastor zugefallen. Ich stellte mir vor, dass die „normalen“ Gesprächsabende so stattfinden, dass einer ein Thema vorgibt, und jeder sagt nach und nach etwas „Positives“ dazu, wie ich es auch schon anderswo erlebt habe. In dieser Hinsicht war der Abend für die Gruppe vielleicht ein heilsames Erlebnis.

Im Luftreich des Traums

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