Freitag, 6. Juni 2014

Nordkorea: Der entfesselte Kommunismus

Als sich die DDR ihrem Ende zuneigte - auch wenn es den Leuten nicht bewusst war -, versuchte man in der verzweifelten Abwehr des Niedergangs den Bürgern vieles zu bieten, was bis dahin tabu war. So lief etwa 1988 oder 1989 ein Film über Nordkorea im DDR-Fernsehen. Er kam fast ohne Worte aus, denn die Bilder sagten alles. Zu sehen waren Massenaufmärsche, Großveranstaltungen mit hervorragend inszenierten lebendigen Bildern, Paraden, Arbeitsbrigaden. Menschen traten nicht einzeln, sondern nur in der Masse auf. Der Film hinterließ einen beklemmenden Eindruck. Ich dachte: so etwas kann nicht lange so weiter gehen, es widerspricht doch allem Menschlichen!

Inzwischen sind 25 Jahre vergangen, und alles, was aus Nordkorea zu hören ist (es ist eher wenig), übertrifft den Eindruck von 1989 bei Weitem. Der Bericht des Flüchtlings Shin Dong-hyuk aus dem Lager 14 gibt einen Einblick in die schreckliche Welt der nordkoreanischen Gefangenenlager. Von der großen Hungersnot haben wir gehört und diese und jene Filmsequenz drang zu uns. Die Gerüchte um die Hinrichtung - mag es alles wahr sein oder nicht - des politischen Ziehvaters und Onkels des jetzigen Staatspräsidenten samt Nachkommen klingen entsetzlich. In Nordkorea scheint der Gipfel der Entmenschlichung erreicht zu sein, und all das läuft unter der Bezeichnung: Kommunismus.

Wenn man sich die Länder anschaut, die bereits vom Kommunismus - mehr oder weniger lange - beherrscht waren, so kann man vieles von dem, was Nordkorea auszeichnet, wieder entdecken. Wenn man sich an das Gulag-System in der Sowjetunion erinnert, die Aufmärsche, die Plattenbauten, in denen die Menschen wie in Käfigen wohnten, die Entmenschlichung - alles hat es schon gegeben. Nur äußere Zwänge verhinderten, dass die kommunistischen Systeme sich jeweils nicht so perfekt entwickeln konnten, wie es in Nordkorea der Fall ist. Mag mancher auch an einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz glauben, ich möchte behaupten, dass der Kommunismus ohne Fesseln so aussehen würde wie in Nordkorea, denn im Wesen der dahinter stehenden politischen Doktrin ist etwas grundfalsch.

Donnerstag, 29. Mai 2014

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

ist ein Verein, dem ich, zugegeben, mit einem gewissen Misstrauen gegenüber stehe. Aber nichts desto Trotz begab ich mich auf eine Informationsveranstaltung des Volksbundes, die mit der Einweihung einer Gedenkstele für 40 in einem KZ-Außenlager ungekommenen KZ-Häftlingen verbunden war. So hatte ich bereits eine Lektion gelernt: Der Volksbund kümmert sich um verschiedene "Opfergruppen".

Im Bericht des Landesgeschäftsführers, in dem er die Teilnehmer mit dem Anliegen der Kriegsgräberfürsorge vertraut machte, hieß es, dass an allererster Stelle der Prioritäten die Mahnung für den Frieden stehe und dass alle Kriegsgräber Mahnmale für den Frieden seien. Für alle Kriegsgräber gelte: Sie haben ein ewiges Ruherecht, und sie müssen registriert sein.

Das ewige Ruherecht veranlasste mich, zur Pastorin neben mir zu schauen, denn ich nahm an, es müsste sie beunruhigen. Es schien nicht der Fall zu sein - ungerührt schaute sie den Vortragenden an. Ewig: Ist es nicht eine Kategorie außerhalb des Menschlichen? Sind Menschen befugt, über die Ewigkeit zu entscheiden? Das ist doch eine Angelegenheit, die wenn ich mich nicht irre, dem Herrgott zusteht. Wir selbst vermögen kaum unsere eigene Lebenszeit zu überblicken. Wäre es nicht sinnvoll zu sagen: Lassen wir sie 100 Jahre ruhen, und die Generationen nach uns entscheiden neu? Dass man sich befugt fühlt, in Kategorien der Ewigkeit zu denken und zu entscheiden, empfand ich als Anmaßung.

Auf den Fotos, die während des Vortrags präsentiert wurden, waren Soldatenfriedhöfe zu sehen, mit überdimensionierten Kreuzen an zentralen Stellen. Auch das befremdete mich. Nun ist das Kreuz zwar innerhalb der westlichen Kultur ein Symbol für das Sterben. Aber diese überdimensionierten, leeren Kreuze scheinen eine eher religiös-symbolische Bedeutung zu vermitteln - sie weisen auf die Auferstehung hin. Wenn ich Soldatenfriedhöfe betrachte, so scheint es mir, dass diese Gräberstätten mit einem besonderen Nimbus des Heiligen und des Ewigen dekoriert werden. Was natürlich auch das Wirken und Sterben der dort Liegenden als heilig und ewig darstellt.

Was in der Betrachtung gefallener Soldaten und anderer Opfergruppen der Kriege vollkommen unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass in jenem letzten Krieg viele Millionen Menschen gar keine sterblichen Überreste hinterließen, weil sie zu Asche verbrannt wurden. Die Asche schüttete man in Flüsse, man verwandte sie als Füllmaterial beim Straßenbau oder verarbeitete sie zu Düngemitteln und Seife. Zumindest ein Teil jener, deren Gräber jetzt für alle Ewigkeit bewahrt werden, haben aktiv daran mitgewirkt oder den Weg dafür frei gemacht.

Ob jene zu Asche verbrannten Menschen etwa gar nicht zu Kriegstoten zählen, da sie nicht aktiv an Kampfhandlungen teilnahmen? Wie mag der Volksbund diese Diskrepanz für sich lösen, dass es Kriegstote gibt, von denen unter keinen Umständen noch etwas zu identifizieren ist und es zugleich anderen vergönnt ist, bis in alle Ewigkeit, sozusagen für die Auferstehung bestens vorbereitet, einen Ruheplatz zu haben? Selbst kann ich es mir nur so erklären, dass sehr oft das Wort "Frieden" gesprochen wird - dieses schöne Wort deckt alles zu, und lässt viele dringende Fragen gar nicht erst aufkommen.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Nachtrag zum Briefwechsel

Auf meinen Brief habe ich dann doch eine Antwort bekommen. Zwar nicht von der Aktion Sühnezeichen, die die Ausstellung vorbereitet hat, aber vom Pfarrer der Brüdergemeinde, in dessen Räumen sie gezeigt wird. Der Pfarrer bestätigte mir, dass die Formulierung "rettete 400 Kinder vor dem Tod in tschechischen Internierungslagern" doch missverständlich übertrieben wäre und dass diese Textpassage in der Ausstellung geändert werde.

Inzwischen habe ich heraus gefunden, wieso es zu dieser missverständlich übertriebenen Textpassage kam. Der Autor oder die Autorin der Texte für die Ausstellung hat wortwörtlich bei Wikipedia abgeschrieben. Wikipedia ist ein neuartiges Lexikon und ihre Aussagen sind ständig durch laufende Bearbeitungen im Fluß und so kann man sich über einzelne Formulierungen von Wikipedia durchaus streiten. Meiner Meinung ergibt die Formulierung: "rettete hunderte Kinder vor dem Tod in tschechoslowakischen Internierungslagern" den zwingenden Schluss, dass einem deutschen Kind, das in so ein Lager kam, der Tod gewiss gewesen sei, egal auf welche Weise.

Aber abgesehen davon, wie man es auslegt, sicher kann man sich sein, dass diese Formulierungen, sei es bei Wikipedia, bei Aktion Sühnezeichen und ganz gewiss in vielen Medien so gestellt, so aufgenommen und so weiter gegeben werden, dass eine möglichst umfassende Verwischung der Geschehnisse in der Nazizeit geschieht. Und so geht alles in einem großen Geschichtsbrei auf, in dem letztlich alle Beteiligten gleichermaßen zu Opfern werden.

Mittwoch, 14. Mai 2014

Briefwechsel

Ein Brief von der "Aktion Sühnezeichen" erreichte mich. Es handelte sich um eine Einladung zu einer Ausstellungseröffnung über den tschechischen Humanisten Přemysl Pitter. Unter anderem wurde in der Einladung der Lebenslauf von P.P. widergegeben, den ich wörtlich wiedergebe:

"Přemysl Pitter (1895 - 1976) war Kriegsfreiwilliger der österreichisch-ungarischen Armee im ersten Weltkrieg und wurde unter den Eindrücken des Krieges zum überzeugten Pazifisten. 1933 gründete er das Kinderheim Milíčův dům in Prag. Während der Zeit der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei ab 1939 nahm er unter Lebensgefahr jüdische Kinder in sein Kinderheim auf. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges begann Pitter, für aus den Konzentrationslagern befreite, elternlose jüdische Kinder Heime aufzubauen. Pitter nahm auch deutsche Waisenkinder in seine Heime auf und rettete hunderte Kinder vor dem Tod in tschechoslowakischen Internierungslagern."

So weit Aktion Sühnezeichen

Ich hatte zwar gehört, dass es unmittelbar nach dem Krieg und später im Zuge der Vertreibung der Sudetendeutschen Übergriffe und Massaker an Deutschen gegeben hatte, dass Menschen unter den Bedingungen der Internierung und der Abschiebung starben, aber nie hatte ich gehört, dass Kinder in Internierungslager systematisch getötet wurden. Ich bat in folgendem Brief Aktion Sühnezeichen, mir eine Quelle für diese Behauptung (die aus der Formulierung hervor geht) zu nennen.

"Sehr geehrte Frau S.
vielen Dank für Ihre Einladung zu der Ausstellung über Přemysl Pitr, die ich mir sicher im Laufe der Ausstellung ansehen werde. Ich kenne selbst eine Frau, die zeitweise in einem Heim, das unter seiner Leitung stand, lebte. Der Text Ihrer Einladung ruft allerdings Irritationen hervor. Es heißt, P.P. rettete hunderte Kinder vor dem Tod in tschechoslowakischen Internierungslagern. Ich weiß, dass es bei der Vertreibung der Deutschen in der Tschechoslowakei zu Übergriffen mit Todesfolgen kam, dass Menschen aus verschiedensten Gründen zu Tode kamen, und Kinder sicher auch an Unterernährung und Krankheiten gestorben sind. Jedoch habe ich nie, wirklich nie, gehört oder gelesen, dass Kinder in Internierungslagern getötet wurden. Sie müssen dort etwas durcheinander bringen mit dem was Kindern in deutschen KZs geschah und was in Internierungslagern geschah. Können Sie mir bitte eine seriöse Quelle benennen dafür, dass Kinder in tschechischen Internierungslagern unmittelbar vom Tod bedroht waren?
Mit freundlichen Grüßen A.C."

Eine Antwort bekam ich darauf nicht. Ich möchte nun nicht Aktion Sühnezeichen diffamieren. Sie wirkte im Lauf ihres Bestehens sicher aufbauend und versöhnend. Sie kann sich nur nicht dem gesellschaftlichen Auftrag entziehen, den ich im gesellschaftlichen Leben in Deutschland erkennen und belegen kann und dem sich nur wenige entziehen: Deutschland immer wieder "Rein zu waschen" von seinen Taten in der Nazizeit. Dazu bedient man sich verschiedenster Mittel, unter anderem der Dämonisierung der Menschen, die unmittelbar von den Deutschen drangsaliert worden waren, in dem man versucht zu behaupten, sie hätten "das Gleiche" (wenn nicht dasselbe) getan. (siehe mein Beitrag 22.1.2012 über die Kinder von Bialystock)

Mittwoch, 7. Mai 2014

Kriegertafeln in Kirchen Teil III (siehe 25.+29.1. 2014)

Das Phänomen der Kriegstafeln, die vermutlich oft bleibende Zeugnisse der Tätigkeit einstiger Kriegervereine sind, hat einige interessante Aspekte. Über die Tafeln wird öffentlich nicht geredet. Nie habe ich in einer kirchlichen Zeitschrift etwa gelesen: "Am Sonntag findet ein Gottesdienst zur Aufstellung einer Tafel für die Gefallenen des zweiten Weltkriegs in unserer Gemeinde statt". Nichtsdestotrotz entdeckt man an verschiedensten Stellen Deutschlands in Kirchen Tafeln für die Gefallenen des zweiten Weltkriegs. Mögen sie im Westen schon immer dort gehangen haben, auf dem Gebiet der DDR wurden sie garantiert erst nach der Wende angebracht.

Diese Tafeln versuche ich in Einklang mit der öffentlichen Ächtung jeglichen Krieges von Seiten prominenter und führender Vertreter der Kirche zu bringen. Sei es Friedrich Schorlemmer mit dem Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen oder Margot Käßmann mit ihrem "Nichts ist gut in Afghanistan", dem Ratsvorsitzender Schneider vorbehaltlos zustimmte. Es gibt einen Friedensbeauftragten der evangelischen Kirche namens Renke Brahms, der negiert, dass es überhaupt gerechte Kriege gibt, auch den Kampf der Alliierten im 2. Weltkrieg will er nicht dazu zählen, denn: "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein".

Und trotzdem legt man Wert darauf, dass Tafeln mit den Namen von gefallenen Soldaten in Kirchen angebracht sind und bleiben. Es gibt sogar eine beliebte Bibelstelle, die gern auf solchen Tafeln verwendet wird, nämlich den Sendungsauftrag Jesu an seine Jünger vor seinem Tod: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ und damit wird die Kriegskunst zur direkten Nachfolge Jesu erhoben. Bei jedem Pastor, der einer von so friedensbewegten Führern geleiteten Kirche angehört, müsste sich beim ständigen Anblick so einer Tafel alles dagegen sträuben und er müsste ein gewaltiges Problem mit seiner Kirche bekommen.

Die Diskrepanz zwischen Friedensbewegtheit und Kriegsgedenken einerseits und der Tatsache, dass Kriegertafeln kein öffentliches Problem der Kirche zu sein scheinen andererseits, mag mehrere Gründe haben. Es kann ein Ausdruck einer schizophrenen Geisteshaltung oder aber auch einer völlig beliebigen Haltung sein, wonach es doch egal ist, was in unserer Kirche hängt. Wenn man die Tafeln thematisierte, könnte man vielleicht Leute verärgern. Ich vermute aber, dass die friedensbewegte Haltung der Kirche erst am 8. Mai 1945 entstanden ist, und dass alles, was vorher geschah durchaus mit einer Glorifizierung von Menschen verbunden ist, die - gewollt oder ungewollt - ihr "Leben ließen für ihre Freunde".

Mittwoch, 30. April 2014

Kriminalfilme

nennt man in der Regel einfach Krimis. In meiner Sprache aber heißen sie "Leichen". Diese Bezeichnung passt auf die Vorausschauen abendlicher Krimis im Fernsehen. In diesen 30-Sec-Trailern werden immer besonders grausige Szenen gezeigt, tote Menschen in möglichst entstellten Posen. Manchmal gibt es mehrere Krimivorschauen hintereinander: Leichen über Leichen. Aus etwas anderem scheinen Krimis im Wesentlichen nicht zu bestehen. Diese Vorausschauen nehmen mir jedes mal definitiv alle Lust, den Krimi auch noch anzuschauen. Als ich darüber nachdachte, lief kurz vor einer Sendung, die ich sehen wollte, der Schluss eines Krimis von Henning Mankell mit seinem bieder dreinschauenden Kommissar Wallander. So einen Krimi nenne ich ironisch: Das Produkt der kranken Phantasie eines Humanisten aus dem Norden. Es kam, was sein musste: Zwei Männer gingen hin und her, Kinder waren in der Nähe. Schließlich kam eine Kolonne von Militärfahrzeugen. Auf einmal hörte manSchreie, und man sah dann hinter einem gewaltigen Panzer einen in zwei Teile gefahrenen Blutklumpen. Das sollte wohl einer der Männer gewesen sein. Wer solche Bilder unter die Menschen bringt, muss eine reichlich perverse Phantasie haben, auch wenn er sonst, wie man hört, ein Wohltäter Afrikas ist, ein Freund der Palästinenser und ein Verächter Israels.

Warum sehen Menschen solche Filme, warum werden sie aus der hoch moralischen Anstalt ARD gesendet? Man könnte wohl sagen: Das ist ja nur ein Krimi, das hat doch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Immerhin dringen diese Produkte der Phantasie von Henning Mankell oder von wem auch immer in die Köpfe der Menschen ein. Ich frage mich auch, wie solche Bilder mit der ständig zitierten und allgegenwärtig hoch gehobenen "Würde des Menschen" zu vereinbaren sind? Der Film ist zwar Phantasie, die Leiche ist ein Produkt der Phantasie, aber die Figuren in Filmen stehen immer für den "Menschen an sich". Wer den zerfahrenen Blutklumpen sieht, sieht was aus einem Menschen werden könnte. Werden Filme dieser Art häufig gezeigt, weil es den Fernsehmachern gefällt, oder weil sie dem Publikum gefallen oder weil die Fernsehmacher denken, so etwas gefällt dem Publikum?

Ich kann diese Krimis nur mühsam mit der in Fernsehsendungen, insbesondere in Diskussionssendungen gezeigten Moralität vereinbaren. In Talksendungen wird meistens nicht geklatscht, wenn jemand originelle Ansichten oder schlagkräftige Argumente hat, sondern wenn etwas gesagt wird, was sich besonders moralisch anhört. Nun sind Krimischauer zwar nicht identisch mit Zuhörern von Talk-Sendungen. Aber das Fernsehpublikum in seiner Gesamtheit weist schon eine merkwürdige Diskrepanz in seiner Vorliebe für blutrünstige Krimis und sich moralisch gebende Talksendungen auf.

Sonntag, 20. April 2014

Die Matthäuspassion.

Zu ihrer Aufführung sind wir sehr weit ins Land gefahren. Vor Jahrzehnten hatte ich sie selbst schon einmal mitgesungen. So dass es mir jetzt, in den fast drei Stunden der Aufführung, nicht langweilig wurde. Der Dirigent erschien mir nicht als der über allen Dingen stehende Orchesterleiter, sondern als Teil des Geschehens. Fast könnte man sagen: Er war die Matthäuspassion. Aber auch der Chor und die Interpreten waren das, was sie sangen. Die blutrünstige Menge, die zart und tief empfindende Christenheit. Der Evangelist erschien mir wie ein Einpeitscher. Er stand nicht vor dem Chor, wie es meistens üblich ist. Vielleicht war es den räumlichen Gegebenheiten geschuldet, vielleicht war es ein regieartiger Einfall. Er sang aus der Mitte, aus dem Chor und Orchester heraus. Hart und böse kommentierte und erzählte er. Insgesamt war es eine hoch musikalische und zugleich ausdrucksvolle Aufführung.

Gerade weil der Inhalt so überzeugend dargebracht wurde, kann man sie auch als erschreckend bezeichnen. "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" - schrie die Menge, und der Zuhörer weiß, dass es eine jüdische Menge sein soll. Ich habe tatsächlich schon einmal die Aussage gehört, der Holocaust wäre die Erfüllung jener Ansage, jedenfalls könnte man es so interpretieren. Also, die Juden hätten bei der Forderung nach der Kreuzigung Jesu ihre Vernichtung selbst prophezeit und sozusagen billigend in Kauf genommen. Derjenige, der das sagte, war entsetzt über den Holocaust, aber er konnte in dieser "schlüssigen" Feststellung eine Erklärung finden.

Sonntag, 13. April 2014

In der Bibelstunde

Winzige Szene in einer evangelischen Bibelstunde: Die Geschichte, wie Josef ins Ägyptenland verkauft wird und dort in eine hohe Position aufsteigt, wird besprochen. Josef managt die Bekämpfung der Hungersnot indem er jahrelang Getreidevorräte anlegt und in der Notzeit Getreide an die Hungernden verkauft. "Was - er lässt sich das Getreide bezahlen? Ach ja, der Jude hat es so mit dem Geld".

Die Bemerkung wird ignoriert. Vielleicht will man den alten Herrn nicht bloß stellen. Leider fallen Bemerkungen jener Art immer wieder, so wie einzelne Tropfen. Man bemerkt sie nicht, wundert sich nur, dass man auf einmal nass ist.

Man hätte dem alten Herrn sagen können, dass es selbstverständlich ist, dass man mit Reserven, die man mit einem großen Organisationsaufwand angelegt hat, wirtschaftlich umgehen muss, um weiterhin wirtschaften zu können. Es mussten große Lager angelegt werden, das überschüssige Getreide, die Vorratskammern und die Transporte mussten bezahlt werden. Und selbst wenn ein Teil des Getreides billig oder umsonst an Arme verteilt worden wäre, warum hätte man an die Fremden aus dem Nachbarland, seien sie arm oder reich, das kostbare Getreide umsonst ausgeben sollen?

Woher hat ein harmloser Bibelstundenbesucher, der wahrscheinlich nie einen Juden gekannt hat und der damit aufgewachsen ist, dass das Wort Jude tabu war (denn er hat die Nazizeit nur als Kind erlebt, und danach schwieg man einige Jahrzehnte über Juden), eine Vorstellung, wie es mit den Juden und dem Geld steht? Wo kann er die Erfahrung gewonnen haben, wie Juden mit Geld umgehen? Warum wird so eine Bemerkung allgemein toleriert, obwohl die Konsequenzen, die Juden auch und nicht zuletzt infolge der Verurteilung der angeblich schädlichen jüdischen Beziehung zum Geld zu tragen hatten, auch von Seiten der Kirche, hinreichend bekannt sind.

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