Später erfuhr ich von einem Buch, einer Art Autobiografie, die Ruven herausgeben wollte. Eines Tages war es so weit und ich bekam das lang angekündigte Buch zum Geburtstag (1997) geschenkt. Dieses Werk mit dem Untertitel „Aus dem Leben eines Friedensabenteurers“ wurde als „einzigartig“ angekündigt: Es sei nicht nur eine Biografie, nicht nur eine historische Abhandlung über die Geschichte des Judentums, nicht nur eine Analyse der gegenwärtigen Politik Israels, nein, es sei all das zugleich!
Beim Lesen zweifelte ich an meinem Verstand: Herausgegeben vom Evangelischen Bildungswerk Berlin, musste es doch von verschiedenen intelligenten Menschen gelesen, lektoriert, aufgelegt und verbreitet worden sein. So kam ich zu dem Schluss, dass etwas an dem Buch sein müsse, was ich einfach nicht begreifen kann. Mein Mann hat es gleich gelesen, und seine Kritik war vernichtend: Ein Schlawiner vom Balkan, der herausbekommen hat, dass es sich in Deutschland gut lebt und dass man von den deutschen Freunden viel Geld für tendenziöse Werke bekommen kann. Mein Mann machte sich die Mühe, der sich wahrscheinlich keiner der deutschen Freunde je unterzogen hat, er las das Buch von vorn bis hinten durch, denn Ruven interessierte ihn als ein gesellschaftliches Phänomen. Bezeichnenden Stellen strich er an, und es ging für ihn daraus hervor, dass Ruven in der Kindheit in Rumänien im Stetl von seinen eigenen Leuten sehr gedemütigt worden sein musste. Er müsse seitdem einen erheblichen Hass auf sein eigenes Volk verspüren und merkte später, dass man in Deutschland mit diesem Hass, bezeichnet als „Kritik am Staat Israel“, großen Eindruck hervorrufen kann.
Das Buch hatte keinen erkennbaren Aufbau, war zusammenhangslos, ein Wust an Fakten, Geschichtsdaten, Meinungen, eigentlich kaum lesbar. Sehr viel von dem, was Ruven an Kunde und politischen Ansichten von sich gab, kam mir vor, als hätte ich es schon oft gehört. Es war ein Mix von Gedanken, nur eines kam immer zum Ausdruck: Dass allein Ruven das politische Geschehen in Israel richtig beurteilen konnte, und alles Schlechte, was dort je stattgefunden hatte, geschah, weil man nicht auf Ruven gehört hatte.
Seine Biografie blieb nebulös, außer ein paar lebendig geschriebenen Szenen, die die besagten Demütigungen in der Kindheit schilderten. Was er über viele Jahre in Israel getan hat, blieb nur angedeutet. Verwickelt war er in die Gründung des „Friedensdorfes Neve Shalom“. Dort war er praktisch „herausgeflogen“. Mit dem Gründer des Friedensdorfes, einem ägyptischen Katholiken jüdischer Herkunft, hatte er sich überworfen aufgrund mehrerer gegen Ruven gerichteter Intrigen. Später hat Ruven unter dem Motto „Versöhnung zwischen Juden und Palästinensern“ gemischte Reisegruppen als Reiseleiter durch Europa kutschiert. Wahrscheinlich, als er gemerkt hat, dass die Sache ungekehrt lukrativer ist, führte er deutsche Reisegruppen durch Israel, und da die Reisen auch unter dem Motto „Versöhnung“ liefen, machte er die Reisenden fast ausschließlich mit dem Anliegen der Palästinenser und ihrer Sicht der Dinge vertraut.
Außer den wenigen biografischen Berichten enthielt das Buch seine Ansichten und Meinungen über den Staat Israel, das Judentum und besonders über den palästinensischen Konflikt. Gewürzt war es mit chassidischen Geschichten, Anekdoten, die ausschließlich die Bosheit von Juden zu Arabern schildern, jiddischen Witzen, auch mal mit einem Gedicht von Brecht. In Kürze („auf einem Bein“) wurde sowohl die Geschichte des Judentums als auch die der arabisch-israelischen Kriege dargestellt. Israel wurde ausschließlich als der Aggressor geschildert, auch als Befürworter des ersten Golfkrieges (den Ruven fast durch ein Gespräch mit Bundespräsident Weizsäcker verhindert hätte, nur das Gespräch kam leider nicht zustande).
Fortsetzung folgt
anne.c - 21. Jul, 16:19
Zum ersten Mal hörte ich von Ruven, als Bekannte von mir, ein älteres Ehepaar, einen Bericht über ihre Reise nach Israel hielten. Ein ganz besonders charmanter und interessanter israelischer Reiseleiter hatte sie durchs Land geführt. Neben den vielen Sehenswürdigkeiten, die er ihnen gezeigt hatte, hatte er sie auch mit „Land und Leuten“ bekannt gemacht. Den weiteren Bericht fand ich ziemlich unangebracht. Das Ehepaar äußerte allzu sehr seinen Abscheu über die vielen israelischen Soldaten. Sie waren zu der Ansicht gekommen, dass in einem Land, wo so viel Militär zu sehen ist, nie Frieden sein kann. Ihre „Begegnungen“ beschränkten sich hauptsächlich auf Besuche bei Palästinensern, die viel Mitleid mit deren Situation hervorriefen. Einmal waren sie bei einem Juden eingeladen. Er stammte aus Breslau, hatte alle seine Verwandten durch die Deutschen verloren. Diesem Mann gab die wohlmeinende deutsche Reisegruppe den Rat, dass man in Israel toleranter sein müßte. Dass dieser Mann darauf die Fassung verlor und meinte, schon die Tatsache, daß er sich mit ihnen an einen Tisch setze, wäre Toleranz, bestärkte die Mitglieder der Reisegruppe in der Meinung, daß die Juden in Israel arrogant und militant sind.
So begann ich vorsichtig eine Diskussion mit dem Ehepaar und fragte sie, ob sie nicht wenigstens Verständnis für diesen Mann hätten. Darauf reagierten sie heftig und emotional. Das verwunderte mich nicht, denn ich hatte schon die Erfahrung gemacht, daß Leute aus dieser Generation mit dem Thema Juden, Israel nicht zurechtkommen, daß jegliches Denken aussetzt und aufgeregtes emotionales Durcheinander zutage tritt. Was ich damals noch nicht durchschaute war, daß ihre Ansichten über Israel nicht nur eigenen Beobachtungen entsprangen, sondern daß im Hintergrund jemand geschickt agierte, der ihnen genau das zeigte und suggerierte, was sie gern erfahren wollten.
Die Reisen nach Israel waren so schön, dass sich immer wieder die gleiche Reisegruppe um den gleichen Reiseleiter scharte. Einige meiner Bekannten gehörten zu den regelmäßig mit Ruven Moskovic Reisenden. Ich hörte Wunderdinge über ihn: Ein fabelhafter, ein ganz besonderer Mensch ...., es gibt nichts, was Ruven nicht kann ...., es ist alles spontan und abenteuerlich mit ihm ....., sein ganzes Leben widmet er der Versöhnung von Juden, Palästinensern und Deutschen ...., er betreibt mehrere Projekte, die alle dem Frieden gewidmet sind .....
Alles, was ich über Ruven hörte, beeindruckte mich und machte mich neugierig auf ihn. Er ist ein aus Rumänien stammender Jude, ein Historiker und lebt in Israel, in Jerusalem. Er hält sich sehr viel in Deutschland auf und veranstaltet für kirchliche Gruppen Reisen nach Israel, aber auch nach Rumänien. So hörte ich es. So entschloß ich mich eines Tages, an einer Reise mit ihm nach Rumänien teilzunehmen. Damals vernahm ich zum erstem Mal misstrauische Töne über Ruven und zwar von meinem Mann: Die Reise ist viel zu teuer, das muß ein Betrüger sein .... Ich konnte es nicht selbst feststellen, da ich meine schon gebuchte Reise wegen Krankheit absagen mußte. Später wunderte ich mich, als ich die Reiseberichte hörte, dass es eigentlich eine ganz normale touristische Reise gewesen sein mußte. Vom intimen und persönlichen Kennenlernen des Landes war nichts zu erfahren.
Ruven schickt am Ende jeden Jahres einen Rundbrief an alle seine deutschen Freunde. Als potentielle Bewunderin bekam ich damals, Ende 1993, auch diesen Rundbrief, und der gab mir dann doch zu denken. Nicht nur, daß er sehr langweilig war – er enthielt keinerlei persönliches Erzählen -, es war eigentlich eine einzige Schmähschrift auf den Staat Israel und seine Politik. Der Brief war ein selbstgerechtes Dozieren, ein Verkünden von ein paar Lieblings- und auch Schnapsideen. Dadurch sank ziemlich mein Interesse an Ruven.....
Fortsetzung folgt
anne.c - 17. Jul, 10:22
sind ebenso selbstverständlich wie Antisemiten jeglicher anderen Art. Vor Kurzem starb der Jude Ilan Halevy, ein Mitglied des Revolutionsrates der Fatah, auch so etwas gibt es. Der Hinweis von "normalen" Antisemiten, dass es Juden gebe, die genau ihre Meinung vertreten, und das sie der "Beweis", dass sie mit ihren Ansichten "recht" haben, ist ein typischer Trugschluss. Der Begriff Antisemitismus ist derart auslegbar und unbestimmt, dass er benutzt werden kann, wie jedem der Sinn danach steht, und im Gegenteil. In Köln beispielswese wurde ein klassisches antisemitisches Bild, das auf der so genannten Kölner Klagemauer hängt - ein kopfloser Körper mit Judenstern, der dabei ist, ein kleines Kind aus Gaza zu verspeisen - von Gerichts wegen als "nicht antisemitisch" eingestuft, weil der verspeisende Körper nicht mit einer Hakennase versehen sei, durch die man einen Jude erkenne, so jedenfalls hieß es bei einem deutschen Gericht. Dem hohen Gericht unterlief da offensichtlich ein Fehler, denn nach den Bestimmungen des 3. Reichs mussten auch viele Nichthakennasige den Judenstern tragen.
In Deutschland werden jenen Israelkritikern, deren Reden man ohne Weiteres als antisemitisch bezeichnen kann, gern Preise verliehen. Solche Auszeichnungen notieren oft unter dem Titel "Versöhnung" und "Frieden". Es bleibt nur abzuwarten, wann Walter Hermann, dem Initiator und Chef der "Kölner Klagemauer", einer primitiv-antisemitischen Bildinstallation, die er Tag für Tag (außer montags und wenn´s regnet) auf der Kölner Domplatte präsentiert, ein Versöhnungspreis der Stadt Köln verliehen wird.
Es fällt mir schwer, von Dingen zu schreiben, an denen ich nicht beteiligt bin. So möchte ich nicht über Tony Judt, Judith Butler, Yfaad Weiss, Daniel Barenboim äußern, eben alle die, gelinde gesagt, selbst entsandten jüdischen Israelkritiker, die in Deutschland mit Versöhnungs- und Friedenspreisen dekoriert wurden, sondern werde vom Träger des Aachener Friedenpreises Reuven Moskovitz berichten. In den nächsten Wochen möchte ich meine Geschichte mit ihm, die ich selbst erlebt habe, in mehreren Abschnitten hier aufschreiben.
anne.c - 14. Jul, 19:29
Bei einem sommerlichen Ausflug gelangte ich in das vorpommersche Städtchen L. Als Kind lebte ich hier einige Jahre, und so beschloss ich, mir das Pfarrhaus anzusehen, wo ich damals gewohnt hatte. Kurz nach der Einfahrt ins Städtchen lag rechts an der Durchgangsstraße das Pfarrhaus, in dem ich meine Kindheitsjahre verbrachte. Eine Parkplatz am Straßenrand lud zum Anhalten ein. Zuerst studierte ich den kirchlichen Schaukasten. Es schien kirchliches Leben stattzufinden. Verschiedene Veranstaltungen wie Gottesdienst und Bibelstunde waren angekündigt. Es fehlte aber jeder Hinweis auf das Pfarramt, den Pfarrer und eventuelle Sprechzeiten, so dass es den Anschein hatte, die Pfarrstelle wäre vakant. Das Pfarrhaus wirkte etwas verödet und leblos, was meine Vermutung verdichtete. Ich wusste, dass der nette Pfarrer W., den ich noch kannte, in den Ruhestand gegangen sein muss. Also freute ich mich, dass ich wahrscheinlich Gelegenheit haben werde, Hof und Garten ohne lästiges Fragen und Bitten zu besuchen und ging bis zur Eingangstür des Pfarrhauses (keinen Schritt weiter). Auch an der Tür gab es keinerlei Hinweis auf einen Pfarrer oder eine Pfarrtätigkeit. Plötzlich löste sich von einem aufgebockten Auto in der Nähe der Pfarrscheune die Gestalt eines Mannes. Er kam auf mich zu, stellte sich vor mich hin und fragte: „Was suchen Sie hier?“ Etwas verblüfft gab ich zur Antwort: „Ich interessiere mich für die Kirche, kann ich sie vielleicht ansehen? Gibt es hier einen Pfarrer?“ Er antwortete: „Wenn ich hier nicht vor ihnen stehen würde, würde es keinen Pfarrer geben!“ Das verblüffte mich noch mehr, aber ich behielt die Fassung und fragte weiter: „Aber hier steht doch keinerlei Hinweis auf ein Pfarramt.“ Die Antwort kam prompt: „Hier gibt es keine solchen Hinweise, weil das so mein Wille ist. Und überhaupt, wer sind Sie eigentlich, stellen sie sich erst mal vor.“ Über dieses Verhalten war ich so erstaunt, dass mir keine passende Antwort einfiel und ich mich tatsächlich vorstellte. Dann durfte ich sogar die Kirche besichtigen.
So unglaublich diese Begebenheit klingt, sie hat tatsächlich so stattgefunden. Gerade habe ich in einer kirchlichen Zeitung gelesen, wie wichtig es sei, dass die Kirche auch Kirchenfernen Spiritualität zeige, und überhaupt sei es sehr wichtig, um die Kirchenfernen zu werben. Aufwändige Studien über den Bedarf nach geistlichen Bedürfnissen der Bevölkerung werden durchgeführt, ja an der regionalen Universität gibt es Gegend sogar ein Institut für Missionierung. Man schreit geradezu nach neu zu gewinnenden Kirchensteuerzahlern.
Vermutlich hatte der Pfarrer ein Gespür dafür, dass ich nicht kirchenfern genug war, so dass um mich geworben werden müsste. Und so zeigte er mir stolz das andere Gesicht der Spiritualität.
anne.c - 1. Jul, 12:11
Ein Interview heute Morgen im Deutschlandfunk, in dem ein Redakteur den ehemaligen Bundesnachrichtendienst-Chef Hans-Georg Wieck aus Anlass der Enthüllungen des abtrünnigen CIA-Manns Snowden zu Praktiken der Geheimdienste hier und anderswo in der westlichen Welt befragte, erinnerte mich an einen abgedroschenen DDR-Witz aus den Zeiten der deutschen Doppelstaatlichkeit.
Ein Westbürger und ein Ostbürger (die Bezeichnungen Wessi und Ossi lagen noch in ferner Zukunft) behaupten jeweils, ihr Land wäre das freieste der Welt. Der Westbürger sagt. "Bei uns kannst du sagen, was du willst. Du kannst sogar sagen, dass Helmut Kohl ein Arschloch ist und es passiert dir überhaupt nichts." Darauf der Ostbürger: "Siehst du, da sind wir genauso frei wie ihr, denn wir können auch sagen, dass Helmut Kohl ein Arschloch ist und es passiert uns genauso überhaupt nichts".
Mit ähnlichem Mut ausgestattet wie der Ostbürger im Witz, denn nichts ist billiger - in der DDR ebenso wie im DLF - als die Amerikaner zu beschimpfen, wollte der DLF-Redakteur den unerschütterlich rechtschaffenen Geheimdienstchef in die Enge treiben. Dieser sah überhaupt keine Veranlassung, Fragen auszuweichen, denn er war ja bereits ein Chef außer Dienst, konnte sich also nicht um Kopf und Kragen reden wie einst Bundespräsident Köhler, der unpassenderweise geäußert hatte, dass eine Verweigerung des Einsatzes in Afghanistan nicht möglich sei, denn man müsse schließlich auch die Handelswege frei halten.
Der pensionierte BND-Chef nahm durch bereitwilliges Antworten den Fragen des DLF-Redakteurs alle Schärfe und stieß den Reporter immer höflich aber unmissverständlich auf den Boden der Tatsachen zurück. Die aufdringliche Eifrigkeit des Fragenden und die mit prägnanten Antworten unterlegte Auskunftsfreudigkeit des Gefragten muteten so kurios an, dass ich den Eindruck hatte, einem Sketch von Loriot zuzuhören.
anne.c - 25. Jun, 17:13
Meine erste Israelreise unternahm ich mit einer Reisegruppe. Eine befreundete Pastorin hatte die Reisegruppe zusammen gestellt und leitete sie auch, und so schloss ich mich der Gruppe an. Die Mitreisenden waren mehrere Pfarrerehepaare sowie Mitglieder aus der Gemeinde meiner Freundin. So hatte ich die Gelegenheit, die Gepflogenheiten in einer Reisegruppe kennen zu lernen. Gespannt war ich darauf, welche Einstellung meine christlichen Mitreisenden dem Land Israel und seinen Bewohnern gegenüber hatten. Um es vorweg zu sagen: Es ernüchterte mich ungemein. Viel Sympathie für und großes Interesse an diesem Land waren kaum zu spüren. Ein Erlebnis soll diese meine Empfindungen verdeutlichen:
In Jerusalem wird eine deutsche Reisegruppe sehr bald zu den Einrichtungen der deutschen evangelischen Gemeinde geführt, dem Auguste Viktoria Krankenhaus mit der Himmelfahrtkirche. Hier hielt uns eine Angestellte der deutschen Gemeinde einen Vortrag über die Situation der Christen im Land. Die israelische Reiseführerin verließ diskret den Raum. Sie wusste wohl von ähnlichen Gelegenheiten, welcher Art diese Vorträge sind. Worte wie "unterdrückt" und "Besatzung", rauschten nur so an mir vorbei. Schließlich war es mir zu viel, und ich meldete mich zu einer Frage: "Wenn ich sie höre, klingt das so, als hätte es einmal einen palästinensischen Staat gegeben, den Israel besetzt hat. Ist das so?" Die Vortragende verstand sofort (sie schien die Erkenntnis zu haben: Feind hört mit) und gab zu, dass die Palästinenser einst von Jordanien besetzt waren, "Aber das waren doch wenigstens ihre eigenen Leute!", und dann schloss sie ihren Vortrag schnell in einer sehr unverbindlichen Weise.
Die Pointe dieser Episode war so schön. dass ich sie gern immer wieder erzähle: Nach Ende der Veranstaltung kamen die Pfarrfrauen auf mich zu. Sie wollten mir die Situation, die ich herbei geführt habe, erklären. "Wissen sie, aus diesem Konflikt müssen gerade wir als Deutsche uns ganz heraus halten. Da darf man sich nicht auf die eine oder auf die andere Seite stellen. W i r haben gleich gemerkt, dass sie auf der a n d e r e n Seite stehen!"
anne.c - 15. Jun, 21:19
(Fortsetzung vom 2.6.)
Die Predigt des jungen Felix
Felix spricht in seiner Predigt darüber, in welch schlechten Zustand die Erwachsenen die Welt gebracht haben. Er legt dar, dass er eine Lösung für die Missstände der Welt ausgedacht habe, nämlich das Pflanzen von Bäumen. Er erzählt, dass er eine weltweit vernetzte Kinderorganisation aufgebaut hat, die inzwischen schon viele Millionen Bäume pflanzte . Was er strikt vermeidet, ist jegliches Erklären, wie seine Projekte konkret verwirklicht werden. Ich stellte mir vor, dass 150 Bäume, die jeder einzelne Mensch auf der Welt pflanzen soll, damit die Welt gerettet würde, eine ganz schöne Fläche brauchen. Wer stellt die Fläche zur Verfügung? Oder werden einfach im nächst besten Wald Bäume gepflanzt, da wo der Förster es sowieso vor hat? Was sagen die "Spekulanten", die für Felix die Verkörperung des Bösen sind, dazu, wenn auf Flächen, die z. B. für nachwachsende Rohstoffe vorbehalten sind, nun auf einmal ein Wäldchen wächst? Auch fragte ich mich, warum in meiner näheren Umgebung noch keine Kinder einen Wald gepflanzt haben - jedenfalls habe ich nichts davon gemerkt -, obwohl nach Felixens Vorstellung die Kunde vom Pflanzen der Bäume sich wie ein Lauffeuer um die ganze Erde nach dem Prinzip der Potenzrechnung verbreitet hat: Jeder überzeugt zwei Menschen, diese wiederum zwei andere, und in 32 Monaten sind schon mehr Menschen, als die Erde überhaupt hat, vom Baumpflanzen überzeugt. Das erinnerte mich an die Briefe, die ich als Kind oft bekam. Man sollte an fünf Freunde den Brief weiterleiten, und dem letzten auf der Liste eine Ansichtskarte schicken, und in Kürze hätte ich dann 125 (?) Ansichtskarten. Ich habe sogar einmal eine einzige Ansichtskarte bekommen. In dem Zusammenhang fiel ein bezeichnender Satz, der Felix Denkweise und leider auch diejenige vieler Menschen mit einer simplen Weltanschauung kennzeichnet: Es würde nur 32 Monate dauern, bis 8 Milliarden Menschen überzeugt sind und alle das Gleiche denken.
Felix Idee vom Pflanzen der Bäume fand ich nicht das Bedenkliche an der Kanzelrede. Sondern seine Einteilung der Welt in Gut und Böse und die Forderung nach einem einheitlich-totalitärem Denken. Felix weiß was gut und böse ist, und deshalb sollen wir alle Felix nachfolgen. Da frage ich mich, was Felix mit denen machen würde, die sich weigern, so wie er und die angedachten 8 Milliarden Menschen zu denken.
Er spricht von Kindern, die sich ständig Fragen stellen, warum die Erwachsenen versagen und von Erwachsenen, die "nichts" tun. "Wir Kinder und Jugendliche fragen uns .....", sagt er oft. Es gibt schlimme Banker, für die man sich schämen müsse, Spekulanten, die keine Existenzberechtigung hätten, der "Markt", der es nicht schafft, die Armen aus der Armut zu holen. Die besonderen Feinde wären die "Lobbyisten", was immer man sich darunter vorstellen mag. Dass Felix selbst ein Lobbyist für das Bäumepflanzen ist, schien ihm nicht bewusst zu sein.
Er weiß genau, dass die Märkte nichts taugen, ja er möchte sogar das gesamte "System" verändern. Er weiß noch nicht, ob durch Evolution oder etwa durch Revolution. Als Beispiel, wie durch Ansammlung vieler Einzelner ein neues "System" entstehen kann, führt er ausgerechnet diese Linie auf: Papst Johannes Paul ermutigte - Lech Walesa gründete Solidarnosc - und dann rief Joachim Gauck mit seinen Freunden "Wir sind das Volk!", und schon fiel die Mauer (dass Joachim Gauck auf den fahrenden Zug der "Revolution" sprang und nicht etwa die Losung ´Wir sind das Volk` ausgedacht hat, sei nur am Rande bemerkt). Aber dass nicht Parolen und Kerzen das "System" zu Fall gebracht haben, sondern dass dieses so marode war, dass es in sich zusammen fiel, mag Felix, der gut nachplappern kann, nicht bekannt gewesen sein. Was beim Fall der Mauer eine besonders große Rolle spielte, war übrigens die übermächtige Verlockung der ungeliebten Märkte.
Warum widme ich ausgerechnet dem jungen Felix zwei Beiträge? Weil ich mich in diesem Blog im weiteren Sinne mit der Ideologie befasse. Sie war unser "täglich Brot" in der DDR. Wer sie selbst nicht verinnerlichen wollte, der musste zumindest verinnerlichen, was Ideologie ist und was sie bewirkt. Und dazu gehört auch Indoktrinierung, die ich dem guten Felix unterstellen muss. Dazu gehört auch eine platte Weltsicht, die für komplexe Probleme einfache Lösungen parat hält. Nicht umsonst dachte ich spontan als ich das Bürschchen auf der Kanzel sah: Der sieht wie ein junger Pionier aus, gut geschult im öffentlichen Verkünden von Parolen.
anne.c - 8. Jun, 22:52
oder: Gedanken während des Endspiels der Champignon League
Es ist ein Ausdruck von Freiheit, etwas nicht mitzumachen, was alle anderen um Einen herum tun. So verweigerte ich mich dem Endspiel der Champignon League. Ganz abseits stehen wollte ich aber nicht. Vor dem Fernseher saß ich ebenfalls. Neugierig war ich darauf, was die anderen Sender zu dieser bedeutungsvollen Zeit senden. So landete ich schnell bei Bayern alpha, dem Sender, den ich als Beispiel dafür ansehe, dass es in den Fernsehsendern nicht um die Quote gehen muss. Bayern alpha sendet oft endlose und knochentrockene Veranstaltungen von evangelischen und katholischen Akademien oder Gespräche mit oft kaum bekannten Menschen, die manchmal auch interessant sind. Dieses mal traute ich meinen Augen kaum: Der Schauplatz war eine Kirche, in der ein junges Bürschchen auf der Kanzel stand, und einer großen Schar Erwachsener eine Predigt hielt. Ein Junge namens Felix (später stellte ich fest, dass er 15 Jahre alt war) erklärte den Erwachsenen, warum er eine Mega-Baumpflanzaktion initiiert hat mit dem Ziel, die Welt zu retten. Er predigte fast eine Stunde lang, und am Ende war ich in einem Zustand, den man nicht anders als "verstört" bezeichnen kann.
Der junge Felix, in seiner Funktion als "Kind" war zur Kanzelrede eingeladen worden, um den "Erwachsenen" darzulegen, warum er schon seit ein paar Jahren Kinder aus aller Welt dazu bringt, eine Unmenge Bäume zu pflanzen mit dem hehren Ziel, die Welt dadurch zu retten. Er erzählte nicht etwa darüber, wo und unter welchen Umständen die Bäume gepflanzt werden, auf welche Weise er mit den Kindern der Welt zusammen arbeitet, wie die Bäume eingegraben, gegossen und gepflegt werden. Mit solchen Lappalien hielt Felix sich nicht auf, sondern ihm ging es nur um das "ganz Große". Die Bäume wurden nur in Millionen, Milliarden, wenn nicht in Billionen gezählt. Er wusste über all die großen Probleme der Welt bestens Bescheid und auch um deren Lösung. Sei es die Finanz- und Schuldenkrise, die Energieversorgung der Erde, Klimawandel. Alles was Felix predigte, hatte ich schon irgendwo gelesen oder gehört. Felix brachte es in einem Duktus vor, als wäre er zu diesen Erkenntnissen aufgrund intensiven Nachdenkens und als allererster Erdenbürger gekommen. Kurzum - er kam mir vor wie ein gründlich indoktriniertes Kind. Seine Methode war, dass er die besorgten, denkenden und handelnden Kinder den gedankenlosen und nicht oder verkehrt handelnden Erwachsenen gegenüber stellte.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 2. Jun, 22:03