Samstag, 25. Mai 2013

Tod eines Dirigenten

Nun schreibe ich eine der "nebensächlichen Begebenheiten, die ein Charakteristikum einer komplexen Realität" sind auf , damit sie nicht in Vergessenheit gerät:

Eines Tages wurde mehrmals am Vormittag im Deutschlandfunk in den Nachrichten gesendet, dass ein israelischer Dirigent gestorben ist. Seinen Namen hatte ich nie gehört, er gehörte jedenfalls nicht zu den Spitzendirigenten, deren Namen oft genannt werden. Hinzugefügt wurde jedes mal bei der Nachricht: "Er war der erste, der in Israel eine öffentliche Wagner-Aufführung dirigierte, was scharfe Proteste von Holocaustüberlebenden hervorgerufen hat".

In dieser Nachricht, die ich in keinem anderen Sender gehört hatte, steckt viel vom Ungeist des DLF: Sie würdigten den ansonsten nicht übermäßig bekannten Dirigenten als den, der es „wagte“, in Israel Wagner aufzuführen. Da schwingen die „nicht verzeihen wollenden Holocaustüberlebenden“ mit, die Israeli, die unserem großen Wagner nicht die gebührende Ehre zollen wollen, „nur wegen des Holocausts“. Der „Mut“ eines der Ihrigen, der es trotzdem gewagt hat. Und alles in einer Sprache, die sich scheinbar unangreifbar und neutral gebärdet.
Und das alles eben in einem Sender mit dem selbstgewählten Namen Deutschlandfunk.

Montag, 20. Mai 2013

Buchrezension "In Zeiten des abnehmenden Lichts" von Eugen Ruge

"In Zeiten des abnehmenden Lichts" von Eugen Ruge
(Deutscher Buchpreis und Alfred-Döblin-Preis)

Der Roman schildert eine Familiengeschichte im Zeitraum von vier Generationen und spielt in der DDR, teilweise auch in Mexiko. Er scheint viele autobiografische Bezüge aufgenommen zu haben. Ebenso wie Eugen Ruge hat seine Romangestalt Alexander (Sascha) Eltern, die ins Exil in die Sowjetunion gingen und dort auch zeitweise deportiert waren. Er selbst und auch die Hauptperson wurden in der SU geboren. Ebenso reisten beide Ende der 80-er Jahre nach Westdeutschland aus. Die Eltern gehörten der DDR-Nomenklatura an, was keinen Widerspruch zum Arbeitslager in der SU bedeutete. Der Vater Wolfgang Ruge war in der DDR Historiker, ebenso wie Saschas Vater Kurt. Man kann im Roman viel vom Leben der DDR-Führungsschicht erfahren: Wie sie dachten, wie abgehoben sie im Vergleich zur Bevölkerung lebten, aber andererseits auch was für normale Menschen sie waren und wie schwer sie die Veränderungen am Ende der DDR auch nur begreifen konnten.

Der Roman hat einen eigenartigen Aufbau, weil er konsequent und unchronologisch zwischen den Zeitabschnitten und zwischen den Generationen hin und her osziliert. So sind die Handelnden einmal alt, einmal mittelalt, einmal jung und halten sich an verschiedenen Orten auf. Der Protagonist Alexander lebt gegen Ende der Handlung in Mexiko. Er ist krebskrank und möchte den Ort kennen lernen, an dem seine Großeltern (Charlotte und Ehemann Wilhelm) einst im Exil gelebt haben. Der Vater dagegen war im Exil in der SU gewesen und hatte dort seine Frau Irina, eine Russin, kennengelernt und sie mit in die DDR gebracht. Sie selbst holt später ihre alte Mutter nach, als diese sich nicht mehr allein versorgen kann.

Die Handlung: Eigentlich ziemlich "normales Leben": Man nimmt an Familienfesten teil, erlebt die Freundinnen des Sohns, die Geburt der "4. Generation" Marcus, Scheidung, Fremdgehen, Rückerinnerungen und besonders das Altwerden der ersten und zweiten Generation. Die beiden älteren Generationen leben sehr selbstverständlich in der DDR.

Wilhelm und Charlotte halten sich anfangs noch in Mexiko auf, ihr Leben ist ganz auf die Partei ausgerichtet. Sie scheinen sich mit der Partei ganz und gar eins zu fühlen. Ein einziger Tag durchzieht übrigens den gesamten Roman. Es ist der 1. Oktober 1989, Wilhelms 90. Geburtstag, ein Tag, an dem sich die DDR voll in Auflösung befindet, was aber von den Protagonisten nicht zur Kenntnis genommen wird. Dieser Tag wird aus allen möglichen Perspektiven von 6 verschiedenen Personen geschildert. Wilhelm ist schon recht senil, vielleicht stirbt er sogar. Alexander ist gerade auf einer Besuchsreise im Westen geblieben. Diese Tatsache steht über dem gesamten Tag, aber keiner wagt es richtig, darüber zu sprechen.

Die Sprache: Viel wörtliche Rede, viele Gedanken und Erinnerungen, sehr konkret, wenig Reflexionen oder Gedankentheorie. So kann man recht gut am Leben der Personen teil haben. Trotzdem bleiben sie eigenartig uncharakteristisch. Da besagte Zeitsprünge stattfinden, muss man sich sehr hineindenken: Wer ist wer, wie alt, in welcher Situation? Das hat aber auch seinen Reiz. Für meinen Geschmack ist die Sprache manchmal gewollt vulgär. Zu diesem feinsinnigen Mann Eugen Ruge passt die Schilderung mancher groben Sexszenen nicht. Man hat den Eindruck, dass er damit nur zeigen möchte, dass er nicht nur so feinsinnig ist, wie er erscheint. Das wirkt komisch, weil man es ihm nicht abnimmt.

Da der Roman überwiegend aus Sprechpartien und Handlung ohne Reflexion besteht, bleiben manche Vorgänge nicht ganz nachvollziehbar. Ein wenig scheint mir das Buch mit dem "Turm" von Uwe Tellkamp verwandt zu sein, weil dieser Roman die gleiche Zeit und ein ähnliches wenn auch anders gelagertes Milieu, sowie viel DDR-Schilderung beinhaltet.

Sonntag, 12. Mai 2013

Neid

Im Fernsehen sah ich einen Film zum Thema Neid. Es hieß: In Deutschland gäbe es eine richtige Neidkultur. Neid wäre hier besonders verbreitet und man mache sogar Geschäfte, in dem man auf den Neid anspiele. Interessant an dem Film war, dass Neid fast ausschließlich auf materielle Dinge gemünzt wurde. Immerzu war man neidisch auf Wohlstand, auf Autos, auf Luxusreisen. Auch war es interessant, dass Neid hauptsächlich anderen von jenen unterstellt wurde, die sich selbst für besonders beneidenswert hielten. Als ich mir die Gegenstände des Neides ansah, musste ich doch lachen: Anläßlich eines Luxusbanketts standen Joschka Fischer und Udo Walz beieinander, und sahen entrückt dem Gekreische einer völlig aus dem Leim gegangenen amerikanischen Diva zu, und hielten sich für sehr beneidenswert!

In Deutschland wird der Idealismus sehr hoch gehalten, die Leute betonen, dass ihnen bestimmte „Werte“ wichtig seien. Da ist es doch seltsam, dass sich ihre Wünsche und Sehnsüchte einschließlich ihres Neides so sehr auf rein materielle Dinge richten. Einmal las ich, dass in den verschiedenen Kulturkreisen die Menschen für bestimmte Dinge eine Ambivalenz empfinden, dass sie sich in manchem als minderwertig empfinden, was sie zu kompensieren versuchen, indem sie gerade darauf eine besondere Wichtigkeit legen. Mir fiel es in England auf, wo ich mir aus Langeweile beim Warten auf dem Flughafen eine Zeitschrift kaufte. Die war nicht viel anders als die hiesigen Tratschzeitschriften, aber eine viel stärkere Betonung des Sexuellen fiel auf. In verschiedenen Artikeln und Kolumnen betonten Stars bis hin zur letzten Putzfrau ihr erfülltes Sexualleben. Wo die Engländer doch als prüde gelten! So muss das hier mit dem Neid und der Gier auf materielle Güter sein, die vielleicht in der Gesellschaft vorhanden sind. Man versucht sie durch Überbetonung der Moral und des Strebens nach Werten zu verdrängen.

Dienstag, 7. Mai 2013

Und noch einmal Günter Grass

Nicht weil es mich dazu drängt, sondern weil am Sonntag (dem 5. Mai) im Sender Phoenix anschließend an den Presseclub ein einstündiges Interview mit ihm gesendet wurde. Zum ersten Mal bekam ich nun Gelegenheit, GG zuzuhören, wie er über sein Gedicht und seine Meinung zu Israel spricht.

Es ist interessant zu erleben, welche Sprachregelung ein Mensch, der die Nazizeit bewusst und aktiv erlebte, in der Waffen-SS diente und dann zu einem wortgewaltigen Schriftsteller wurde, für den Holocaust findet. "Die von den Deutschen zu verantwortenden Verbrechen", nannte er es. Er informierte die Zuschauer also, dass die von den Deutschen zu verantwortenden Verbrechen eine starke Auswanderung von Juden nach Palästina verursacht haben, was zu Vertreibung und Beraubung der Araber führte. Großes Leid und Unglück sei über die Araber gekommen. Sie seien zu Bürgern zweiter Klasse geworden, was dem Gründungsakt Israels widerspreche. Das müsse man kritisieren, denn damit helfe man Israel. Und er stehe zu Israel, betonte Grass.

Es fielen mir zwei verschiedene ältere Leute ein, die ich in Israel kennen gelernt hatte. Im Gegensatz zu mehreren ihrer Familienangehörigen waren sie als Jugendliche nach Palästina emigriert. Ob Grass die Tatsache der Emigration als ein von Deutschen zu verantwortendes Verbrechen ansieht, sei dahin gestellt. Eher sieht er es aber wohl als ein von Juden an Palästinensern zu verantwortendes Verbrechen an. Bei meinen beiden Bekannten sah ich mir Fotoalben an, die ihre Zeit in Israel dokumentierten. Ich war erstaunt. In den 40-er und 50-er Jahren war das Land, wo ich jetzt üppig blühende Kibbuze erlebte, bestanden von großen Schatten spendenden Bäumen, eine einzige baumlose Wüstenlandschaft gewesen. Das soll ein Verbrechen sein, Land zu kaufen, es unter großen Mühen urbar zu machen, vielen Menschen, selbstverständlich auch Arabern Arbeit zu geben? Ob dieser ältere Jude, der inzwischen immerhin zum Ehrenbürger seiner norddeutschen Geburtsstadt ernannt wurde, jemand ist, der Araber vertrieben hat? Ob es seine Kinder und Enkelkinder sind?

Geht GG etwa von der in seinem Kopf geisternden Unterstellung aus, dass Juden in ein blühendes Land Palästina eingefallen sind, Zerstörung anrichteten, viele "Ureinwohner" vertrieben haben und den Rest jener auf ihrer Scholle Sitzenden zu ihren Sklaven machten? So wie Deutsche es einst in den von ihnen eroberten Gebieten taten.

Interessant wurde es weiterhin, als die Rede auf Europa kam. Und siehe da, ich traute meinen Ohren kaum: Nach Europa werden noch viel mehr Menschen aus aller Welt einwandern, sagte Meister Grass, und das sei gut so. Was für eine Bereicherung erfahren wir durch sie! Ebenso eine Bereicherung, wie dazumal als die Hugenotten, nach Deutschland einwanderten und einen wirtschaftlichen Aufschwung bewirkten.

Über welchen doppelten Maßstab verfügt GG eigentlich? Einwanderung ist grundsätzlich gut, so lange es nicht Juden sind, die da kommen. Einwanderer nach Europa bedeuten Bereicherung und Aufschwung. Jüdische Einwanderer nach Palästina – und was für eine gewaltige Aufbauleistung sie dort vollbracht haben, kann jeder, der es will (ausgenommen allerdings GG), sehen - bedeuten Unglück und Zerstörung. Das doppelte Maß, wonach man Juden so beurteilt (und verurteilt) als seien sie etwas ganz anderes als andere Menschen, ist übrigens ein Zeichen des Antisemitismus.

Mittwoch, 1. Mai 2013

Die Stasi der Anderen

Nichts gegen den Film "Das Leben der Anderen". Man hat bei dem Film die Vorstellung, dass er geradezu für das amerikanische Publikum gedreht wurde, um dessen romantisch-abenteuerliche Vorstellung von der "Stasi" erfüllen zu können und um dann den Oscar verliehen zu bekommen. Aber ich erinnere mich noch, wie eine alte Frau aus unserer Verwandtschaft, die einige wirkliche Begegnungen mit der Stasi erlebt hat, wütend aus dem Kino kam - sie war zu diesem Film eingeladen worden -, und sagte: "So waren die nicht! Ich weiß, wie die von der Stasi waren, solche wie im Film gab es dort nicht!"

Sie selbst hatte viele Jahre zuvor etwas getan, was niemand aus ihrer Umgebung verstehen konnte. Aus Liebe hatte sie von Westdeutschland aus in die DDR geheiratet. Alles wäre zu verstehen gewesen: Aus Liebe zu sterben, aus Liebe Verbrechen zu begehen und wer weiß noch was alles. Aber aus Liebe vom Westen in den Osten zu gehen, das war unbegreiflich. Und doch gab es einige Menschen, die das getan haben. Natürlich wusste man in den 50-ger Jahren nicht, dass die Mauer einmal eine sehr plötzliche und dann dauerhaft harte Trennung von den Freunden und Verwandten bringen würde. So kam es, dass Ende der 60-ger Jahre der Vater dieser Frau sterbenskrank war. Sie wollte ihn unbedingt noch einmal sehen, und bat in schönsten Worten um eine Reiseerlaubnis nach Westdeutschland. Ihre fünf unmündigen Kinder wären doch eine sichere Garantie, dass sie zurückkomme, ihr Vater liege im Sterben, und sie möchte sich von ihm verabschieden. Und dann bekam sie die präzise und wirklich stasigemäße Antwort: "Der stirbt auch ohne Sie".

So war die DDR und so sprachen und handelten ihre Protagonisten! Diese Szene ist nicht bedeutsam, aber sie ist trotzdem wert, festgehalten zu werden, denn sie ist ein Charakteristikum einer Wirklichkeit, die komplexer ist und eben realer ist, als es romantische Filme aufzuzeigen vermögen.

Donnerstag, 25. April 2013

Schlagzeilen

Im Autoradio hörte ich am 23. April in einer 5-Minuten-Nachrichtensendung, dass der schwer verletzte Attentäter von Boston dieses und jenes gestanden habe. Daraufhin folgte eine nochmalige Beschreibung des Attentats während des Marathonlaufs - wie es verlaufen ist, wie viele Tote, wie viele Verletzte. So als hörten es die entsetzten Zuhörer zum ersten Mal. Dabei ist es acht Tage her. Unwillkürlich dachte ich daran, wie viele Tote durch Terror es in dieser Zeit in anderen Ländern gegeben hat, im Irak, in Syrien, in Pakistan. Sie sind vergessen, sobald die Nachricht vorbei ist, wenn es denn überhaupt Tote genug sind, um sie für nachrichtenswert zu halten.

In verschiedenen Artikeln oder Blogs las ich Verwunderung oder Entsetzen, wie verschieden in den Medien berichtet wird - je nachdem wo sich eine Katastrophe oder ein Terroranschlag zugetragen hat. Es wird so sein, dass sich auch in den Medien der Kampf zwischen "Idealismus" und "Materialismus" abspielt. Idealismus - jeder Mensch ist in den Nachrichten gleich wert, eine Katastrophe sollte nach ihrer Schwere gewichtet werden, aber nicht nach dem Land, in dem sie sich abspielt. Materialismus - eine Nachricht ist umso mehr wert, je mehr Aufmerksamkeit sie erreicht, und umso mehr Menschen sie interessiert. In diesem Spannungsfeld wird sich die Nachrichtenzusammenstellung abspielen. Wahrscheinlich neigt sich die Waage dem "Materialismus" immer mehr zu. Warum sonst würden die Nachrichtensendungen in den so genannten seriösen Medien immer mehr Boulevardcharakter annehmen? Auch in ARD-Nachrichten werden wir mit aufgeregten Nachbarn konfrontiert und es häufen sich dort mangels Informationen oft Spekulationen, die nicht selten unseriöse Vorwegnahmen sind. Zusätzlich mag sich auch viel Hysterie in die Nachrichtengestaltung eingeschlichen haben.

Jedem das Seine, heißt es seit alters her - wir als Publikum akzeptieren auch diese mediale Ausrichtung oder heißen sie per Einschaltquote sogar gut.

Donnerstag, 18. April 2013

Günter Grass in Schwerin oder Was ist Kultur?

Die Buchlesung von GG im Schweriner Theater konnte ich nicht besuchen. Zum einen weil die 250 Plätze schon lange im Voraus ausverkauft waren, zum anderen, weil ich davon erst aus der Zeitung erfuhr, als die Lesung schon stattgefunden hatte. Ob ich die Veranstaltung besucht hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre? Vielleicht, aber viel mehr als Grass selbst hätte es mich interessiert, wie sich die Zuhörer ihm gegenüber verhalten. Beispielsweise ob es jemand gewagt hätte, ihm eine "kritische" Frage zu stellen oder ob eine interessante Diskussion zustande gekommen wäre.

Ein Artikel der Ostseezeitung geriet mir in die Hände, der den Abend mit GG beschreibt. Daraus ging recht gut hervor, dass der Abend so verlief, wie es zu erwarten gewesen war: Langweilig und in allem vorhersehbar. "Das Publikum stärkte Grass mit Applaus den Rücken und zollte ihm Respekt" - stand im Artikel. GG las eine Stunde lang aus seinem Buch "Grimms Wörter" und trank zwischendurch Rotwein. Im Podiumsgespräch scheint ihm niemand zu nahe getreten sein, dafür teilte GG gegen unfähige und duckmäuserische Kollegen aus und spottete über sie. Und wie es bei ihm üblich ist, "mischte er sich auch diesmal in die kleine und große Politik ein" und ermahnte die Schweriner Bürgermeisterin, dass Schwerin nicht zu einem Verwaltungszentrum verkommen, sondern dass in der Landeshauptstadt die Kultur nicht zu kurz kommen dürfe.

Unmerklich wie leise Hintergrundmusik rankte sich um den gesamten Artikel das Gedicht "Was gesagt werden muss", das - wie es betont wurde - Israel als Atommacht anprangerte. Die Journalistin gab sich Mühe, in ihre Zeilen Wortspielereien nach dem Schema einzuflechten: "Was gesagt werden muss, das musste er nun einmal offensichtlich sagen" und desgleichen. In Wirklichkeit sagte Grass überhaupt nichts. Die "duckmäuserischen" Kollegen waren nicht da, um sich zu verteidigen, die Oberbürgermeisterin strahlte ihn vor Glück an und Kultur war ihr ebenfalls unentbehrlich. So schien alles Reden aus Floskeln und Stereotypen bestanden zu haben. Die Überschrift des Zeitungsartikels lautete: "Zornig bleiben und nicht weise werden", eine Aussage, zu der sich GG stolz bekannte. Deuten kann man es, wie man will. Vielleicht sogar dahingehend, dass er aus seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS nichts gelernt hat und weiter zornig und uneinsichtig geblieben ist wie in alten Zeiten? GG beklagte die Uneinsichtigkeit anderer, des Zentralrats der Juden, der ihm eine antisemitische Haltung vorgeworfen habe. (Das zeigt wieder einmal die Zwickmühle, in der sich der Zentralrat befindet, der sich mit allen möglichen Politikern und Honoratioren gut stellen muss, sich in verschiedene Abhängigkeiten zu begeben hat, und dem sein zaghaftes Mahnen mehr vorgeworfen wird als anderen ihr entschiedenes Auftreten). GG beklagte, dass zu seinem Gedicht keine inhaltliche Diskussion möglich gewesen sei. Vor einem Jahr, als das Gedicht erschienen war, habe ich viele Beiträge darüber gelesen, die sich sehr intensiv mit dem Inhalt auseinander gesetzt hatten. So scheint GGs Lamentieren über diejenigen, die an seinem Gedicht etwas zu beanstanden haben, auch nur eine allgemeine Floskel zu sein.

Was ist nun das Resümee aus GGs Lesung? Für mich ist es die ernüchternde Einsicht, dass Kultur offensichtlich dort stattfindet, wo sich viele Menschen um einen Menschen mit hoher Popularität scharen, und wo dieser Mensch sein eigenes Wunschabbild darzustellen versucht, in diesem Fall den nicht weisen, zornigen Mann. Wo möglichst nichts Neues, Unerwartetes passiert, wo der mittelmäßige Wiedererkennungswert zum höchsten aller Maßstäbe erkoren ist. Eine statische, stagnierende Kultur im Sinne GGs bewirkt, dass viele Menschen bereit sind, mit Stereotypen vorlieb zu nehmen, statt sich einen eigenen, unverstellten Blick auf die Realität zu bewahren.

Donnerstag, 11. April 2013

In der Ukraine, 1942

Vor einiger Zeit blätterte ich in einem persönlichen Erinnerungsbuch, das die Geschichte des von Tschechen bewohnten polnisch-ukrainischen Dörfchens B. festhielt, dessen Bewohner nach dem Krieg zwangsweise vollständig in die Tschechoslowakei ausgesiedelt worden sind. Einer dieser Ausgesiedelten hatte sich große Mühe gemacht, die Geschichte des Dorfes, in dem auch unsere Verwandte lebten, bis in die kleinsten Details zu erforschen, mit vielen Tabellen, bis hin zu allen Ernteergebnissen.

Dann stieß ich auf das Kapitel "Tragische Schicksale von Zivilisten während des Krieges". Es gab Frauen, die an Typhus gestorben sind, weil sie schmutziges Wasser hatten trinken müssen, oder einen Jungen, der nichts ahnend mit einer Panzerfaust spielte und ums Leben kam. Ein anderer Junge beobachtete beim Kühehüten Soldaten, und als er dann einigen ausgerissenen Kühen hinterher lief, wurde er von diesen deutschen Soldaten von hinten erschossen, denn wer weglläuft, der ist verdächtig.

Dann eine Familie. Ein Ehepaar und die Schwester des Mannes, die mit einem Juden verheiratet gewesen, der bereits tot war. Nun war diese verwitwete Frau zu ihrem Bruder gezogen und versteckte in der Scheune Verwandte ihres Mannes. Nach der Entdeckung hat man an der Frau ein Exempel statuiert. Sie wurde an einen Lastwagen gebunden, der dann losfuhr und die Frau hinter dem fahrenden Wagen durchs Dorf schleifte, auf den ihre gesamte Familie geladen worden war. Vor den Augen der aller Bewohner rund um´s Dorf bis zum Tode. Alles was von Wert war, hat man der Familie geraubt. Alle Erwachsenen getötet. Nur die Kinder der „rein tschechischen“ Familie konnten durch eine beträchtliche Geldsammlung der Dorfbewohner von den Deutschen losgekauft werden.

Darauf war ich beim Lesen nicht vorbereitet gewesen, so konnte ich mich nicht wappnen und so schlug es mich so um, dass ich erst nach einer Weile wieder klar denken konnte. Diese Geschichten kenne ich schon, habe so viel gelesen, dass mich nichts überrascht. Doch urplötzlich dieser konkrete Fall...

Es kommt noch vieles dazu, was damit allem im Zusammenhang zu sehen ist. Jener bayrische Kirchenmusikdirektor, der an meinen Mann schrieb, dass die Juden so lange unversöhnlich bleiben, bis sie wieder einen Holocaust erleiden werden, und überhaupt hätten die Deutschen so viele „Holocausts“ begangen, dass die Juden sich nicht einbilden sollten, sie wären die Einzigen gewesen - das ist einmal eine ungewöhnliche Variante! Und Frau E., die zu der Zeit, als jene tschechische Frau in der Ukraine hinter dem Lastwagen zu Tode geschleift wurde, ein junges Mädchen war und drei Jahre später nach dem Krieg von Tschechen kein Waschwasser bekam und sich dann in der Elbe waschen musste, und dieses sei für sie bis heute das Unbarmherzigste, was sie im Krieg erlebt habe, jedenfalls wiederholt sie es immer wieder. Und die vielen Kirchenleute, deren großes Anliegen es ist, Denkmäler zu Ehren letztlich eben auch dieser Soldaten, die Frauen am Seil hinter Lastwagen schleiften, in den Kirchen aufzustellen und zu bewahren und die beleidigt sind, wenn es auch nur kritisch hinterfragt wird. Das alles ist allgegenwärtig!

In meiner "Sprüchesammlung" ist eine Zeile aus einem Gedicht von Czeslaw Milos:

Der du dem einfachen Menschen Unrecht getan,
und darüber noch lachst,
sei nicht so sicher,
der Dichter merkt es,
du kannst ihn töten,
es kommt ein neuer.


Und das ist eine winzige Verheißung!

Im Luftreich des Traums

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