Bei einer Zusammenkunft im Literaturclub kam einmal die Sprache auf ihn. Ein Ehepaar war aus Interesse, auf den „Sohn von Dieter Noll“ zu treffen, zu einer Veranstaltung mit ihm gefahren, und sie waren entsetzt, in welchem Habitus er aufgetreten war. Er war ihnen als orthodoxer Jude mit all den dazu gehörenden Kennzeichen erschienen. Das empfanden sie als abstoßend. Mehr war dem Bericht nicht zu entlocken.
Als wir dann ebenfalls eine Lesung mit Chaim Noll besuchten, waren wir überrascht, denn dieser Mann hatte nur ein Kennzeichen des Judentums, nämlich eine Kipa. Seine runde Brille und sein gestutzter Bart konnten nicht auffällige jüdische Kennzeichen gedeutet werden, sie erinnerten nur in der Erscheinung an altertümliche Fotos einiger Juden. Der Inhalt seiner Lesung war dann höchst interessant: Welchen Weg er genommen hatte, vom Sohn eines zur Kulturelite gehörenden DDR-Schriftstellers bis zum Bewohner einer israelischen Wüstenstadt. Er schilderte seine kulturellen und sprachlichen Wandlungen interessant und nachvollziehbar. Alles in einer sehr feinen Sprache.
Wir haben uns nun mit Chaim Noll befasst und mehrere Essays von ihm gelesen. Islamismus, Stalinismus - Totalitarismus insgesamt untersucht er. Die schleichende Verbreitung der totalitären Herrschaftssysteme, die in alle Lebensbereiche eingreifen wollen. Welche die Menschen versklaven und eine kleine Elite in den Himmel heben, aber sich insgesamt selbst zerstören unter riesigen Opfern an Menschenleben, an Kultur, Natur - ja eigentlich allem, was zum Bestehen der Menschheit gehört. Wie diese Vereinahmung schleichend um sich greift und oft mit Wohlwollen und vorauseilendem Gehorsam derjenigen, die es später einmal selbst treffen wird, einhergeht.
Chaim Noll ist ein sehr interessanter Mann, sowohl hinsichtlich seines Lebenswegs als auch durch seine geistige Einstellung und sein literarisches Werk.
anne.c - 26. Mai, 21:35
Ein weiterer Ausflug führte mich in ein abgelegenes Örtchen auf der Insel Usedom. Peenemünde. Einst Sitz der Heeresversuchsanstalt, der Ort, wo die im 2. Weltkrieg bewunderte und gefürchtete V 2-Rakete entstand, die Vergeltungswaffe, welche die Niederlage im letzten Augenblick abwenden sollte. In der DDR-Zeit gab es dort einen Militärflugplatz. Dieser Ort war "militärisches Sperrgebiet", für normale Sterbliche unerreichbar.
Nach der Wende sorgte Peenemünde immer einmal für Schlagzeilen. Der Ort Peenemünde, fast ausschließlich bewohnt von Angehörigen der Nationalen Volksarmee, hatte seine damalige Lebensgrundlage verloren und musste sich neu erfinden. Pragmatisch sagte man sich: Aus dem, was wir hier haben, wollen wir etwas machen. Und sei es, uns und unsere Geschichte der Öffentlichkeit zum Anschauen zur Verfügung zu stellen und eine Art Museumsdorf zu gründen. Ganz sicher waren ehemalige Offiziere nicht diejenigen, die aus dem Stegreif Museumsmacher sein konnten. Waren sie doch über Jahrzehnte zwar in ihren Waffengattungen ausgebildet worden, aber nicht in der Kunst, publikumswirksame Schautafeln zu erstellen oder einen informativen, sinnvollen Rundweg anzulegen. Ein Offizier, den ich kenne, mutierte ganz in der Nähe zum Leiter eines "Bettenmuseums". Es gibt ein Lern-Museum für Kinder, ein Spielzeugmuseum, ein U-Boot-Museum. Das wichtigste Museum aber ist Peenemünde selbst. Aus allem, was zu erforschen und an Wissenswertem zusammenzutragen war, hatte man ein historisch-technisches Museum geschaffen.
Am schwierigsten stelle ich es mir für Offiziere vor zu unterscheiden: Was war bis 1945, was bis 1990 und was ist jetzt politisch korrekt? Was dürfen wir ausstellen, was nicht? Die sichere Ideologie nach der man sich bis dahin richten konnte, war passé. Sicher war es der größte Schock für einen Armeeangehörigen, dass nun niemand mehr da war, der den politisch richtigen Weg vorgab. So schlug die Begeisterung für die V2-Wunderwaffe manchmal zu hohe Wogen, und dann traten Menschen auf den Plan, die sagten, dass es so toll mit der V2 auch nicht gewesen sei, dass die Raketen vielen Menschen in England den Tod gebracht haben und dass der Bau der gewaltigen Anlagen unzählige Sklavenarbeiter Gesundheit und Leben kostete. Aus diesem Hin und Her der Meinungen war das Ergebnis entstanden, das ich nun besichtigen konnte.
Meine größte Verwunderung bestand darin, dass es fast keine Spuren mehr von der glanzvollen Raketenproduktion gab. Ich hatte mir eine ganze Produktionskette der V2 vorgestellt. Lediglich das monströse Kraftwerk gab es noch, das die Energie für den Raketenbetrieb produziert hatte und als Energielieferant auch für die DDR unverzichtbar blieb. Allerdings: Eine gut instand gesetzte Rakete empfing die Museumsbesucher. Man kann hoffen, dass sie nicht scharf war, und das ist kein Scherz. Denn in meinem Heimatort hatte die DDR-Armee eine scharfe Rakete als Denkmal hinterlassen, die den Männern, die das Denkmal nach der Wende mit Schweißbrennern abmontieren wollten, um die Ohren flog (zum Glück an den Ohren vorbei). Das Kraftwerk in Peenemünde samt der überdimensionierten Förderanlage für Steinkohle war eindrucksvoll genug. Ich fand keine Verherrlichung der V2. Man versuchte die Aufmerksamkeit ein wenig vom unheilbringenden Wirken abzulenken, zugunsten der segensreichen Pionierarbeit bei der Etablierung der Weltraumfahrt. Allerdings zeugten manche Tafeln von ideologischer Unsicherheit. So gab es eine Zeittafel erst ab 1945. Auf drei Strängen wurden markante Punkte parallel zusammengestellt: Die Geschichte DDR/Bundesrepublik, die Geschichte Peenemündes und die Geschichte der Aufarbeitung des Holocaust. Letzteres war etwas befremdlich, vor allem da man jegliche Kriegsverbrecherprozesse wohl übersehen hatte, dafür aber den Zeitpunkt der ersten Wagneraufführung in Israel als markanten geschichtlichen Punkt angab.
So konnte ich diesen Nachmittag in Peenemünde als lehrreich erfahren, da sich hinter allem was man sah und las eine interessante Mischung aus mehreren und ereignisschweren Epochen der Zeitgeschichte verbarg. Und eine seltsame Stimmung schwebt über diesem Areal, das die Natur meistens längst zurückerobert hat.
anne.c - 20. Mai, 16:45
Eine Weile hielt ich mich in einer ehrwürdigen pommerschen Universitätsstadt auf. Da ich viel Zeit hatte, konnte ich mir manche Sehenswürdigkeit anschauen. Beim Erkunden von unbekannten Orten, laufe ich zwar nicht der deutschen Vergangenheit hinterher, aber alles, was ich entdecke, sehe ich mir gründlich an. So fand ich in einer stillen Ecke des Domes eine Fotoausstellung mit dem Titel "Der Gelbe Stern" über das Schicksal der Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Ausgestellt von der Friedensbibliothek Berlin. Gute, aussagekräftige Fotos mit wenigen einprägsamen Texten. Ein Satz von Primo Levi beeindruckte mich besonders.
"Ich glaube, in dem Schrecken des dritten Reiches ein einzigartiges exemplarisches symbolisches Geschehen zu erkennen, dessen Bedeutung allerdings noch nicht erhellt wurde: Die Vorankündigung einer noch größeren Katastrophe, die über der ganzen Menschheit schwebt und nur dann abgewendet werden kann, wenn wir alle es wirklich fertig bringen, Vergangenes zu begreifen, Drohendes zu bannen. "
Ich dachte über den Text nach, wunderte mich aber gleichzeitig, dass so etwas in einer evangelischen Kirche zu lesen ist, in der man sich sonst Gedanken darüber macht, wann und wie lautstark Günter Grass schon einmal in Israel ausgepfiffen wurde (wie im neusten brandenburgischen Blättchen zu lesen war). Wahrscheinlich würde man nach der in diesem Metier vorherrschenden Logik des Verdrehens von Ursache und Wirkung auf eine diesbezügliche Frage die Antwort bekommen, dass Grass ja gerade dieses Menetekel an die Wand geschrieben hat.
Im Gästebuch gab es erst zwei Eintragungen. Die erste war:
Diese Ausstellung sollte sich der ehemalige SS-Mann Grass ansehen.
Die zweite Eintragung war:
Grass meinte es umgekehrt: Niemand soll mehr Unrecht tun!
Ich fügte der Diskussion noch einen dritten Beitrag hinzu:
Was mag mit "umgekehrt" gemeint sein? Sollte Günter Grass sich die Ausstellung etwa nicht ansehen? Das würde bedeuten, dass niemand sich die Ausstellung ansehen müsste.
(Was vielleicht etwas sybillinisch klingt).
anne.c - 12. Mai, 16:36
Denkt noch jemand an das Gedicht von Günther Grass "Was noch zu sagen wäre?" Wenn man es anspräche, würde jeder wohl sagen: "Das ist doch Schnee von gestern, kalter Kaffee, darüber ist längst ´Grass´ gewachsen. Wir sind inzwischen bei neuem Diskussionsstoff!" So schnell geht man heutzutage über die brisantesten Themen hinweg. Jedes Thema ist nur interessant, so lange es ganz aktuell ist.
Was hat das Gedicht bewirkt, das viel diskutierte? Immerhin hat es Menschen zu weiteren Gedichten inspiriert, eine Vielfalt von Replikgedichten ist entstanden. Das anrührendste heißt: "Was geantwortet werden muss" von Claude Salama. Hält man beide Gedichte nebeneinander, erkennt man, was echt und was manieriert ist. Und man erkennt, welche Botschaft ein Jude und welche Botschaft ein ehemaliger SS-Mann hat.
Das Gedicht von Günter Gras hatte überzeugte Verteidiger. Aber haben sich diese Verteidiger von Grass und seinem Gedicht etwa vor die israelische Botschaft gestellt, sich von ihrem Schweigen befreit und Israel lautstark zum Verzicht auf Gewalt aufgefordert? Die Ostermärsche fielen doch in die Zeit, als das Gedicht aktuell war. Und es waren nicht mehr, eher weniger Teilnehmer dabei als sonst. Auch Günter Grass selbst machte keine Anstalten, vielleicht eine Demonstration gegen Israel anzuführen. Man kann überlegen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass so wenig unmittelbare Wirkung von einem "aufrüttelnden" Gedicht ausgeht. Pogromartige Stimmung hat es nicht hervorgerufen. Pogromartige Tumulte gegen die israelische Regierung, etwa gegen Botschaftsangehörige, könnte ich mir zwar im linken und im muslimischen Spektrum vorstellen, wenig aber im Milieu der Günter Grass Leser.
Gedichte wie das des Günter Grass haben eine ganz andere Aufgabe, als sie vorgeben. Sie sollen anhaltend im Verborgenen wirken. Es ist kein Zufall, dass Debatten jener Art zyklisch sind. Man hat manchmal den Eindruck, dass diejenigen, die jene großen Debatten anstoßen, sich untereinander absprechen, nach dem Motto: "Jetzt bist du dran!" Was all diesen Debatten und Kampagnen gemein ist: Sie sollen Grenzen des Denkens und Handelns verschieben und sie sollen Tatsachen verdrehen und eine verfälschte Wirklichkeit schaffen. In dieser verfälschten Wirklichkeit soll ein konkretes Handeln möglich sein, das sich nicht mehr nach den bürgerlichen Gesetzen richtet, sondern das sich eigene Gesetze schafft. (Man nannte es zu einer gewissen Zeit: ´den gerechten Volkszorn hervorrufen´).
anne.c - 6. Mai, 12:30
Im Fernsehen erlebte ich zufällig zwei Diskussionen hintereinander. Einmal gab es eine Bürgerdiskussion in einer hessischen Kleinstadt, in der - anscheinend mit fragwürdigem Hintergrund - eine Moschee gebaut werden sollte. Moscheengegner und -befürworter hielten flammende Statements. Auf einmal stand ein zittriger, aber sonst rüstiger Greis vor dem Mikrofon und hielt eine stammelnde Rede, aus der man, obwohl sie unscharf formuliert war, so manches heraushören konnte: Er sei über 80 Jahre alt und habe so viel Schlimmes durchgemacht, und er wolle nicht, dass es wieder so weit komme. Es war deutlich, dass er damit meinte, es könnte dazu kommen, dass es wieder zu viele von einer bestimmten Sorte Menschen gäbe, und die müsste man dann wieder umbringen. Zur Verdeutlichung dessen, was er undeutlich stammelte, meinte er, dass eine Ausländerin ihm gerade gesagt habe, dass man die Deutschen sowieso aus dem Land gebären werde. Der Greis wurde von der versammelten Mannschaft der Moscheengegner beklatscht, obwohl darunter sicher einige waren, die nicht so dachten wie er und vielleicht ganz andere Gründe gegen die Moschee hatten. Niemand wies ihn zurecht oder distanzierte sich von ihm.
Das war „Stimme des einfachen Volkes“. Dann schaltete ich zu einer Diskussionsrunde, in der auserwählte und illustre Herrschaften waren, ich weiß nicht, worum es ging. Es muss doch aber auch mit Vergangenheit zu tun gehabt haben, denn ein jüdisch wirkender Mann, der wie der Zwillingsbruder von Simon Perez aussah, saß dabei. Dann ein edel wirkender Herr von der Wirtschaft. Ich weiß wirklich nicht mehr, worum es ging, es war wohl mehr ein neutrales Thema, das aber das „Jüdische“ irgendwie berührte. Denn Herr Mannheimer-Perez erzählte, dass er als ehemaliger Dachau-Häftling seit vielen Jahren in Schulen Vorträge halte, und dass die Jugendlichen sehr interessiert seien. Alle fanden das gut.
Dann sagte kurze Zeit später der Herr Wirtschaftsvertreter im larmoyanten Ton, er habe solche Angst, dass die bösen Neonazis den Ruf Deutschlands schädigen. Deutschland habe doch schon so viel Gutes getan, aber gerade habe wieder ein sehr anständiger Mensch zu ihm gesagt: „Ich kann das nicht mehr hören!“ und er habe Sorge, dass das „Zu-Viel-Davon-Reden“ die Jugendlichen zu Neonazis mache. Alle nickten verständnisvoll. Ich fand es nicht logisch, dass man Herrn Mannheimer nicht sofort aus der Runde verbannt hat.
anne.c - 18. Apr, 18:45
Man solle kein Wort mehr über Günter Grass verlieren, jedes Wort sei ihm zu viel der Ehre. So höre ich es manchmal. Trotzdem werden der Worte immer mehr, es ist wohl nicht anders möglich. Dieser Fall hat etwas Exemplarisches, so wie damals die Rede von Martin Walser, und man kann sich der Auseinandersetzung damit nicht entziehen.
Wenn man Grass in letzter Konsequenz bedenkt, kommt die Aussage heraus: Israel habe Schuld, wenn die Welt untergeht. Israel wolle den Iran mit Atomwaffen angreifen, seine Bevölkerung auslöschen und einen Weltenbrand in Gang setzen. "Viele sollen sich vom Schweigen befreien, sich zusammen tun und den Verursacher zum Verzicht auf Gewalt auffordern." Das kommt eigentlich einer Aufforderung zum Pogrom gleich, denn wenn Israel zu einem Gewaltverzicht bereit ist, kann Ahmadinedschad sein angekündigtes Vernichtungswerk verrichten. Ebenso die Hamas, die immerhin den Judenmord in ihrer Charta deklariert.
Das Gedicht von Günter Grass hat etwas Allegorisches in Bezug auf den Antisemitismus. Ob Grass es so gemeint hat, oder ob aus seinem Gedicht ein höherer Wille spricht, der sich Grassens bedient, ist nicht zu ermitteln. Fest steht, dass immer im Abstand von einigen Jahren ein prominenter Mensch aus seiner "Höhle" hervorkriecht und einen gewaltigen Rummel um die Juden, um Israel oder um beides verursacht. Mag derjenige es so oder so gemeint haben, antisemitisch oder nicht antisemitisch, was dabei heraus kommt, ist das Gleiche: Unzählige Menschen, die gemüßigt sind, ihre Meinung kund zu tun. Nie gibt es so viele Kommentare in den online-Foren. Nie sind diese Kommentare so ausufernd, voll innerem Engagement. Aber auch nie so voll von Fehlern, grammatikalischen Unkorrektheiten und inhaltlicher Verwirrtheit. Nie so voll von Häme, gegenseitigem Beschuldigen oder Niedermachen.
Und was ist das Ergebnis derartiger "Debatten"? Nie führen sie zu einer Klärung im gesellschaftlichen Konsens. Es bleibt sowohl im Einzelnen als in der Gesellschaft ein schales, unangenehmes Gefühl zurück. Das wird dann wieder den Juden angelastet. Emotional hat man den Eindruck, sie wären Schuld, dass sich die Gesellschaft nach solcherart Debatten unwohl fühlt. Mir scheint es, dass man die Juden durch diese Debatten beschmutzen will und einen Grund finden, sie weiter zu beschuldigen, egal wofür.
anne.c - 13. Apr, 13:44
diesen Ausspruch konnte man in den 60er, 70er, auch noch in den 80er Jahren nicht selten hören. Es war die Zeit, als viel davon ans Tageslicht kam, wovon die Deutschen behaupteten nichts gewusst zu haben. "Nichts gewusst", das hieß: Wir haben nicht bis ins letzte Detail und im gesamten Ausmaß das gewusst, was in den im Krieg von Deutschen besetzten Gebieten geschah. Und nun hörte man doch einiges, dank verschiedener Enthüllungen von Journalisten, anlässlich von Kriegsverbrecherprozessen oder aus diesem oder jenem Erfahrungsbericht. Die Details, die man dann erfuhr, waren so grausam und unfassbar, auch so grotesk, dass sich manch einer doch zu dem Spruch: "Da schämt man sich ein Deutscher zu sein!" hinreißen ließ.
Eine Deutsche zu sein, habe ich mich nie geschämt. Allerdings war ich auch nie stolz darauf. Instinktiv habe ich begriffen, dass es nicht darum ging, eine emotionale Position Deutschland gegenüber einzunehmen, sondern eine Position zu dem, was damals geschah - nein, aktiv ausgeübt wurde. Da war meine Position seit ich mich erinnern kann: Abgrundtiefe Ablehnung und Verachtung denen gegenüber, die Krieg und Holocaust in Gang gesetzt haben. Wenn ich mich geschämt hätte, dann vielleicht dafür, ein Mensch zu sein, von der gleichen Materie zu sein wie diese Verbrecher samt ihrem Anhang. Vielleicht ist meine indifferente Haltung zum "Deutschsein" auch dadurch zu erklären, dass ich in der DDR aufwuchs, in der alles ein wenig anders war als im "echten Deutschland". Es mag auch eine Rolle spielen, dass ich noch nicht lebte, als all diese schrecklichen Dinge geschahen.
Nun, inzwischen spielt das keine Rolle mehr. Wir haben, wie es unser Bundespräsident verkündet, die Freiheit. Und da habe ich auch die Freiheit, auf mein Deutschsein stolz zu sein oder auch nicht und mich zu schämen oder auch nicht. Und nun stelle ich fest, dass ich mich tatsächlich ab und zu schäme, eine Deutsche zu sein. Wenn ich mir vorstelle, dass ich dem gleichen Volk angehöre, wie dieser unsägliche Günter Grass! Wenn es nur der Günter Grass wäre, aber der ganze antisemitische Dreck, der dank ihm an die Oberfläche gespült wird - das sind meine Landsleute! Da schaudert es mich!
Aber auch durch das dunkelste Gedankengestrüpp können Freudenschimmer dringen. Innerhalb kürzester Zeit ist dieses Gedicht entstanden, das zeigt, wie so ein Pamphlet von Günter Grass Menschen zum Nachdenken und zur Inspiration bringen kann:
Gedicht für Günter (unterstufenlyrisch)
Mit letzter Tinte ächzt der Alte
in ungereimter Poesie:
Dass die sich nicht mehr schlachten lassen,
verzeihe ich den Juden nie.
Der Jude will Atomraketen.
Der Jude will den Weltenkrieg.
Der Jude will uns alle meucheln.
Am Ende droht des Juden Sieg!
Da muss man doch was machen können,
und wenn nicht wir, dann der Iran.
Mahmud, mein alter Mullahkumpel!
I shout it out loud: Yes, you kann!
Der Günter fühlt sich ganz verwegen,
der Greis ist wieder jung, vital.
Die Lösung einst ging zwar daneben,
versuchen wir’s halt noch einmal!
So denkt’s im deutschen Dichterdenker.
Er rülpst und rotzt es aufs Papier.
Sein Wahn kennt keine Einsamkeit.
In Deutschland gilt: Vom Ich zum Wir.
Boris Yellnikoff
(der für dieses Gedicht den Nobelpreis verlangt)
Den Nobelpreis sollte er auf der Stelle bekommen. Das Gedicht ist so schön, dass ich einfach zu seiner Verbreitung helfen möchte (sogar nach Argentinien, wie Eingeweihte es wissen).
anne.c - 5. Apr, 12:26
Mein Onkel liebte es, Anekdoten zu erzählen, und er konnte das anschaulich, lebendig, mit Humor. Besonders gefielen mir die Geschichten, die keine ganz aufregende Pointe hatten, weil sie mehr das eigene Nachdenken in Gang setzten. So erzählte er uns, wie er in seiner Position als Vorsitzender des Deutschen Richterbundes den „Deutschen Richtertag“ eröffnete. Auf diesen Eröffnungsreden verband er seinen Sinn für ausgefeilte Redekunst mit seinem Interesse an Geschichte, und so pflegte er diese Rede gern mit einer Verknüpfung des Tagesdatums und des Tagungsorts mit einem geschichtlichen Ereignis zu beginnen.
So kam es eines Tages in den 70-ger Jahren dazu, dass mein konservativer, aber auch liberal denkender Onkel vor den versammelten deutschen Richtern die Eröffnungsrede zum Deutschen Richtertag mit einem Hinweis auf den Tod des Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzki begann. Wahrscheinlich war es 1978 zu dessen 40. Todestag. Mein Onkel schilderte uns deutlich die Empörung seiner Kollegen, die für Entgleisungen dieser Art überhaupt kein Verständnis hatten, schon der Name von Ossietzki versetzte sie in Wut.
Interessant wurde diese nebensächliche Begebenheit, als die Fortsetzung des Anekdotenerzählens erfolgte: Diesmal wurden Geschichten aus der Kindheit erzählt. Meine Mutter, des Onkels Schwester, erzählte eine harmlose Anekdote aus den 20-ger Jahren, in der ein jüdischer Hausierer eine Rolle spielte, der von den Erwachsenen in Abwesenheit „der Jud´“ genannt wurde. Als meine damals fünfjährige Mutter ihm die Haustür öffnete, begrüßte sie ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Jud´“
Meines Onkels Empörung war wahrscheinlich ebenso groß, wie dazumal die seiner Richterkollegen. Das Wort „Jude“, öffentlich ausgesprochen, war als Provokation empfunden worden, und nicht nur mein Onkel, sondern auch andere ältere Teilnehmer in der Runde sprachen aus, dass sie diese Geschichte als völlig daneben empfunden haben.
Ich war beeindruckt: Das lag doch eigentlich genau auf der gleichen Ebene. Der Onkel hat genau so reagiert wie seine Kollegen, weil eine Begriff, ein Name überhaupt ausgesprochen wurde. Auch die Erbitterung, ja fast Wut über die Nennung von Begriffen und Namen, die keinerlei Schuldzuweisung oder irgendein persönliches Ansprechen einschlossen, hatten fast etwas Identisches.
anne.c - 3. Apr, 17:14