Vor einiger Zeit wurde mehrmals am Vormittag im DLF in den Nachrichten gesendet, dass ein israelischer Dirigent gestorben ist. Ich hatte seinen Namen nie gehört, er gehörte jedenfalls nicht zu den Spitzendirigenten, deren Namen ständig genannt wurden. Hinzugefügt wurde bei jeder Nachricht: Er war der erste, der in Israel eine öffentliche Wagner-Aufführung dirigierte, was scharfe Proteste von Holocaustüberlebenden hervorgerufen hat. In dieser Nachricht, die ich in keinem anderen Sender gehört habe, steckt viel vom DLF: Sie würdigten den ansonsten nicht übermäßig bekannten Dirigenten als den, der sich „wagte“ in Israel Wagner aufzuführen. Da schwingen die „nicht verzeihen wollenden“ Holocaustüberlebenden“ mit, die Israeli, die unserem großen Wagner nicht die gebührende Ehre zollen wollen, „nur wegen dem Holocaust“. Der „Mut“ eines der Ihrigen, der es trotzdem gewagt hat. Und alles in einer Sprache, die scheinbar unangreifbar und neutral ist.
anne.c - 6. Dez, 19:03
Die Kirchen mit ihren Kriegerdenkmälern. Dahinter steht sozusagen eine ganze Welt. Ich muss nur den einen Spruch aufschreiben: „Ausgesät, nur ausgesät, wurden alle die, die starben. Wind und Regen vergeht, und es kommt der Tag der Garben“. Nicht etwa für die Gefallenen des ersten – wo ja die Existenz der Kriegerdenkmäler in Kirchen mit dem Stil der Zeit und Denkmalschutz begründet wird -, sondern, neu aufgestellt, für „unsere gefallenen Brüder“ aus dem zweiten WK.
In der überaus schönen Schloss-Dorf-Kirche zu Basedow, in die die Menschen, zum Teil aus der ganzen Welt, wegen ihrer einmaligen Orgel strömen. Schön versteckt, dass man es nur bei besonderem Hinsehen entdecken kann. Gleich nebenan auf dem Friedhof das Grab eines „Landesbischofs“ , der seinem gefallenen Sohn eine Gedenktafel mit der Aufschrift widmete: „Aus Feindes Hand in Gottes Hand“. In Braunschweig in einer Kirche lag sogar ein Stahlhelm unter der Heldengedenktafel. Keiner bemerkt es. Ich denke trotzdem, dass so etwas den Geist prägt.
anne.c - 3. Dez, 16:07
Der Berg der Seligpreisungen bescherte uns ein eigenartiges Erlebnis: Oben am Parkplatz, gleich neben einer Klosteranlage trafen wir auf eine süddeutsche christliche Reisegruppe. Wir schlossen uns an und folgten ihnen auf versteckten Wegen, die die Bergkuppe hinunterführten zu einer Stelle, wo man einen besonders schönen Blick auf den See hat. Dort ist eine Gruppe Olivenbäume malerisch auf dem Hügel verteilt, und unter einem der Bäume gab es, wohl für pastorale Zwecke, einen Sitz mit einem altarähnlichen Stein davor – dort soll Jesus die Bergpredigt gehalten haben.
Wir trafen gerade wieder auf die Gruppe, als ihr Reiseleiter zur Auslegung der Bergpredigt anhob: Die Seligpreisungen überging er „da sie ja allgemein bekannt sind“, und er konzentrierte sich auf die Auslegung der auf die Seligpreisungen folgenden „Gesetzesverschärfungen“. Das führte er in der Weise aus, dass er immer gegeneinander stellte: die hohe moralische Überlegenheit der christlichen Religion gegen die niedere Geisteshaltung des Judentums, das nicht zur Vergebung fähig wäre. Seine Schäfchen hörten ihm schweigend und ergriffen zu. Ich war überrascht: wie in deutschen, christlichen Reisegruppen geredet wird, wenn der israelische Fremdenführer gerade nicht dabei ist, das weiß ich gut, sowohl aus eigenem Erleben als auch aus Berichten christlicher Reisender. Dass man sich allerdings auf den Berg der Seligpreisungen zurückzieht, um ungestört die Regungen des eigenen schlechten Gewissens ins Gegenteil zu ziehen, das war mir neu.
Zwei Tage später saßen wir 50 km südlich im Kibbuz E.H. beim Kaffeetrinken. Wir lernten J.s zweite Frau kennen. Nur um wenige Jahre jünger als er, war sie alt genug, dass sie auf ihrem Arm das Brandmal einer Auschwitz-Nummer hatte. Beide bewirteten uns freundlich und führten uns durch den Kibbuz. Und ich dachte: „Das sollen also die sein, die nicht vergeben wollen, und die da auf dem Berg das sind die moralischen Überlegenen!“ Ich bezeichnete unser Erlebnis da oben als „pastorale Groteske“ und war in meinem Misstrauen gegen „Idyllen“ bestätigt.
anne.c - 27. Nov, 16:42
Im Jugendradio des Senders RBB gab es einen Eklat um einen Moderator namens Ken. Dieser bedient sich in seiner Polit-Sendung antiamerikanischer, antiisraelischer und antijüdischer Stereotype und scheut vor Verschwörungstheorien nicht zurück. Die darauf hinaus laufen, dass die großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte von denen inszeniert wurden, die sie erlitten haben, weil ein Wille dahinter steckt, dem der Tod vieler Menschen gleichgültig ist im Bezug darauf, was dieser Wille für sich erreichen will. Das erlebte ich ja bei der Schriftstellerlesung „meines“ Verschwörungstheoretikers (11.10). Kens Meinng scheint es zu sein z.B., dass der zweite Weltkrieg ein Komplott der amerikanischen Ölindustrie gewesen sei. Wobei immer mitschwingt, dass diese von Juden beherrscht würde. Da Ken so ratternd schnell wie eine Maschinengewehrsalve spricht, kann er alles, was ein aufmerksamer Zuhörer ihm zur Last legen könnte, in eine andere Richtung drehen: so hat er es nicht gesagt und gemeint, alles würde ihm verkehrt ausgelegt. Dass es bei seinen Fans dann doch so ankommt, wie es eigentlich nicht gemeint war, nämlich grotesk antisemitisch, dafür kann der arme Ken natürlich nichts.
So sah das auch sein Sender RBB, und er stellte sich großherzig hinter Ken, als dieser sich zu weit „aus dem Fenster gelehnt hatte“ und einige unflätige und dem Anschein nach antisemitische E-Mails an Hörer gesandt hatte, die sich über seine Sendung beschwerten. RBB hatte wahrscheinlich Sorge, seine Hörerschaft zu verlieren. Den antisemitischen Bodensatz in der Bevölkerung, den man – wie man so schön sagt – auch auffangen muss. Die üblichen Floskeln wie: `Die Gesellschaft muss kontroverse politische Ansichten ertragen´ und Ähnliches waren zu vernehmen. Mag die Gesellschaft sie ertragen wollen oder können, sie soll sie aber nicht finanzieren, und ich möchte sie auch nicht finanzieren!
PS Heute hat sich der Sender RBB von seinem Moderator Ken getrennt.
anne.c - 23. Nov, 11:26
P. hatte einen E-Mail-Wechsel mit Rupert Neudeck. Er hielt Herrn Neudeck vor, was dieser in einer Rundfunkdiskussion gesagt hatte, nämlich, dass das „Gebilde Israel“ nun mal nicht mehr rückgängig zu machen sei. In dieser Aussage steckt eine Menge an schlimmer Gesinnung. Jedenfalls war Herr Neudeck, wie erwartet, beleidigt und gab dieser Beleidigung in einer bissigen Antwort Ausdruck.
Ich habe noch nie einen Politiker, wenn er öffentlich redete, Israel ein Gebilde nennen hören. Jedenfalls, die „deutsche Gesellschaft“ hat einen Kodex, wie sie was, bei welcher Gelegenheit und in welchem Maße es öffentlich ist, redet. Da staunt man immer, welche Ausdrucksweisen Menschen benutzen, wenn ihnen bewusst ist, dass es nicht zu öffentlich ist. Wenn sie dann aber in der Öffentlichkeit stehen, dann reden sie anders: subtiler oder sogar das genaue Gegenteil. Also, bewusst muss es ihnen schon sein, was sie sagen, sonst könnten sie es ja nicht so oder so ausdrücken. Das ist so eine Mischung von Bewusstheit, Unbewusstem, Instinkt und auch Instinktlosigkeit. Hysterie.
anne.c - 20. Nov, 22:41
Im Auto hatte ich für drei Minuten Radio an und hörte die letzten Worte der Radiopredigt. Manchmal denke ich: das muss für mich gemacht sein! Wahrscheinlich ist es aber einfach stereotype Wortspulerei, ein ständig wiederholter Satz: „Gib, dass wir nicht den Mammon, sondern dich als Grund unseres Lebens ansehen!“ Da könnte ich verrückt werden. Wenn sie dann wenigstens sagen würden: „Gib, dass wir nicht das Streben nach Mammon, …..!“
Das ist nur eins: Bornierte Dummheit. Gegen Dummheit kommt man nicht an. In der Betonung des Mammons steckt schon einmal etwas Antijüdisches. Unsere Kirchensteuern, unsere Pensionen sind natürlich kein Mammon, nach Mammon streben die, die wir verachten! Aber auch das Gegenüberstellen von Gott und Geld, als gäbe es keine andere Dinge, die man gegeneinander stellen könnte. Da bekommt der dauerberieselte Kirchenbesucher den Eindruck, als wäre Geld das Gegenteil von Gott. Was ist an Geld so Schlimmes? Jeder geht mit Geld um. Ein Glück, denn ich kann mich noch erinnern, wie kompliziert das Leben war, als man in der DDR dank des wertlosen Geldes oft auf komplizierte Tauschgeschäfte angewiesen war. In der Gegenüberstellung von Gott und Mammon steckt immer die Einteilung der Welt in Gut und Böse, verbunden mit Moralisieren, Verachten.
anne.c - 18. Nov, 10:09
Der Volksbund der Kriegsgräberfürsorge ist in großer Sorge, dass der Volkstrauertag zunehmend kommerziellen Zwecken geopfert werden könnte. Er bittet die Kirchen nachdrücklich, auf die angemessene Einhaltung sowohl des Totensonntags als auch des Volkstrauertages zu achten. Ich überlegte, ob es Kirchengemeinden gibt, die bereits am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent mit den Adventsfeiern beginnen oder wie sonst der Volkstrauertag kirchlicherseits befleckt werden könnte. Mir fiel eine Begebenheit ein, die ich gern erzähle, wenn es um die Einhaltung der Sonntagsruhe geht.
Wir verbrachten einen nassen, grauen Novembertag in Koblenz. Der Tag war so ungemütlich, dass nicht einmal Schiffe für einen Ausflug auf Rhein oder Mosel zur Verfügung standen. Mir fielen die vielen auf Halbmast gehissten Fahnen auf, und wir überlegten, welche hohe Persönlichkeit wohl gestorben wäre. Wir schalteten das Autoradio ein: nichts war geschehen, der heutige Volkstrauertag war die Erklärung für die Fahnen. Da wir keine Möglichkeit für einen Spaziergang sahen, beschlossen wir, in das nahe gelegene Kloster Maria Laach zu fahren. Ich hatte mir ein verwunschenes, abgelegenes Gemäuer darunter vorgestellt und war erstaunt, als wir auf einem Parkplatz landeten, der über und über mit Autos vollgestellt war. Es gab sogar einen Fußgängertunnel (oder war es eine Brücke?), durch den man sicher zum Klosterareal gelangen konnte.
Das erste, was uns erwartete, war ein sehr großes Kaufhaus, in das die Menschen hineinströmten. Die Türen standen weit offen, es war hell erleuchtet. Man hatte kaum die Möglichkeit, an dem Kaufhaus vorbei zu gehen, und wir befanden uns auf einmal auch darin. Es war gefüllt mit Devotionalien verschiedenster Art, mit Büchern, Schriften, Geschenken, kleinen netten Dingen des Alltags die christliche Verzierungen hatten, auch christlichem Kitsch. Die Menschen bewegten sich mit ihren Einkaufskörben und sahen sehr vergnügt aus. Man kann sagen: die Kassen klingelten.
Nachdem wir das Kaufhaus verlassen hatten, war es still um uns geworden. In der Klosterkirche befanden wir uns mit ein paar Vereinzelten, die zu ihrer Überraschung Peter Schreier bei einer Gesangsprobe erleben konnten. So viel zu der Verdammung des Kommerzes am Sonntag und insbesondere an so einem hohen christlichen Feiertag wie dem Volkstrauertag. Es passt auch zum Ausspruch, den ich schon mehrmals in der Kirche vernommen habe: Selbst einhalten kann und muss man die Gebote nicht, man muss sie nur kennen und den anderen weiter sagen. Ein Schlüsselsatz.
anne.c - 9. Nov, 16:43
Ende der 70-ger Jahre, wir waren jung verheiratet, entstand in unserer Kirchengemeinde ein Gesprächskreis. Wir waren nur wenige Teilnehmer, die sich ab und zu zwanglos zu dem einen oder anderen Thema unterhielten. Mein Mann und ich gingen brav dorthin, obwohl wir, damals mit unserem kleinen Kind beschäftigt, nicht so großen Bedarf nach Gesprächen hatten.
Vielleicht der erste dieser Gesprächsabende war (wahrscheinlich) dem 40. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs gewidmet. Ich kann mich nur an ganz wenig davon erinnern, ich glaube, wir waren nur 4 oder 5 Teilnehmer. Als erstes erzählte uns Pastor S. wie es war als er, noch ein Jugendlicher, das erste mal eine Ahnung davon bekommen hatte, wie unbarmherzig die Angehörigen der besiegten Völker von den Deutschen behandelt wurden. Als 15-jähriger war seine HJ-Gruppe dazu abkommandiert worden, in Schlesien, wo er damals zu Hause war, Wallanlagen zu errichten für den Fall, dass der Feind anrücken wird. Die Hauptarbeit dabei leisteten polnische Zwangsarbeiter, die von ihren Aufsehern wie Sklaven behandelt wurden. Das empörte einige der Jugendlichen, die bis dahin von solchen Verhaltensweisen nichts mitbekommen hatten, und manche, zumindest der junge Herr S. begannen anders über den Krieg zu denken.
Herr S. kann lebendig und anschaulich erzählen, und so blieb uns das Bild der jungen HJ-Schüler, die die schlesischen Wälle aufschütteten, bis heute vor Augen. Nicht zuletzt wegen seiner lebendigen Schilderung wurde der Ausdruck „auf den schlesischen Wällen“ zu einer geflügelten Redensart bei uns. Ebenso eindrücklich ist allerdings für uns auch das Ende des Gesprächs: Wir, die wir mit den Tatsachen aufgewachsen sind, wie sie nach 1945 existierten und uns auch nichts anderes vorstellen konnten, trauten unseren Ohren nicht, als Herr S., der wohl etwas „Versöhnliches“ über die Polen sagen wollte, den Satz etwa so anfing: „…….Versöhnung mit den Menschen, die jetzt…….“ , und dann stockte seine Rede und stockte, und es ging nicht weiter, und er konnte das einfach nicht über die Lippen bringen, was er hätte sagen sollen, und dann beendete er den Satz: „……in den Gebieten leben, die heute unter polnischer Verwaltung stehen!“
anne.c - 5. Nov, 16:01