Samstag, 7. Mai 2016

Lügenpresse?

Wenn ich gezwungen wäre, diese Frage mit nur einem Wort zu beantworten, dann wäre die Antwort „Ja“. Wenn die Ansicht darauf etwas komplexer ausfallen sollte, dann würde ich zuerst einmal Lügenpresse etwa so definieren: Die öffentlich rechtlichen Medien, die von Gebühren finanzierten Medien, die relevanten meinungsbildenden Medien: Sie geben mit unsauberen journalistischen Mitteln ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit wieder und versuchen gleichzeitig, die Wirklichkeit nach ihrem Weltbild zu beeinflussen. Ob dabei Ideologie eine Rolle spielt, ob Medien die Hoffnung haben, stärker beachtet zu werden, wenn sie polarisieren und sogar Menschen gegeneinander aufhetzen, ob sie sich in der Rolle der Politikmacher wähnen wollen? Wer weiß das schon? Es wird eine Mischung aus allem sein.

So war der NDR, der immerhin für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ verantwortlich ist, durch Umfragen zu dem Eindruck gekommen, dass die Menschen den Medien immer weniger vertrauen. Das hat den NDR so sehr betrübt, dass er der Frage nachgehen wollte, ob es denn wirklich so wäre. Es entstand der Film: „Der NDR, seine Zuschauer und die Medienkrise“, der am 02.05. um 22 Uhr im NDR ausgestrahlt wurde. Anschließend gab es einen Chat, bei dem den Zuschauern Fragen beantwortet wurden. Dass dabei praktisch diejenigen, denen die Vorwürfe gelten, sich selbst entlasteten, so wie es in guten geschlossenen Gesellschaften der Fall ist, machte die Sache nicht besonders glaubwürdig und bestätigte den Verdacht, dass an dem Vorwurf „Lügenpresse“ doch etwas daran ist. Für den Film hatte man sich einen Redakteur außer Dienst, H. J. Börner, der dem NDR nahe steht, als moralischen Beistand geholt. Ausgerechnet die Tagesthemen-Modeartorin Pinar Atalay, deren unvergessliches Interview mit dem ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidenten Jazenuk nicht gerade zur Vertrauensbildung in politische Sendungen beigetragen hat, führte durch die 45-minütige Recherchesendung. (Dieses Interview habe ich selbst gesehen, und meine Verblüffung darüber, wie Herr Jazenjuk Frau Atalay kumpelhaft erzählen konnte, dass wir uns ja noch gut daran erinnern können, wie die Russen damals (1944/45) erst in die Ukraine, dann in Deutschland einfielen, und über Frau Atalays erstauntes Schweigen dazu hat noch nicht nachgelassen.)

In der NDR-Entlastungssendung besuchten Frau Atalay und Herr Börner verschiedene Medienkonsumenten und versuchten der Frage nachzugehen, warum öffentliche Medien unglaubwürdig sein könnten. Man gab sich zwar redliche Mühe, aber grobe journalistische Fehler im Mediengeschehen konnten in der gesamten Sendung nicht aufgedeckt werden. Auch die befragten NDR-Konsumenten konnten keine rechte Antwort finden. Interessant war das aufgeführte Beispiel: „Köln-Silvester“. Da gab es nicht etwa die Beschwerde, dass die Ereignisse von Köln einige Tage lang verschwiegen und marginalisiert wurden, sondern dass der NDR keine Sendung darüber gemacht ha,t um aufzuzeigen, „dass es nicht überall so wie in Köln war“. Kurzum: Wir haben alles richtig gemacht, könnten unsere Arbeit aber noch verfeinern und noch sorgfältiger gestalten, so lautete das schon vorprogrammierte Ergebnis der Recherche.

Ein viel beachteter Tagesthemen Kommentar von Anja Reschke wurde als Beispiel für die gute Arbeit des NDR angeführt. Dieser Kommentar galt damals „rechten Hasskommentaren gegen Einwanderer im Internet“. Der Kommentar vom 05.08.2015 begann mit der fiktiven Vorstellung: „Was würde wenn...“ und folgerte: „dann würde das und das…“. Es war ein Beitrag voll von drastischen Zitaten absurder Redewendungen, wie „Schmarotzer, Scheiß-Kanaken sollen vergast werden, anzünden, …“, die dem unteren primitiven Spektrum des Sprachgebrauchs entnommen waren und die fiktiv den ebenfalls fiktiven Hasskommentatoren unterstellt wurden. Umgehend forderte Frau Reschke die „sachliche Diskussion“, die ihr aber, ebenfalls fiktiv, nicht gewährt wurde. Dieser Kommentar hätte Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung sein können, was Polarisieren bedeutet, wie man von Problemen ablenkt und wie man die Zuschauer vom hohen Ross aus in Moralisch und Unmoralisch einteilt. In der Diskussion fiel Frau Reschkes Satz: „Das sind grundrassistische Gefühle, das ist in den Leuten drin!“, was für sich schon eine Art Rassismus bedeutet.

Größeren Raum nahm im Film ein, was man den Zuschauern sagen darf und was nicht. Es ging um den so genannten Pressekodex, den ein Zuschauer fälschlicherweise als Ehrenkodex bezeichnete - diese Belehrung hat der Zuschauer mitgenommen. Jedenfalls versicherten alle Journalisten, dass sie außerordentlich behutsam und sensibel mit den Attributen und näheren Bezeichnungen umgehen, die zu schwer wiegenden Pauschalisierungen von Menschengruppen führen könnten. Den Beweis erhielt am Mittwoch, dem 04.05. zwar nicht vom NDR, sondern von der Berliner Zeitung (und anderen online-Zeitungen), die über den Mord mit einer Eisenstange an einer Putzfrau in Wien kultursensibel berichteten und die Nationalität des Kenianers, der die Tat ausführte, verschwieg. Wahrscheinlich hatte die BZ nicht mitbekommen, was der NDR mit seinen Zuschauern im Filmbeitrag erreicht hatte, dass man ihnen nämlich Einiges zumuten kann, weil sie schon über eine gewisse Aufgeklärtheit verfügten.

Was hat der NDR mit der BZ gemeinsam? Sicher, dass sie sich in ihrer Sicht von der feindlichen Umwelt als Lügenpresse diffamiert fühlen. Nun möchte ich trotzdem nicht den NDR für Unterlassungen der BZ anprangern. Aber wie sah es am 04.05 beim NDR aus, was wurde in den Tagesthemen und in der Tageschau, direkte Ableger des NDR, berichtet? Die Spatzen, d. h. viele renommierte Tageszeitungen pfiffen es von allen Dächern, es war an diesem Tag ein Hauptthema in der Berichterstattung: Die Türkei baut Selbstschussanlagen an der Grenze zu Syrien, massive Zäune und eine dichte Anlage von automatisch auf Grtenzverletzer schießenden Wehrtürmen sind im Entstehen. Weder in den Tagesthemen noch in der Tagesschau fiel darüber auch nur ein Wort. Vielleicht hat der NDR in seinem Rechtfertigungsfilm vergessen zu erwähnen, dass auch Unterlassung zum Eindruck von Lüge führen kann. Vielleicht gab es auch Wichtigeres, was wegen eines lästigen Politbeitrages der Tagesthemen-Sendung sonst hätte weichen müssen: Das Gesangstraining von Heavy Metal Sängern in New York war Frau Miosga einen ganzen Sendebeitrag wert.

Der Bau der Grenzsicherungsanlagen zwischen der Türkei und Syrien kann noch weniger vor der Welt verborgen werden als die Vorfälle in der Sylvesternacht in Köln. Die Tagesthemen werden eines Tages gezwungen sein, sich damit zu beschäftigen, sie dem Zuschauer zu offenbaren und eventuell Kommentare dazu abzugeben. Das Verschweigen bzw. Hinauszögern solcher Tatsache, die man gewiss nicht als „nicht relevant für das Verständnis des Weltgeschehens“ bezeichnen kann muss einen Grund haben, und ihn zu ermitteln, wäre ein Ansatzpunkt, wollte sich der NDR vom Verdacht der „Lügenpresse“ frei sprechen.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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