In der Ukraine: Die Synagogenruine von Brody

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In Brody/Galizien traf unsere Reisegruppe auf eine große Ruine, eine Ruine mit dicken Ziegelmauern, Rundbogenfenstern, einem mit Rundbögen verzierten Dachaufsatz. Die Mauern waren zerborsten, ein Dach gab es nicht mehr, der offene Himmel schaute in den imposanten Quader. Im Inneren waren Ansätze von ehemaligen rituellen Gegenständen zu sehen.

Warum beeindrucken Ruinen mehr als schön restaurierte Gebäude, warum denkt man über Menschen mit einer gebrochenen Biografie mehr nach als über Menschen, deren Leben in glatten Bahnen lief, warum regen Zeitepochen, die voller Wirren und schlimmen Ereignissen waren, mehr zum Erinnern, Nachdenken und Überlegen als ruhige, friedliche Zeiten an?
Solche Gedanken hatte ich beim Anblick der Ruine der Synagoge von Brody. Sie muss einst ein mächtiger Bau gewesen sein. Der Mittelpunkt einer großen jüdischen Gemeinde. Jetzt war also nur noch die Ruine da, eine jüdische Gemeinde gab es nicht mehr.

Nach meinen Recherchen wurde die Synagoge 1742 gebaut und eingeweiht. Nach einigen Beschädigungen durch Brand ist sie 1935 noch einmal vollständig renoviert worden. In der Stadt Brody lebten zu Kriegsausbruch etwa 9000 Juden, für die die Synagoge der religiöse Mittelpunkt war. 1941 fielen die Deutschen in die Sowjetunion, also auch in Ostgalizien, das von der Sowjetunion besetzt (eigentlich damals polnisch) war, ein. Wie üblich widmeten sich die Deutschen vor allem der Ausrottung der Juden, wobei sie alles zerstörten, was zu den Juden gehörte. Die 9000 Menschen wurden in ein Getto gepfercht und später getötet. Die Synagoge wurde zerstört, Teile von ihr abgerissen. Nach dem Krieg, als die Sowjetunion in diesem Teil Galiziens herrschte, wurde die Synagoge als Lagerhaus genutzt, und sie zerfiel immer weiter.

Ich sah in der Synagoge nicht nur eine gewaltige Ruine. Ruinen sieht man an vielen Stellen. Gebäude, die nicht mehr benötigt und nicht mehr gepflegt wurden. An denen der Zahn der Zeit nagt: die Wettereinflüsse, das Ausbleiben von Pflege und Reparatur. Sie sind oft losgelöst von der übrigen Umgebung, sie künden von vergangenen Zeiten. Aber sie sind „ein Ding für sich“, das Leben geht ohne sie weiter. Hier aber kündete die Ruine der Synagoge von einer vergangenen und zerstörten Kultur. Von einem in Jahrhunderten gewachsenen Leben mit Ritualen, Religion, einer speziellen Lebensweise und Sprache. Die Ruine zeugt nicht nur von der einst lebendig benutzten Synagoge, sondern sie zeugt von den 9000 ermordeten Menschen, ja von den Millionen ermordeter Juden aus Galizien. Von ihrem einst gewesenen Leben. Liest man Bücher, die in der Zeit vor der Vernichtung spielen, dann erfährt man, wie fest gefügt das Leben der Juden in dieser Gegend war, oft waren es ein Drittel der Einwohner einer Stadt und mehr. Sie lebten nicht abgeschieden für sich, sondern sie waren fest in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert. Sie unterschieden sich durch Religionsausübung, durch Kleidung und durch ihre Sprache von der Umgebung, sprachen aber meistens auch die Sprache der sie umgebenden Menschen. Ihre Lebensweise korrespondierte mit der der Nichtjuden, das Leben war ein festgefügtes Ganzes.

Ihr Leben wurde weitgehend von der Religion bestimmt, und da war die Synagoge das Hauptsymbol, der Stolz der jüdischen Einwohner. Für jeden einzelnen Juden hatte die Synagoge seine spezielle Bedeutung. Jeder, der dort lebte, hatte seinen Platz, so wie für jeden Menschen alles an der Synagoge, das Innere wie das Äußere, so wie alle Details wichtig waren. Der Platz davor, der Weg dorthin, die Details der rituellen Gegenstände waren ebenso wichtig wie die Aufstellung und Reihenfolge der einzelnen Beter, welche im Stadtleben verankert waren und ihre Probleme und Anliegen mit in die Synagoge brachten.

Die Ruine ist nicht nur eine zerstörte und zerfallene Synagoge. Sie steht für eine zerstörte Welt, für eine unwiederbringliche Lebensform. Stellen wir uns die Zeit vor, als die Synagoge Mittelpunkt einer jüdischen Welt war, die mit der Ermordung ihrer Menschen für immer untergegangen ist.

Aber was ist über den Bruchteil der Menschen zu sagen, der nicht der Todesmaschinerie zum Opfer gefallen ist? Die wenigen Übriggebliebenen haben sich über viele Länder der Erde verstreut. Ein großer Teil von ihnen zog in das neu gegründete Israel. Aus der Asche, aus den Ruinen ist neues Leben erwacht. Wer auch immer den Staat Israel als „nicht gehörig“ ansieht, muss sich vor Augen halten, wie das Leben einst zerstört wurde, aber in ganz anderer Form neu erwacht ist.

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Synagoge im israelischen Kibbuz Ein Hanatziv

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