Mittwoch, 14. Oktober 2020

Verschwörungstheoretiker: „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“

In einem Kurort in unserer Gegend wird jährlich eine Buchmesse veranstaltet, bei der regionale Verlage ihre Neuerscheinungen und in der Region ansässige Schriftsteller ihre Werke vorstellen. Es war im Jahr 2011, als ich mir das Programm ansah. Ein junger Schriftsteller, Sohn eines in der DDR populären Verfassers von Politthrillern, hatte die Ereignisse rund um den 11.9.2001 recherchiert und gab sie hier der Öffentlichkeit unter dem Titel "Inside 9/11" bekannt. Ein junger Mann von hier, Sohn unserer Landschaft, in diesem Metier! Die Lesung wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich fuhr früh los, damit ich rechtzeitig einen Sitzplatz bei der Lesung bekomme. Ich hatte dann aber Schwierigkeiten mit dem Parkplatz und traf erst minutengenau in der Messehalle ein. Es war das verlängerte erste Oktoberwochenende. Im Ort wimmelte es von Menschen. Ein Künstlerort. Dementsprechend wirkte das Publikum. Künstler, Kunstinteressierte oder Menschen, die sich gern im künstlerischen Flair bewegen.

Die Messehalle hatte einen kleinen abgetrennten Raum für Lesungen. Ich fragte am Einlass, ob die Veranstaltung hier stattfindet und ob man Eintritt zahlen müsste. Die Dame dort sagte etwas verlegen: „Eigentlich ja….., aber setzen sie sich doch einfach da hin“. In einer Stuhlreihe saßen drei Personen, die unschwer als Angehörige des jungen Schriftstellers zu identifizieren waren. Und nun noch ich. Der Schriftsteller Paul S. kam. Er überlegte, ob er überhaupt anfangen solle. Dann trafen aber noch zwei Ehepaare ein, und so fand die Lesung statt.

Paul S. betonte, dass er keinesfalls eine Verschwörungstheorie zum 11.9. hätte. Er hätte nur Fakten zusammengetragen, und die Schlüsse daraus solle jeder für sich selbst ziehen. Man muss es Paul S. zugestehen, dass er recht gute rhetorische Fähigkeiten hatte. Die Lesung, die hauptsächlich die Lebensläufe von Donald Rumsfeld und Dick Cheney umfasste, und ihr Zusammenwachsen zu einer Art Connection in engster Verbindung mit der amerikanischen Öl- und Rüstungsindustrie war außerordentlich langweilig, und trotzdem las er so gut, dass man nicht einschlief und sogar ein wenig mitdenken konnte. Es gab deutliche Hinweise, dass seit Jahren darauf hingearbeitet wurde, in den USA eine Situation zu schaffen, die es ermöglichte, die Verfassung außer Kraft zu setzen. Ebenso war eine deutliche Linie zu erkennen, Vorwand für einen Krieg zu schaffen, damit die entsprechenden Industrien zum Zuge kommen können. Dass in solch einer Situation billigend der Tod vieler eigener Leute in Kauf genommen würde, hätte Tradition, denn so wäre es damals 1941 in Pearl Harbour auch gewesen, als der amerikanische Präsident schon im Vorherein vom Angriff der Japaner gewusst hätte, aber den Überfall als guten Anlass ansah, seinem „kriegsmüden“ Volk ein wenig auf die Sprünge zu helfen, was wiederum der Rüstungsindustrie auf die Sprünge half. Ob sowohl Pearl Harbour als auch 9/11 von den Amerikanern selbst erdacht und ausgeführt worden war, blieb unklar, denn das Motto der Schriftstellerlesung war: „Man kann es so sehen, man kann es aber auch so sehen, und seine Meinung muss sich jeder selbst bilden.“

Diese zweideutige Aufforderung wurde in der anschließenden Diskussion gern aufgenommen. Diskussion ist übertrieben, denn lediglich ein Mann aus der kleinen Besucherschar stellte sich als redseliger Experte heraus. Es war ein älterer korpulenter Herr, der sich schwer auf seinen Stock stützte, gekleidet in eine Art Rangeruniform mit einem Käppi auf dem Kopf, das unerklärlicherweise einen Anstecker mit einer britischen Flagge hatte. Es war ein Fachgespräch unter Gleichrangigen. Die Fakten flogen einem nur so um die Ohren: Flughöhen, Flugwinkel, Uhrzeiten……. Ein Stichwort gab das andere: „Kennen sie auch Andreas von Bülow?“ „Selbstverständlich. Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Unter Helmut Schmidt“. Das Gespräch war fast emotionslos, dafür aber sehr intensiv. Der korpulente Herr äußerte lediglich Bekümmerung über sich selbst. Denn er hätte so viel überlegt um seine eigenen Vermutungen zu entkräften, aber es wäre einfach nicht anders möglich. „Niemals hätte ein Fluganfänger diesen Winkel fliegen können…..“ und: „ 9.24 Uhr!! Das wäre doch absurd, dass Al-Quaida Interesse am Tod der vielen kleinen Leute gehabt hätte. Die hätten doch das Finanzkapital treffen wollen, und die ganzen Juden kamen doch erst nach 12 Uhr in ihre Büros!“ Paul S. hielt sich bedeckt, und wiederholte seinen Spruch: „Man kann es so sehen, …..“

Wohl wissend, dass es nach einer solchen Veranstaltung – egal wie sie verlaufen würde – nichts Schöneres geben kann als ein entspanntes, und nur privates Gespräch unter angenehmen Menschen, hatte ich mich anschließend bei Freunden zum Kaffeetrinken eingeladen. Der Kaffeetisch war schon gedeckt. Die einzigen Sätze, die dabei über die nachmittägliche Veranstaltung fielen waren: Ich hatte meine Verwunderung darüber geäußert, dass keine Einwohner des Ortes gekommen waren. Ich erhielt die Antwort: „Ach, die S., die sind hier im Ort sehr unbeliebt. Zu denen geht von uns keiner“.

Sonntag, 4. Oktober 2020

Anschwellende und wieder abflauende Diskussionen (Teil 2)

Vorläufige Beruhigung in die Versammlung brachte ein Ehepaar, das, angeregt von diesem Thema, über eine Lesung des Schriftstellers Chaim Noll, er ist der in Israel lebende Sohn des in der DDR sehr bekannten Schriftstellers Dieter Noll, berichtete. Aufmerksam geworden durch eine Zeitungsnotiz, waren sie zu einer Lesung von Chaim Noll gefahren und waren sehr befremdet über das, was sie dort erlebt hatten. Dass der Sohn von Dieter Noll s o aussehen konnte! Wie ein streng gläubiger Jude! Vor meinen geistigen Augen sah ich einen Menschen mit Schläfenlocken und Kaftan und war sehr erstaunt, als ich später im Internet das Foto eines ganz normalen Mannes sah. Das einzig ´Jüdische´ an ihm war eine Kippa. Sein Bart war kurz, nicht länger als Bärte, wie sie auch hier Männer tragen, seine runde Brille war so, wie sie hier in den 70/80-ger Jahren oft getragen wurden. Dieser Habitus hatte das Ehepaar schockiert, und die Lesung ebenfalls, denn er hatte über ein Selbstmordattentat in Israel gelesen. Selbstmordattentate von Palästinensern gab es gerade in jener Zeit in großem Ausmaß mit vielen Toten und Verletzten. Ich fragte, warum Herr Noll nicht über etwas hat lesen sollen, was er selbst erlebt hat. Eine direkte Antwort darauf bekam ich nicht, man hörte heraus, dass sich so eine Lesung nicht gehöre. Das sagten auch andere Teilnehmer. So bekam ich z.B. Antworten wie: „er hätte z.B. über den Frühling in Israel oder die Liebe eines Palästinensers zu einer Israelin“ lesen können. Warum gerade darüber? So etwas sollte man nicht ergründen wollen. Ich wunderte mich nicht über Konfusion und Aufregung, denn ich hatte die Erfahrung gemacht, dass solcherlei Diskussionen um Juden wie aus heiterem Himmel entstehen, sich wie ein plötzliches Gewitter entfalten und etwas verlegen wieder in sich zusammensinken. Beim genauen Hinsehen kann man meistens doch einen Menschen als Ursache entdecken, in diesem Fall diejenige, die das Buch als Diskussionsgrundlage ausgewählt hatte

(In einem anderen Fall, den ich beschrieb, war es ein ehemaliger Verfassungsrichter, den man bei jeder Tagung, die mit Antisemitismus zusammenhängt, antreffen konnte, und der dabei jede Gelegenheit nutzte, ungefragt Vorträge über das „Unrecht der israelischen Besatzung“ zu halten, und der gleichzeitig – öffentlich – sagte, dass nichts ihn so sehr im Leben beschäftigt hat, wie der Gedanke an den Holocaust.)

Der Abend ging friedlich zu Ende. Da es keine These gab, die zu widerlegen oder zuzustimmen war, musste es auch keine Einigung geben, das Gespräch flaute einfach ab. Die folgenden Literaturabende verliefen friedlich, vielleicht weil in guter Absicht kein israelischer Schriftsteller mehr ausgesucht wurde.

Montag, 28. September 2020

Anschwellende und wieder abflauende Diskussionen (Teil 1)

Es mag etwa 15 Jahre her sein, als sich in einer Stadt ein Literaturkreis gründete. Eine neu hinzu gezogene Frau wollte das kulturelle Leben der Stadt etwas bereichern (fast immer sind es die neu Hinzugezogenen, die solcherart Initiativen ergreifen), und warb in der Lokalzeitung um Teilnehmer für so einen Kreis. Ich dachte, es könne nicht schaden, wenn ich erfahre, was die Leute lesen und was sie darüber denken, und so wurde ich zu einer der ersten von anfangs zahlreichen Teilnehmern. Der Kreis bestand über lange Zeit. Die Entwicklung von einem offenen Kreis mit ´gehobenem Anspruch´, bei dem sich die Zahl der Teilnehmer nach und nach sehr reduzierte zu einer gemütlichen, festen und geschlossenen Truppe, wo man sich nach einem ausgiebigen Kaffeetrinken erzählte, was jeder so in letzter Zeit gelesen hat, wäre einer Erzählung Wert. Ich habe es nicht bereut, in jeder Phase dabei gewesen zu sein. Der Kreis hat mir sehr viele Eindrücke beschert.

Ob sich die Diskussion, von der ich erzählen möchte, am ersten oder an einem der folgenden Literaturabenden zutrug, weiß ich nicht mehr. Konzipiert waren die Literaturgespräche so, dass alle Teilnehmer, jeder für sich, ein bestimmtes Buch liest, und man beim nächsten mal darüber gemeinsam diskutieren sollte. Für den ersten oder zweiten Abend war das Buch „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amoz Os vorgeschlagen. Ob es Zufall war, dass der Vorschlag von einer Frau kam, die sich im Verlauf der Jahre als eiserne Palästinenserfreundin, und – man kann schon sagen -, Israelfeindin herausstellte, weiß ich nicht, aber es gibt auch unbewusste Zufälle. Das Buch - es trägt autobiographische Züge -, handelt von der tragischen Kindheit des Protagonisten. Die stand neben dem Selbstmord der Mutter im Zeichen der Gründung des Staates Israel und des unmittelbar darauffolgenden Angriffs arabischer Staaten auf Israel. Etwa die Hälfte der Leser konnte mit dem Buch nicht viel anfangen, da sie zu wenig geschichtliches Wissen über jene Ereignisse hatte. Manche Leute fanden das Buch als Roman spannend und ergreifend. Es kam jedenfalls eine rege Diskussion zustande. Mit Tuvia Tenenbom würde ich sagen: „Ich kann es gar nicht begreifen, dass wir schon wieder bei den Juden sind!“

Es kam, wie es kommen musste: Kein Jude war anwesend, aber der Kreis von gut meinenden und selbstgerechten Deutschen redete sich in Rage. Hier gab es, im Gegensatz zu politisch korrekt organisierten Vorträgen keine haarscharfe Trennung zwischen `Juden` (über die man in getragenem Ton redet, etwas verlegen und: es war schlimm, damals!) und `Israeli´ (über die man sehr genau viel Nachteiliges und Böses weiß). Es geriet alles durcheinander. Ich glaube, die meisten waren sich nicht einmal bewusst, was sie sagten, denn ich hörte neben mir eine Frau sagen: „Ja, ich weiß auch nicht, warum die Juden für uns so ein rotes Tuch sind, wie sie da mit ihren Schiffen in´s Land eingefallen sind!“ Es gab kein gegenseitiges Antworten oder Argumentieren, es war mehr eine allgemeine Aufregung.
(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 20. September 2020

Eine interessante Episode

erlebte ich nach meiner Ukrainereise, die ich 2019 beschrieb. Auf solchen Studienreisen ist es üblich, dass man sich im Voraus für die Reise auf das „Du“ einigt, und dass man unverbindlich und kameradschaftlich miteinander umgeht. Die Kontakte halten nach der Reise in der Regel nicht lange, da neue Reisen und Reisebekanntschaften stattfinden. Doch oft tauscht man untereinander noch Fotos und Erinnerungen aus.

So bekam ich ein halbes Jahr nach meiner Reise von einem Mitreisenden ein paar Fotos, auf denen ich zu sehen war, zugeschickt. Als Dank schickte ich ihm meinen 18-seitigen Ukrainebericht, und etwas übermütig schrieb ich dazu: „In Gedanken habe ich dich damals ´den Landser` genannt. Du bist zwar zu jung, um als junger Mann in der Ukraine gewesen zu sein, aber ich hatte so das Gefühl, du könnest auf den Spuren Deines Vaters gewandelt sein“. Darauf bekam ich eine E-Mail mit nur einem einzigen Satz zurück:

In Deinem Reisebericht ist ein Foto zu sehen, wo ich in der Synagoge sitze ("Roman Trachtenherz erklärt das jüdische Gemeindeleben"). Wenn es geht, so schicke mir das Foto gelegentlich per Mail.



Das hat vielleicht nicht viel zu bedeuten, vielleicht aber doch, und interessant ist die Korrespondenz allemal. Bekommen hat er das Foto selbstverständlich und dazu auch alle anderen Fotos, auf denen er zu sehen war.

Montag, 14. September 2020

Was haben SS-Runen und der Leidensweg Christi gemeinsam? (Teil 2)

Die Auflösung der Frage in der Überschrift ist einfach: sowohl SS-Runen als auch eine eindrucksvolle Folge von Fresken, die Jesu Leidensweg darstellen, sind friedlich im Raum der Peterskirche Lindau unter einem Dach vereint. Je nach Betrachtung könnte man sie als Einheit oder als Verbindung von Gegensätzen empfinden. Worin die Tätigkeit von SS-Männern bestand, kann man in der Literatur über Judenvernichtung, über Mord und Barbarei in besetzten Ländern erfahren, sie muss also nicht näher beschrieben werden.

Ich gehe davon aus, dass diese Zusammenstellung von Bildern und Symbolen nicht vielen Menschen auffällt, meine Begleiterinnen waren davon jedenfalls nicht berührt (nur die Bilder Jesu leidvoller Passion berührten sie). Trotzdem denke ich, dass die Selbstverständlichkeit einer solchen Zusammenstellung unbewusst in den Geist der Menschen eingeht. Schon dass es „normal“ wäre, die älteste und wie man sagt, die schönste der Lindauer Kirchen als Kriegergedenkkirche herzurichten, und solch eine Gedenkstätte in engen Zusammenhang mit der Passionsgeschichte zu stellen, spricht für sich. Über den riesengroßen ruhenden Soldaten stolpert man ja beim Hineingehen fast, bevor man ins Halbdunkel zu Holbeins Fresken gelangt.

Da man in einer Kirche, laut dieser und jener medialen Aussage „zur Besinnung kommen“ oder „Spiritualität pflegen“ soll, machte ich den Versuch, mich diesem Thema spirituell zu nähern: Bedeutet Passion in Verbindung mit Kriegergedenken: Jesus ist auch für jene Soldaten und SS-Männer am Kreuz gestorben? Die Anmerkung der Stadt Lindau, dass wir nicht zu richten haben, bedeutet möglicherweise: Vielleicht haben die Genannten ihre Taten bereut – man kann ja nie wissen?

Selbst den getöteten Lindauer Juden wurde das Gedenken zugestanden (allerdings erst ab 1981), was ja auch seine gedanklichen Tücken hat. Denn wie die Kirche seit ca. 2000 Jahren verkündigte, waren es Juden, die Jesus gekreuzigt haben. Selbst wenn das nicht der Wahrheit entspricht, es wurde aber immer kolportiert, unzählige Juden sind im Lauf der Geschichte dafür verbrannt und anderswie getötet und vertrieben worden. (Ich selbst war dabei, als eine junge mecklenburgische Pastorin bei einer Tagung der Jüdin Ruth Lapide offen ins Gesicht sagte: Die Juden haben Jesus gekreuzigt!) Gedenktafeln für jüdische Lindauer (man bezeichnete sie als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft) neben dem Passionsweg, Heiligenscheine auf den prachtvollen Fresken und Gemälden noch und noch, dazu auf Kriegertafeln der Vermerk von Offiziersrängen, einschließlich SS-Runen, die älteste Kirche von Lindau birgt schon eine aussagekräftige Diversität.

Mir fielen die Märchen und Legenden ein, wo man einem wunderschönen Menschen begegnet und mit ihm eine Strecke gehen soll, und auf einmal entdeckt man, dass unter seinem Mantel ein Pferdefuß hervor zu sehen ist.

Montag, 7. September 2020

Was haben SS-Runen und der Leidensweg Christi gemeinsam? (Teil1)

„Du kuckst immer nur auf so was!“, sagte meine Pastorin-Freundin, als ich in einer Klosterkirche folgenden Spruch las: „1939 -1945 „Ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ und darüber mein Entsetzen ausdrückte. Dabei schaue ich gar nicht nach „so was“, es springt mich aber an, weil es in Kirchen allgegenwärtig ist. Und in diese soll man ja als Besucher immer mal hineingehen „zur Besinnung“, zur „Spiritualität“ und zum „zu sich Kommen“. Seine eigenen Gedanken soll man wahrscheinlich beim „Besinnen“ ausschalten.

So führte mich eine Reise in die malerische Inselstadt Lindau am Bodensee. Ein Kleinod, ein Schmuckstück! Ganz zum Schluss sagte unsere Stadtbegleiterin: „Kommt, ich zeige euch noch schnell die Peterskirche, die älteste Kirche der Stadt. In ihr sind berührende Fresken, Christi Kreuzweg, die dem älteren Holbein zugeschrieben werden“.

Als wir in die Kirche traten, die in schummeriges Halblicht getaucht war, fiel mein erster Blick auf eine überlebensgroße Soldatenfigur aus Marmor, liegend auf einer Art Bahre und mit einem ebenfalls marmornen Helm auf dem Kopf. Rund um die Figur hingen die Wände voll von hölzernen Tafeln auf denen alle im Krieg gefallenen Lindauer seit dem Krieg 1870/71, fein aus dem Holz herausgearbeitet, aufgelistet waren. Versehen mit ihrem Dienstrang. Nicht wenige SS-Angehörige waren dabei, deren Namen mit ehrwürdigen SS-Runen versehen waren.

Verschämt hatte die Stadt Lindau dazu angemerkt, dass SS-Runen ja eigentlich, ebenfalls wie Hakenkreuze, verboten wären, aber nun sind sie halt mal so von Anfang an angelegt worden, und überhaupt könne man sich als Stadt nicht anmaßen, über Menschen zu richten. Die Stadt Lindau hatte sich sogar 35 Jahre nach Kriegsende dazu durchgerungen, eine zusätzliche Tafel anzubringen, sie trägt die Namen von Einwohnern von Lindau, die „durch Naziherrschaft“ ums Leben kamen, hinter einigen Namen war der Ort ihres Todes, Auschwitz, vermerkt.

Das bemerkte ich schon oft: Vermengung und Vermischung von Opfern und Tätern: sie sind ja alle Menschen gewesen, und das Produkt ist das Gleiche: Erde, Asche. Was sie im Leben getan haben, ob der eine vielleicht den anderen erschlagen hat, spielt keine Rolle. Zwar hätten wir nicht über sie zu richten, wie die Stadt Lindau vermeint, trotzdem sind wir sehr bemüht darum, ihnen einen heiligen Nimbus zu verleihen, indem wir ein für allemal ihre Namen in Kirchen oder anderswo verewigen. Angeblich sollen diese Namen für ewig öffentlich vermerkt sein. Während Menschen, die nicht die Heiligkeit des Krieges erleben durften, nach 20 oder 25 Jahren im Normalfall -verständlicherweise – dem Vergessen überlassen werden.
(Fortsetzung folgt)

Montag, 31. August 2020

Sozialistische Provokationen

In einem tschechischen Buch, das unbekannte Schicksale zu Zeiten des Kommunismus schildert, las ich über einen jungen Mann, der 1978 - anlässlich des 10 Jahrestags der Besetzung der Tschechoslowakei durch die so genannten Bruderstaaten -, in einer mittelgroßen Stadt ein Gottwald Denkmal in die Luft sprengte. Er war Bergmann und hatte sich das Dynamit dazu von der Arbeit geschmuggelt. Der Täter wurde schnell ermittelt, und er kam 9 Jahre ins Gefängnis. (Nur etwa 2 Jahre nach seiner Entlassung wurde das wieder rekonstruierte Denkmal ein für allemal vom Sockel entfernt).

Das Besondere an der Tat dieses Mannes war, dass die Aktion nicht von langer Hand geplant war. Er war zu diesem Entschluss nicht durch Diskussionen mit anderen gelangt. Er war nicht mit Dissidenten bekannt und hatte sich für Politik nicht interessiert. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte bis dahin ein normales, angepasstes Leben geführt. Sein Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang und die Wut darüber, dass niemand sich für den 10. Jahrestag des Einmarsches zu interessieren schien, bewegte ihn zu dieser Tat.

Ich denke, es gab in den sozialistischen Staaten ähnliche Fälle. Junge Leute, die den permanenten Druck, unter dem besonders die Jugend stand, nicht aushielten und sich zu irgendeiner provokanten Geste hinreißen ließen. So erinnere ich mich an eine Begebenheit in unserer Schule. Drei junge Männer, bis dahin politisch nicht auffällig, hatten vorausschauend abgewartet, bis sie das Abiturzeugnis in der Hand hatten. Die Internatszeit wurde noch einige Wochen mit einem Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft fortgeführt. Ich sehe die Jungs noch vor mir: sehr gut gelaunt, mit einer Mistgabel über die Schulter zogen sie in frisch gebügelten FDJ-Hemden los, um den Schweinestall auszumisten. (Wie es weiter ging, weiß ich nicht mehr, ich glaube sie wurden aus dem Internat geworfen, konnten die restlichen zwei Wochen aber bei einem Freund unterkommen).

Samstag, 22. August 2020

Keine Begeisterung für die USA

Beim Aufräumen entdeckte ich uralte Briefwechsel, die hoch interessant sind. Spontan, nicht aufs Studium der Nachwelt spekulierend, mischt sich Familiäres mit dem Zeitgeschehen. Ich zitiere aus einem Brief von 1957, geschrieben von West nach Ost:

„Sputnik I und II beschäftigt die Leute sehr, jeder hofft, dass er das Hündchen, wenn es aus dem Weltraum hernieder schwebt, fangen kann. Jeder gönnt den Amis diesen Dämpfer, gerade auf technischem Gebiet, wo sie doch sonst das Land der unbegrenzten Möglichkeiten waren!“

Aha, hatte ich es mir doch immer gedacht. Nicht Nixon, nicht Reagan, ebenfalls nicht Trump sind die Auslöser von USA-Verachtung. Von dem Augenblick, wo sie Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatten und – wie oft so schön behauptet wird – Deutschland vom Nationalsozialismus befreit haben -, spukt Amerika (USA) in den Köpfen der deutschen Menschen. Es ist eigentlich psychologisch schwer zu begreifen (in Wirklichkeit doch), dass zumindest die Westdeutschen den Russen, die ebenfalls Deutschland vom Nationalsozialismus befreit hatten - aber unter ungleich schlimmeren Umständen für diejenigen, die es erlebten -, den Triumph über die Amerikaner, zumindest in der Raumfahrt, gönnten. Ich denke an die Begebenheit, 30 Jahre später, als ein Enkel jenes Briefschreibers, ebenfalls im Westen mir erzählte, dass sie immer noch „unter Besatzung“ leben.

Vorstellen kann ich mir einige Versionen für die USA-Antipathie. Es kann blanker Neid sein auf die, die mächtiger sind. Mich wundert auch, warum gerade die Dinge, die vielleicht nicht die qualitätvollsten sind, wie Coca Cola, Mc Donald, Filme, die jährliche Verfolgung der Oscarverleihung, die Liebe zu Kreuzfahrten, ja sogar ausgeleierte Redewendungen wie die Benutzung eines sinnfreien „okay“ zu jeder Gelegenheit mit Begeisterung übernommen werden bei all der Amerikaverachtung. Es wird so etwas wie Hassliebe sein.

Eine andere Version ist mir eingefallen: Vielleicht sind die Deutschen doch nicht so begeistert davon, dass ihnen die Demokratie gebracht wurde. Vielleicht sehnen sie sich nach einer Führergestalt, die sie verehren und der sie vertrauen wollen. Da fallen mir einige selbst angehörte Aussprüche ein, die besagten, dass man „jetzt bei Corona Angela Merkels naturwissenschaftlichem Verstand vertrauen kann“. Dass trotz des "naturwissenschaftlichen Verstandes" in jedem Bundesland ein anderer Verstand, d.h. andere Regeln walten, tut nichts zur Sache, aber man wünscht sich eine Lichtgestalt, die über allem schwebt, die alles weiß und kann, auch wenn es das Gegenteil von vorher Gesagtem ist.

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