Es ist keine rührselige Geschichte über Maria und Josef - nein, in dieser Geschichte heißen die Protagonisten Mirjam und Jussuf, ein junges palästinensisches Paar. Auch ihnen wurde ein Kind geboren. Nicht etwa im Stall, sondern im Niemandsland innerhalb der israelischen Sperranlagen soll es zur Welt gekommen sein. So wurde es jedenfalls mit dem Unterton moralischer Entrüstung in der Kirchenzeitung kolportiert, und diese Geschichte ist mit Sicherheit ein miserabler journalistischer Fake. Die Zeitung war auch nicht im Stande, irgendwelche glaubhaften Belege für die Story aufzubieten.
Dass sehr viele palästinensische Babies in israelischen Krankenhäusern behandelt werden, wenn ihr Leben in Gefahr und ein Krankenhaus in den palästinensischen Gebieten oder in Gaza zu einer Behandlung nicht in der Lage ist, darüber hätte die Kirchenzeitung durchaus einmal berichten können. Sogar das Enkelkind von Ismayil Haniya, einem der Führer der palästinensischen Hamas, die sich die Vernichtung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat, wurde im November in einem israelischen Krankenhaus behandelt. Nirgends hier in Deutschland konnte ich darüber lesen - obwohl solche Geschichte durchaus mit der biblischen Botschaft etwas gemeinsam hat.
Nachdem also die Mär von Yussuf und Mirjam im Niemandsland zu lesen war, schrieb ich an die Zeitung und erinnerte sie daran, dass es ja in unserem Land auch 28 Jahre lang Mauer samt Sperranlagen gegeben habe und die Zeitung damals durchaus Gelegenheit gehabt hätte, wahre tragische Geschichten über Eltern und Kinder im Zusammenhang mit den deutsch-deutschen Grenzanlagen zu schreiben, was sie aber wohlweislich unterlassen hatte. Und wenn sie Mauern in anderen Ländern anprangern wollten, so mögen sie bitte eine Schamfrist von 28 Jahren einhalten. Meine Zuschrift wurde abgedruckt, aber nur zur Hälfte. Alles was zum Verständnis meines Leserbriefs nötig war, wurde "aus Platzgründen" weggelassen.
Danach wurde mir noch eine kleine Auseinandersetzung mit dem Chefredakteur beschert, der sofort wusste, wer ich bin, nämlich ein "Philoisraelitist", was die Kehrseite "des Antisemitismusses" (es sind seine Wortschöpfungen) sei - die Juden würden so etwas nicht mögen. Auch hätte ihm noch nie ein Rabbiner antisemitische Tendenzen unterstellt - die ich dem guten Mann allerdings mit keinem Wort angehängt hatte.
So gibt es zum Thema Weihnachten doch immer wieder Geschichten aus dem wahren Leben, die nicht unbedingt in besinnlichen Weihnachtsstunden vorgelesen werden und eben deshalb wirklich weihnachtlich sind.
anne.c - 18. Dez, 21:30
In unserer Nähe gab es kürzlich in Anwesenheit von Loretta Walz eine Vorstellung ihres Films und des gleichnamigen Buchs "Die Frauen von Ravensbrück". Getreu meinem Motto, man soll diesen Dingen nicht hinterher laufen, aber wenn man ihnen begegnet, soll man sich ihnen stellen und alles anschauen und anhören, denn die Menschen, die es damals erleiden mussten, haben es verdient!, sah ich mir den Film an, nahm an der anschließenden Diskussion mit der Filmemacherin Loretta Walz teil und kaufte mir das Buch. Und das Buch hat mich dann eine ganze Weile beschäftigt.
Vor drei Jahren stand ich ganz allein auf dem leeren Lagerplatz von Ravensbrück und empfand es als gut, dass das Hauptgelände weitestgehend leer war. Was dort geschah, ist heute nicht nachvollziehbar, und in so einem Fall finde ich es besser, dass ein leerer Platz den Raum für eigene Gedanken lässt. Ich schrieb damals, am 30. September 2011 einen Blogeintrag über meine Gedanken in dem Lager, und im Zusammenspiel mit diesem Buch ergibt sich ein, wenn auch im negativen Sinn, lebendiges Bild.
Das Buch gibt anhand der Schilderungen einer ganzen Reihe von ehemaligen Insassinnen eine umfassende Vorstellung vom Leben, Leiden und Sterben in diesem Frauenkonzentrationslager. Die Kapitel sind thematisch geordnet, und in jedem Kapitel gibt es einige Hauptakteurinnen, ehemalige Häftlingsfrauen, die zum Thema des Kapitels abwechselnd aus ihrer Erinnerung berichten. Die Autorin gibt dazu behutsam erklärende Anmerkungen. Wie Loretta Walz erzählte, war es ihr sehr wichtig, den Lesern die gesamte Persönlichkeit der Frauen vor Augen zu führen und sie nicht auf die Rolle der Leidenden zu reduzieren. Die Frauen schildern auch, wie sie mit den Folgen und mit den Erinnerungen an diese Zeit weiter gelebt haben und welche Auswirkungen das für ihr Familienleben hatte.
Das gefiel mir besonders an dem Buch: dass durch die Schilderungen bewusst gemacht wird, was für "normale", schöne und lebendige Frauen es waren, aus denen die unbarmherzige deutsche KZ-Maschinerie diese "Elendsgestalten" gemacht hat, die oft in den Filmen über die Lager zu sehen sind und zu welch beeindruckenden Persönlichkeiten sie dann später werden konnten, wenn sie das Glück hatten zu überleben und gesund zu werden. Aber auch das Überleben und die Befreiung sind mit einem hohen Preis bezahlt worden, denn fast alle kamen schwer mit dem "normalen" Leben zurecht, weil das gesamte Leben vom Aufenthalt im KZ überschattet wurde.
Mir fiel dabei ein, welche Ängste der Italiener Primo Levi, der ein Jahr lang in Auschwitz zubringen musste, mehrmals äußerte: er träumte, er sei nach Hause gekommen, möchte erzählen, was in Auschwitz geschah, und niemand wolle ihm zuhören. So stelle ich mir vor, dass viele der Frauen ihre Erlebnisse in Ravensbrück auch jahrzehntelang mit sich trugen, und dass es eine weitere Befreiung für sie gewesen sein muss, auf so viel Interesse und Einfühlungsvermögen gestoßen zu sein, und dass sie die Dinge aus einem größeren Abstand noch einmal berichten konnten. Für den Leser ist das Buch ebenfalls ein Gewinn, ihm wird vor Augen geführt, was ein Mensch ist, was Menschen imstande sind anderen Menschen anzutun, und wie man sich mit der Bürde solch schlimmer Erlebnisse auseinandersetzen kann.
anne.c - 13. Dez, 12:14
Ein kleiner roter Gegenstand, der in dem Buch von Götz Aly erwähnt wird ließ für mich die Zeit um 1968 wieder lebendig werden. Damals war ich Schülerin, lebte in der DDR, hatte aber oft Gelegenheit, mit westdeutschen Jugendlichen zusammen zu kommen, sei es mit meinen zahlreichen Verwandten oder auf Treffen kirchlicher Jugendgruppen. Wenn wir bei solchen Treffen zusammen kamen, wurde ausgiebig diskutiert. Die westdeutschen Jugendlichen, eingehüllt in Wolken von Zigarettenrauch, konnten eloquent und selbstbewusst reden und argumentieren. Darum bewunderte und beneidete ich sie. Im Gegensatz zu mir konnten sie sich alle Informationen beschaffen, sie konnten gebildet und fortschrittlich sein. Im Westen spielte sich in meinen Augen das wahre Leben ab, während wir unwissend waren und in der Schule nur mit ödem Marxismus-Quatsch gequält wurden.
Eines Tages, ich weiß gar nicht wie, gelangte besagter "kleiner roter Gegenstand" in meine Hand, nämlich die "Mao-Bibel", die bei den "Fortschrittlichen" und "Revolutionären" hoch im Kurs war. Das hielt ich für einen Witz, konnte es nicht glauben und bis jetzt habe ich es noch nicht verinnerlicht, dass die fortschrittlichen Jugendlichen diesen Müll - anders kann man es nicht nennen - ernst nahmen. Der Inhalt der "Mao-Bibel" bestand aus dümmsten Parolen, kommunistischen Floskeln, dagegen hatte jener "Quatsch", den wir im Marxismus Unterricht lernten, immerhin bestimmte Strukturen und einen logischen Aufbau.
Götz Aly hält ein Resümee auf die so genannte 68-er Zeit und versucht die Ursachen des Denkens dieser bewegten Jugend zu ergründen. Dazu untersucht er als Historiker die Quellen, derer sich die Jugendlichen bedienten und erwähnt mehrmals, dass er selbst zu den 68-ern gehörte und in einige ihrer Aktionen verwickelt war. Man wird den Verdacht nicht los, er möchte damit Kritikern vorbeugen, die ihn der Mitläuferschaft bezichtigen könnten. In Anbetracht der starken Nähe des Verfassers zu den Protagonisten hätten einige aussagekräftige Anekdoten diese Zeit besser illustrieren und das Buch lebendiger machen können. Es ist als wissenschaftliche Arbeit geschrieben mit vielen Fußnoten und kommt dem Leser etwas trocken vor.
Nichtsdestotrotz sind Alys Betrachtungen und Schlussfolgerungen und seine Umgehensweise mit den geschichtlichen Gegebenheiten außerordentlich interessant und gut nachvollziehbar. Sein Fazit ist, dass diejenigen, die als die 68-er in Erscheinung traten, ihr Denken direkt von ihren nationalsozialistischen Vätern, gegen die sie angeblich revoltierten, übernommen haben. Hass auf die USA - (Konkretisiert in der Formel USA-SS-SA) als den ehemaligen Kriegsgegner und Sieger, Hass auf Juden und den jüdischen Staat, der die vom deutschen Morden übrig gebliebenen Juden aufgenommen hat, waren stark ausgeprägt. Die Methoden und Vorgehensweisen der 68-er in ihrem so genannten Kampf waren diktatorisch, rücksichtslos und oft primitiv. So wie es einst die Nazis und so wie es die Autokraten in den kommunistischen Ländern zu tun pflegten. Das ist kein Widerspruch, denn in ihrem Wesen haben Kommunismus und Nationalsozialismus trotz und gerade wegen ihrer Gegnerschaft vieles an Gemeinsamkeiten.
Dass die Studentenrevolte ins Leere lief und nach ihrem Höhepunkt mit den Morden der RAF endete, ist der Widerstandsfähigkeit eines pluralistischen und demokratischen Staats zu verdanken, trotz aller Mängel, die er zu Tage trägt. Immerhin bewirkten die Revolten der 68-er zumindest in einem gewissen Maße (es hatte auch andere Ursachen) eine Lockerung und Liberalisierung der verkrusteten und in vieler Hinsicht erstarrten westdeutschen Gesellschaft. Die Protagonisten von 1968 spalteten sich. Einige wenige gerieten an den Rand der Gesellschaft, die meisten wurden zu Kultur- und Leistungsträgern, bauten diese Gesellschaft weiter auf und nannten ihr Tun „Marsch durch die Institutionen“.
Jedenfalls ist es lohnend, das Buch von Götz Aly ungeachtet seiner gewissen Trockenheit zu lesen, allein schon um die gesellschaftlichen Erscheinungen von heute besser zu verstehen
anne.c - 6. Dez, 17:08
Eines Tages, ich trat gerade aus der Haustür, standen meine Schulfreundin Monika mit ihrem Mann Horst vor mir. Sie waren für ein verlängertes Wochenende in diese Gegend gefahren, und waren nun zu einem Überraschungsbesuch zu mir gekommen. Ich hatte Zeit, und so machten wir uns ein schönes Plauderstündchen bei Kaffee und Kuchen. Kinder, Enkelkinder, unsere gemeinsamen Erinnerungen und die Arbeit boten Gesprächsstoff genug. Monika war vor der Wende Volkspolizistin gewesen, ihr Mann Grenzkontrolleur. Nach der Wende war ihr Leben gehörig durcheinander gewirbelt worden, aber sie hatten es geschafft, wieder Fuß zu fassen. In einfachen Berufen, gemäß dem Motto: "Genossen, in die Produktion!" Unzufrieden mit ihrem Leben waren sie keineswegs und die Freuden und Annehmlichkeiten der Gegenwart wussten sie zu schätzen. Nach einer Stunde brachen die beiden wieder auf. Wir umarmten uns und versprachen, uns wieder zu besuchen.
Gerade an dem Tag bekam ich noch einmal unerwarteten Besuch. Diesmal war es meine alte Tante. Sie erzählte mir, dass sie mittags einen Dokumentarfilm über das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen in Phoenix gesehen habe, der sie so bewegt hatte, weil wieder die Erinnerungen an die schreckliche Zeit, als ihr Sohn im Stasi-Gefängnis war, in ihr erwacht waren. Ich erinnerte mich gut, wie wir mit unserer Tante mehrmals zu Rechtsanwalt Schnur gefahren sind, wie wir durch einen Spalt im Zaun des Bezirksgerichts beobachten konnten, wie unser Cousin in Handfesseln zum Gerichtssaal geführt wurde, nachdem uns die Gerichtsangestellte durch fiese Fehlinformationen davon abgehalten hatten, der Verkündung des Gerichtsurteils beizuwohnen - von der Verhandlung war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Und wie meine Tante immer erschüttert von ihren Gefängnisbesuchen nach Hause zurück kehrte.
So hielten wir noch einmal kurz Rückschau auf diese Zeit, und meine Tante sagte: "Das Furchtbarste für mich waren die kalten und reglosen Gesichter der Gefängnisleute. Ich dachte: "Gut, dass sie nicht weiß, dass ich mich heute noch mit einem Menschen aus diesem ehemaligen Staatsbereich herzlich umarmt habe".
anne.c - 29. Nov, 19:35
Es ist mir aufgefallen, dass der Volkstrauertag in den letzten Jahren in der Kirche immer inniger begangen wird. Angeblich sollen in manchen Kirchen sogar Andachten an den Kriegergedenksteinen stattfinden. Selbstverständlich pflegt man in das Gedenken alle Toten der zwei Weltkriege einzuschließen. Auf den Kriegergedenktafeln steht jedoch für "unsere gefallenen Soldaten" eingraviert, die darüber hinaus manchmal als Helden bezeichnet werden, so dass das "allgemeine Gedenken" nicht unbedingt zu überzeugen vermag. Und wozu sollte man auch der umgebrachten Juden gedenken? Die hatten doch schon ihr Gedenken am 9. November. Mir erscheint der Volkstrauertag eher als ein Äquivalent zum "Pogromgedenken". Wenn wir schon der Juden gedachten, so müssen wir auch "unserer Leute" gedenken, auch um bei den Menschen das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der Tod eines jeden Menschen im Krieg gleich böse ist, egal unter welchen Umständen er starb. Obwohl mir das nicht theologisch korrekt erscheint, aber darauf kommt es nicht an.
Am Sonntag, dem Volkstrauertag, kam ein Gastprediger in die hiesige Kirche und vor dem Besuch spekulierten einige Gemeindeglieder, ob er sich wohl zum Volkstrauertag äußern werde. Ich sagte: "Er ist ein Linker, und die sind eher nicht dafür". Jedoch sind die Linken inzwischen den Rechten immer ähnlicher geworden. Der Volkstrauertag wurde gottesdienstlich begangen, wenn auch auf linke Art. Der Pastor predigte dahingehend, dass der Volkstrauertag fast eine überholte Bedeutung für uns habe, denn wir lebten in so komfortablen Verhältnissen - Gott sei Dank -, dass Krieg für uns kein Thema mehr sei. Uns wolle niemand angreifen, und wir wollen niemanden angreifen. Mit den Kriegen, die leider an vielen Stellen auf der Welt noch stattfinden, haben wir nichts zu tun, und das sei auch gut so. Warum ein Land, das vom Standpunkt der Kriegskunst so unschuldig ist, im beträchtlichen Maße Waffen produziert und in alle Welt exportiert und für die Folgen dieses Tuns nicht einstehen will, blieb unbeantwortet. Aus den Ausführungen ging aber deutlich hervor, dass wer in Kriege verwickelt sei, selbst daran Schuld habe, denn wenn man niemanden auswärts angreife, so gebe es auch keinen auswärtigen Angreifer, so wie es jetzt bei uns der Fall sei.
So konnte sich die versammelte Gemeinde beruhigt zurück lehnen. In die Trauer des Volkes mischte sich heimlich selbstgerechte Freude, und wer weiß - wenn alle Menschen von demselben Friedenswillen beseelt sind, wie der Pastor es in seiner Predigt war, dann wird der Volkstrauertag in absehbarer Zeit womöglich überflüssig werden.
anne.c - 21. Nov, 09:59
Auszug aus der Vorstellung des Buches "Kriegsverbrechen in Sachsen" :
"Es gilt als politisch äußerst unkorrekt, über die Kriegsverbrechen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges an Deutschen begangen wurden, zu sprechen oder gar zu schreiben. Täter sind keine Opfer, lautet das Argument, das man zu hören bekommt und das unwiderlegbar scheint. Aber es waren nicht die Deutschen, sondern die deutschen Nazis, die den Krieg angezettelt und mit unvorstellbarer Grausamkeit geführt haben".
Dazu schrieb ich folgende Leserzuschrift:
In diesem Artikel werden zwei Stereotype weiter gegeben, die nicht Frau L. erfand, weil sie inzwischen zum allgemeinen Gedankengut gehören.
Erstens: Nicht "Deutsche" wären zwischen 1933 und 1945 Täter gewesen, sondern: es waren die Nazis, (wenn auch in diesem Fall deutsche Nazis). Diese ominösen Nazis, schemenhafte Unpersonen, werden säuberlich von der deutschen Volksgemeinschaft separiert, welche wiederum die Funktion hat, Leid ertragen zu haben.
Zweitens: Die Mär, man hat nie deutsches Leid thematisieren dürfen und müsse dieses nun unbedingt nachholen. Es ist wahr, dass in der DDR öffentlich ein falsches Geschichtsbild verbreitet wurde, das bezog sich aber auch auf alle anderen Bereiche des öffentlichen Lebens. Unter dieser starren "Decke" wurde durchaus über Krieg, bzw. Kriegsende sehr lebhaft geredet, damit bin ich aufgewachsen. Wenn man die westdeutschen Kriegsschilderungen aus den 50-ger Jahren und später zu Augen bekommt, dann kann man es gar nicht fassen, was alles an angeblich "nie Thematisiertem" zu Papier gebracht wurde. Auch viele gute Bücher zum "Nicht-Thematisiert-Gedurft-Habenden" gibt es nicht erst seit Neuem, z. B. Peter Bamm "Die unsichtbare Flagge", Hans v. Lehndorff "Ostpreußisches Tagebuch", Siegfried Lenz "Heimatmuseum" Helmut Gollwitzer ".....und führen, wohin du nicht willst".
Fazit: Man muss selbstverständlich im Interesse der historischen Wahrheitsfindung alle Facetten dieser grausamen Zeit erforschen und zur Kenntnis nehmen. Wenn die Wahrheitsfindung aber mit den genannten Stereotypen eingeleitet wird, vermittelt sie den Eindruck des Unwahrhaftigen.
anne.c - 15. Nov, 21:58
Die Gedenktage an die Verfolgung und Vernichtung der Juden sind mir suspekt. Zu oft schleichen sich Misstöne in die Ansprachen, zu oft erlebt man unmittelbare Verquickung von Gedenkrede mit einer aggressiven Haltung gegenüber Israel. Die geistigen Verrenkungen sind dabei bemerkenswert, man könnte sie unter das Motto stellen: "Nur wegen des Holocausts lasse ich mich nicht dazu verbiegen, Unrecht in Israel nicht wahrzunehmen!" Warum die Gedankengänge unmittelbar vom Holocaust direkt zu Israel gelenkt werden, dafür habe ich noch keine Begründung gefunden.
Drei Beispiele nur vom heutigen Tag, dem 8. November.
Im Deutschlandfunk (Mittagssendung vor 13.30 Uhr) wurde eine repräsentative Studie vorgestellt, nach der die Juden Europas zu der Meinung gekommen sind, dass der Antisemitismus in Europa in den letzten Jahren sehr zugenommen habe.
Unmittelbar darauf kam ein Bericht über Siedlungsbau in Israel. Berichte solcher Art bringen meistens, so auch diesmal, nur den für Israel nachteiligen Aspekt der Wahrheit. Nie wird darüber berichtet, wo die "Siedlungen" liegen, dass sie Stadtteile von Jerusalem sind, die auch bei einem Friedensabkommen zum israelischen Gebiet gehören würden. Nie wird darüber berichtet, wie viel Mord und Raketenbeschuss von palästinensischer Seite die Friedensgespräche begleiten, ja dass diese aufflammen, sobald es solche Gespräche gibt. Und nicht ein einziges Mal habe ich eine Bemerkung dazu gehört, dass es selbstverständlich ist, dass israelische Araber in derlei Wohnungen einziehen dürfen, während jeder israelischer Jude bei Betreten des palästinensischen Gebiets seines Lebens nicht sicher sein kann. Und niemand fragt, wieso Millionen von Palästinensern sicher in Israel leben können, während das palästinensische Gebiet judenfrei zu sein hat.
Ein Beispiel beweist vielleicht noch keine Methode, aber schon bei der nächsten Gelegenheit bestätigte die mit der Post gekommene "Kirchenzeitung" meine Vermutung. Was stand dort zu dem morgen zu zelebrierenden 75. Jahrestag der "Reichspogromnacht"? Fast nichts, nur ein paar trockene Bekanntgaben zu Veranstaltungen. Aber ein paar Seiten später traf ich auf das Unvermeidliche, nämlich Nachrichten aus Israel. Man vermeldetem dass junge Israeli kaum die Möglichkeit haben, die Armee zu umgehen, dass die Jugendlichen zu ihrem Staat eine kontroverse Meinung haben, dass sie gern in einem moderneren Israel leben möchten, während Deutschland für sie das "zweitbeste Land der Welt" sei. Des weiteren ein langer Artikel über die Intoleranz Israels den Christen gegenüber. Von Grabschändungen und Übergriffen war die Rede, von "Hasstaten" und vom "Bespuckt werden". Wie es nicht anders sein kann, wurde auch diesmal ein jüdischer Zeuge bemüht, ein jüdischer Theologe.
Während ich mich mit diesen beiden Medienphänomenen befasste, die verschiedenen Inhalts und gleichen Geistes sind, stieß ich im Internet auf ein drittes Beispiel. In Aachen findet am 8. November im Haus der evangelischen Kirche, pünktlich einen Tag vor dem Gedenken an das Pogrom eine Veranstaltung unter dem Titel "Pulverfass Nahost" statt. Dass mit diesem Pulverfass nicht etwa Syrien oder Ägypten gemeint sind, davon zeugen die Referenten, ein palästinensischer Physiker und der "Islamexperte" Michael Lüders. Und nicht zuletzt das Netzwerk Friedenskooperative als Veranstalter, denn wenn man die Reihe seiner Veranstaltungen studiert, erfährt man, dass es in Nahost nur ein Pulverfass gibt, nämlich Israel.
Diese Methode, "Kritik" an Israel und den Holocaust in einen Zusammenhang zu bringen, ist nicht neu. Der Zusammenhang wird so verfremdet, dass der Holocaust wie ein verschwommener, ja sogar überhöhter Vorgang aus der Vergangenheit erscheint, den ominöse, schemenhafte Wesen begingen. Israel dagegen wird als sehr lebendiges, gegenwärtiges und aggressives Gemeinwesen dargestellt, eben ein Pulverfass. Eine Änderung im Vergleich zu noch vor wenigen Jahren liegt darin, dass man früher aus verbliebenem Anstand in den Medien oft einen zeitlichen Abstand zwischen Holocaust und den "schlimmen" Taten Israels ließ. Israel gleichzeitig zum Gedenken an die Pogromnacht zu verteufeln, das war eine Ausnahme, jetzt ist es zur Regel geworden.
Was sagte Günther Rühle zu Ignaz Bubis, als dieser gegen das antisemitische Theaterstück: "Der Müll, die Stadt und der Tod" protestiert hatte? "Das ist das Ende der Schonzeit für die Juden!" Im ähnlichen Geist halten es die Medien. Wozu Rücksicht nehmen? Vom Holocaust können die Gedanken automatisch auf die bösen Taten der Israeli gelenkt werden.
anne.c - 9. Nov, 00:02
Wenn wir abends durch die Fernsehprogramme "zappen", geschieht es oft, dass man auf "Phoenix" oder "ntv" eine Sequenz aus einem Dokumentarfilm, der das "3. Reich" behandelt, zu sehen bekommt. Wir sagen dann spöttisch: "Unsere Helden!" und zappen weiter. Über die Qualität dieser Filme kann ich nichts sagen, denn wir schauen sie uns nicht an, nehmen aber ihre ominösen Titel zur Kenntnis wie: Hitlers Frauen, Hitlers Generäle, Hitlers Hauptquartiere, Hitlers Hunde usw. Bis in den letzten Winkel wird Hitlers Seelenleben durchforscht. Allerdings ist sehr zu bezweifeln, dass vermittels dieser Filme ein Verstehen der Gräueltaten dieser Zeit bewirkt wird. Eher vermute ich, dass Verständnis damit verbreitet werden soll. Ich erinnere mich, wie in der einstigen und ebenfalls ominösen "Sonntagsrede" Martin Walsers das ständige Abspielen von Nazi-Dokumentationen im Fernsehen beklagt wurde. Martin Walser hatte damit durchaus Recht, nur lastete er dieses den Juden an und nicht denen, die die Filme ständig drehen und senden.
Vor kurzem sah ich in einer Tageszeitung auf der letzten Seite, die Vermischtes aus aller Welt bringt, unter der Rubrik "Leute" ein bekanntes Foto von Heinrich Himmler in Uniform und darunter stand die "sensationelle" Nachricht, Himmler habe während des Krieges sehr die Zucht von Angorakaninchen gefördert, um warme Leibwäsche für die SS-Führung herstellen zu lassen. Er habe sich um das Wohlergehen der Kaninchen gesorgt, während in den Lagern die Menschen starben. Mich durchzuckte der Gedanke: Die Autoren wollen es! Sie wollen, dass die Leute Hitler, Himmler usw. in Uniform sehen, dass sie sie aus den nichtigsten Anlässen, und wäre es die Angorakaninchenzucht, immer und immer wieder vor Augen haben, damit diese unsere "Helden" nicht vergessen werden. Damit sie als stattliche Personen im Gedächtnis bleiben, während gleichzeitig aus den Vernichtungslagern Elendsgestalten gezeigt werden, Juden kurz vor dem Erschossenwerden vor ausgehobenen Gräben, Leichenberge. Sie (die betreffenden Medien, bzw. die die sie gestalten) wollen nicht, dass die Menschen verstehen und nachdenken, sondern sie wollen, dass die Menschen verinnerlichen, und zwar unsere "stattlichen Helden in Uniform". Dass sie verinnerlichen, wer stattlich war und wer eine Elendsgestalt.
Dahinter steckt ein gesellschaftlicher Wille, und diejenigen, die uns nicht genug unserer stattlichen "Helden" vor Augen führen können, sind - bewusst oder unbewusst – bestrebt, diesen gesellschaftlichen Willen zu erfüllen.
anne.c - 4. Nov, 22:15