Westreisen - oder: wo warst du am 9.11.1989?

Der 30. Jahrestag des „Mauerfalls“ wurde - so wie andere „Großereignisse“ auch - mit großem Getöse medial vorbereitet, um sofort nach dem 9.11. ins Loch des Vergessens zu fallen. Ich hatte den Eindruck, dass in den öffentlichen Berichten nicht weiter gedacht wurde, als bis zu der Frage: „Wo warst du am 9.11.1989?“ – zu mehr reichte es nicht. Schon das ist ein Grund dafür, mich noch ein wenig mit diesem Thema zu befassen.

Was ich im Nachdenken a la „Ich hätte das nie für möglich gehalten!“ nie gehört oder gelesen habe, ist das Thema „Westreisen“, das ich für einen wesentlichen Rammbock in die Mauer halte. Schon in den 70-ger Jahren durften Angehörige unter bestimmten Bedingungen, etwa anlässlich des herannahenden Todes oder einer Beerdigung eines sehr nahen Angehörigen in des Westen reisen. Da man sich in den ca. 14 Jahren der hermetischen Abriegelung schon einigermaßen an diesen Zustand gewöhnt hatte, waren diese ersten Verwandtenbesuche Sensationen. Um ehrlich zu sein, so sensationell auch wieder nicht, denn Rentner durften schon seit den 60-ger Jahren in den Westen reisen, jede Menge „Konsumgüter“ mitbringen, die die DDR dann nicht zu produzieren brauchte und die Wunderdinge erzählen, die da zu sehen waren.

Mit den Jahren waren die Anlässe und der Verwandtschaftsgrad, der zu Westreisen berechtigte, beträchtlich ausgeweitet worden. Ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und erzählten sich: wer wo war, wer „heimlich“ noch eine zusätzliche Auslandsreise gemacht hat, besonders Auserwählte und Glückliche hatten die Berechtigung erhalten, mit dem Auto zu reisen, Vorgesetzte hatten die wirklichen Experten bei Dienstreisen ausgebootet. Dass die Sehnsucht, dort selbst einmal hinzureisen übermächtig wurde, ist gut nachzuvollziehen. Die Standfestigkeit der Bürger, zu ihrem Staat zu stehen, wurde sehr aufgeweicht.

Diese in manchen Gesellschaftsschichten schon fast routinemäßigen Reisen führten zu ebenso unerschöpflichen Überlegungen, ob der und der überhaupt reiseberechtigt gewesen wäre, warum der … und der nicht… Als ob die Gesetze der DDR in steinerne Gesetzestafeln gemeißelt gewesen wären.

Die Geschichten und Erlebnisse rund um die Westreisen bieten Stoff genug und könnten in die Überlegungen in den Mauerfall durchaus einfließen. Warum davon kaum die Rede war? Der Mythos muss bewahrt werden. Und: es kam wohl niemand darauf, weil alle beschäftigt damit waren zu überlegen: ´Wo bist du am 9. November 1989 gewesen?´
Lo - 11. Dez, 12:56

Als Kind aus dem Westen erlebte ich die "Ostzone" durch mehrmalige Besuche bei Verwandten in Lauta/Lausitz. Für mich waren diese Besuche wie Reisen in eine andere Welt, die mir trist und grau erschien, denn das einzig bunte waren die überalle sichtbaren Parolen in weisser Schrift auf rotem HIntergrund und keine Leuchtreklame.
Zum gegenteiligen WESTBESUCH aus dem Osten zu uns habe ich ein Erlebnis:
anlässlich eines Sterbefalls erhielten unsere Nachbarn Verwandtenbesuch aus dem Osten; eine jüngere Frau durfte zum Begräbnis ihres Großvaters in den Westen ausreisen.
Die Stimmung dieser Frau veränderte sich von anfänglich euphorischer Wiedersehens- und Erzählfreude ins Immer-stiller-werden, bis sie sich entschloss, weit füher als erlaubt wieder nach Hause zu fahren. Sie begründete es damit, dass sie von den vielen turbulenten, bunten und leuchtenden Geschäften, diesem Riesenangebot an allem, was man sich nur wünschen kann einfach nur "erschlagen" wurde, und weil ihr dieses alles erst einmal den "Mangel" daheim vor Augen führte, den sie vor der Reise nicht empfand.
Sie reiste wirklich schon vorzeitig wieder ab.

anne.c - 12. Dez, 20:52

Es ist schön - so wie hier im Kommentar -, wirklich "selbst" Erlebtes zu lesen und den Leser seine jeweils eigenen Schlüsse daraus ziehen zu lassen. Danke.
Iggy - 13. Dez, 15:24

keine direkten Erfahrungen im Ruhrgebiet ...

Mein Ostfreund - Ingenieur natürlich und kein Psychoschwätzer - war nach der "Wende" überaus erstaunt darüber, dass sich Deutschlands Meerlandschaft auch im Westen fortsetzte. Er kannte ja nur die Ostseeinseln und auch den Menschenschlag dort. Nach der Grenzöffnung hat er festgestellt, dass es sehr viele Ähnlichkeiten gibt, bis in die Niederlande hinaus. Na ja, der Protestantismus war "damals" anders ...
Ich hatte keine Verwandten im Osten, und nach der Grenzöffnung war hier im Ruhrgebiet nicht viel los, außer in den Billigläden, wo Leute in roten Westen billige Uhren kauften. Schade, ich hätte mich gerne mit ihnen unterhalten.

Die Erfahrungen, die Lo im Osten gemacht hat, kann ich nur bestätigen, ist aber schon länger her:
http://ingridgrote.de/html/berlin.html
Da war ich noch jung und naiv und links. ;-)

C. Araxe - 13. Dez, 23:57

Insgesamt waren es dann aber doch nicht so viel DDR-Bürger, die vor Maueröffnung in den Westen reisen konnten, aber persönlich sah das u. a. wie nachfolgend beschrieben bei mir aus. Die Schwester meiner Mutter wohnte im Westen – die Mutter von beiden (also meine Oma) im Osten. Meine Mutter durfte aufgrund ihrer Tätigkeit in der kommunalen Verwaltung („Rat der Stadt” genannt und betraut mit so staatswichtigen Aufgaben im Dienstleistungssektor wie Wäschereien oder Müllabfuhr) keinen Kontakt (auch nicht schriftlich) zu ihrer Schwester haben, also hielt meine Oma den Briefkontakt aufrecht. Als sie dazu nicht mehr fähig war, und auch nach ihrem Tod, schrieb ihr dann doch einfach meine Mutter. Nach Rentenantritt hat meine Oma nur einmal die Möglichkeit zu einer Reise in den Westen genutzt. Es war ihr wohl alles zu aufwändig – einerseits der ganze Verwaltungsaufwand, anderseits die Entfernung von über 700 km. So rüstig war sie da auch schon nicht mehr. Angefixt durch die weihnachtlichen Westpaketen (die größtenteils recht banale und alles andere als teure Geschenke enthielten, aber zum Thema Westpakete später noch mehr) hatte ich da schon einige Wünsche bzw. Wunschvorstellungen. Oder zumindest, dass sie irgendetwas mitbringen würde. Sie brachte nichts mit. Zumindest nichts Materielles. Aber für sie war das alles mehr als genug, dass sie ihre Tochter und deren Tochter treffen konnte. Für mich waren das Menschen, die ich überhaupt nicht kannte und ich konnte das als Kind im Kindergartenalter überhaupt nicht nachvollziehen, dass sie es sogar abgelehnt hat, irgendwelche Geschenke anzunehmen. Die Geschenke der Westverwandten waren wie gesagt nie überbordend (nur einmal, weitaus später erhielt ich einen Mono(!)-Kassettenrekorder nebst zwei Kassetten – bald noch mehr wert – zur Jugendweihe und ich weiß das immer noch sehr zu schätzen), aber eine Playmobilfigur (ich hatte Freunde mit Amadas) oder so hätte aus meiner damaligen Sicht als Kleinkind doch drin sein können. Etwas erinnere ich mich aus Erzählungen, dass meine Oma kaum rausgehen wollte bei ihrem Besuch. Sicher war sie auch von allem, wie sich der Westen zeigte, überfordert. Und ganz sicher stand das Familiäre im Vordergrund. Allein ihr Lächeln auf einem gemeinsamen Foto. Etwas später, kurz vor meiner Einschulung, gab es dann einen Besuch (der einzige) von meiner Tante und meiner Cousine. Nun hatte ich einen direkten Bezug. Bei den Briefen an meine Tante wollte ich fortan immer mit herein bezogen werden. Einen Telefonanschluss hatten wir damals (wie der Großteil) nicht – erst ein, zwei Jahre vor der Wende. Direkt einfach anzurufen wäre aber auch nicht möglich gewesen. Lange Jahre später (nach der Wende) haben wir dann sehr oft und lange telefoniert – wohl mehr als es die Tochter meiner Tante gemacht hat (dafür gab es aber sicher auch Gründe). Aber um noch mal auf die Westpakete (jeder aus dem Osten mit Westverwandten kannte diesen Duft, der nach der großen, weiten Welt roch) zurückzukommen. Ab und zu schickte eine ehemalige Schulfreundin meiner Mutter Pakete. Es waren so Sachen wie Mehl und Zucker drin. Meine Mutter war zu höflich anzumerken, dass hierfür keine Notwendigkeit besteht. Erst als zur Wende Altkleidersendungen verschickt wurden, hat sie dann doch mal nicht nur mit Danksagung reagiert. Hm, neben Westbesuchen wäre auf jeden Fall das Thema Westpakete sehr interessant. Und natürlich ebenso Ostpakete. Vielmals durch Unkenntnis gab es da sicher ebenso unpassende Gaben. Und aus Höflichkeit wurden diese ebenso dankend entgegengenommen.
Ach ja, ich hätte mit Erreichen der Volljährigkeit in den Westen reisen können. Kurz vor dem Mauerfall. Zumindest theoretisch (Verwandte zweiten Grades). Das ging dann doch alles einfacher – etwas Warten auf das fast überflüssige Visum – und dann war ich im Westen. Und die Frage, was man am 9. November 1989 und nachfolgend gemacht wurde, finde ich immer noch interessant. Von daher.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Vier ehemalige Diplomaten...
Vier ehemalige Diplomaten haben in der FAZ einen Artikel...
anne.c - 24. Apr, 09:22
Karfreitag
Karfreitag – Kreuzigung Jesu. Da fällt mir eine Begebenheit...
anne.c - 19. Apr, 09:23
Wiederbegegnung
Vor acht Jahren berichtete ich darüber, wie ein Bischof...
anne.c - 10. Apr, 21:30
Diskrepanz oder Kooperation...
Schon zu lange dauert der Krieg zwischen Israel und...
anne.c - 2. Apr, 18:34
Das hätte ich mir nie...
Diesen Ausspruch hört man oft. Manchmal sind es die...
anne.c - 25. Mär, 09:20
Ich fühle mich nicht...
In einem „Spiegel“-Exemplar vom Januar konnte ich ein...
anne.c - 15. Mär, 22:17
No other Land
Zufällig las ich eine Nachricht in einem Nachrichtenportal,...
anne.c - 8. Mär, 20:57
Lager Svatobořice
(Bildunterschrift: Hier begannen sie diejenigen aus...
anne.c - 2. Mär, 16:12
Familie Bibas
Auch mich,so wie unzählige Menschen berühren und erschrecken...
anne.c - 22. Feb, 19:03
„Gerade wir als Deutsche...
Ein oft gehörter Satzanfang, meistens eine Plattitüde,...
anne.c - 16. Feb, 19:15

Links

Suche

 

Status

Online seit 5006 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Apr, 09:26

Disclaimer

Entsprechend dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12.05.1998 gilt für alle Links und Kommentare auf diesem Blog: Ich distanziere mich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller verlinkten Seitenadressen und aller Kommentare, mache mir diese Inhalte nicht zu eigen und übernehme für sie keinerlei Haftung.

Impressum

Anne Cejp
Birkenstr. 13
18374 Zingst