Empörungsrituale II

Ich dachte weiter über den Kommentar nach. Wie der Kommentator sehr darüber empört war, dass die rituell aufgeregten Israeli den Bischöfen unterstellten, „Ghetto“ gesagt zu haben. Dabei hätten sie doch nur „ghettoähnliche Mauer“ gesagt! Ich überlegte, welchen Unterschied es wohl zwischen einer Ghettomauer und einer ghettoähnlichen Mauer geben könnte und stellte mir vor, wie in Journalisten- in Bischofs-, Historiker- und Politikerschulungen unterrichtet wird, was der Unterschied zwischen Ghetto und ghettoähnlich ist und wie, bei wem und in welchem Zusammenhang dieser oder jener Begriff anzuwenden sei. Und dachte auch, dass ich den Begriff Ghetto nur im Zusammenhang mit Juden kenne. Vielleicht hat der Bischof den Ausdruck ghettoartig verwendet, weil er der Meinung war, ein richtiges Ghetto zieme sich nur für Juden.

Ob aber Ghetto oder ghettoartig, was Mauern sind, das weiß der Bischof, weil er selbst dabei ist, eine Mauer zu bauen. An dieser Mauer bauen sie alle. Daran arbeiten Bischöfe, Journalisten, Schriftsteller, Historiker, Politiker mit Erfolg: Um alles, was Juden, was die Vernichtung der Juden, und auch was den Staat der Juden betrifft, wird geistig eine „ghettoähnliche Mauer“ gezogen. Mit Worten und Begriffen wie „Empörungsritual“, „Auschwitz- und Antisemitismuskeule“, „Bombenholocaust“, (ein Ausdruck, den Neonazis sinnigerweise und im gleichen Geist hinzufügten) und weiteren Spitzfindigkeiten, wird an einer Mauer gebaut, die neimand durchbrechen darf ohne sich lächerlich zu machen.

Aber auch mit Begriffen wie Vergangenheitsbewältigung, Wiedergutmachung, Holocaustgedenken. Mit der Empörung und dem Beleidigt-Sein, womit alles quittiert wird, was nur im Geringsten als eine Anspielung auf die Taten der Deutschen in der Vergangenheit gedeutet wird. Mit den Lügen, die behaupten, deutsches Leid habe nie thematisiert werden dürfen. Mit der großen Entrüstung, wenn auf antisemitische Gedanken nur ein Anflug eines Antisemitismusvorwurfes geäußert wird. Mit dem Verlagern des moralischen Empörungspotentials nach Israel und der gleichzeitigen Behauptung, Kritik an Israel und Judenfeindschaft hätten miteinander nichts zu tun. Selbst solch verschwommene Floskeln wie „Man darf die Leiden nicht gegeneinander aufrechnen“ sind Bausteine der Ghettomauer, denn sie wissen wohl, welches Ergebnis wohl zustande käme, wenn man Leiden gegeneinander aufrechnen würde. Darum versuchen sie es zu tabuisieren.

Die Juden in einen ghettoähnlichen Raum zu sperren, in dem sie sich selbst nicht äußern dürfen, und denjenigen, die „draußen“ sind, die Deutungs- und Begriffshoheit zu übertragen, das möchten Bischöfe und Kommentatoren. Sie wollen die Lüge zementieren, sie sich festsetzen lassen, sich in den Gedanken der Menschen ausbreiten lassen. Warum, das weiß ich nicht, das verstehe ich nicht, so wie es nie jemand verstanden hat, der sich mit solchen Fragen beschäftigt hat. Aber Gedanken können Ghetto- und ghettoähnliche Mauern überfliegen, das vergessen sie dabei immer.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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