Die Kapelle

Das Kernstück des großen Krankenhausgebäudes, zugehörig zu einer evangelischen Stiftung, in dem ich eine Zeit zubrachte, war eine Kapelle. Sie lag im ersten Stock genau zwischen zwei Stationen, von denen sie jeweils durch das Treppenhaus getrennt war. Um sich den Weg zu einem der beiden Fahrstühle ein wenig abzukürzen, konnte man direkt durch die Kapelle gehen. Diese Abkürzung benutzte ich gern, weil ich die Stimmung in der altertümlichen Kapelle als angenehm empfand. Später erfuhrt ich, dass dort einmal in der Woche eine Andacht für die Bewohner des zur Stiftung gehörenden Altersheims stattfand. Nicht, dass ich mich nach Andachten sehne, aber dass auf unserer Station nicht der leiseste Hinweis mit einer Einladung zu diesen Andachten auslag, wunderte mich, denn ich hatte immer mal gehört, dass die Kirche auf Menschen zugehen und um sie werben will.

Außer mir habe ich niemals einen Menschen durch die Kapelle gehen sehen. Ich wollte meiner Zimmernachbarin den kürzeren Weg zum Fahrstuhl zeigen, aber sie war außer sich: "Da gehst du durch? Da würde ich niemals durchgehen!" Eine Begründung für ihre Kirchenphobie konnte sie mir nicht geben, sondern es erfasste sie nur ein entsetztes Erschauern: "Mir reicht, dass ich zu Hause nur ein paar Schritte von der Kirche entfernt wohne!" (Später staunte ich nicht schlecht, als ich auf ihrer Familienfotografie entdeckte, dass einer der Söhne ein überdimensioniertes Kreuz um den Hals trug). Wieder andere Mitpatienten erlebte ich vor dem Stationsfernseher. Die Männer sahen sich gern am Vorabend Geschichten aus dem "wahren Leben" an. Wenn dabei ein Pfarrer auftrat, oder wenn zufällig etwas Kirchliches vorkam, hörte ich unwilliges Raunen und sarkastische Bemerkungen meiner Mitpatienten, die mich an die abwehrende Einstellung meiner Nachbarin erinnerte. Nichts ist der DDR so gut gelungen, wie die Leute vom Christentum abzubringen und sie zu echten und überzeugten Atheisten zu machen.

Das passende Gegenstück zur Einstellung meiner Mitpatienten lieferte mir die Leitung des kirchlichen Krankenhauses. Kaum glaube ich, dass es außer mir einen Menschen gab, der die Kapelle als Abkürzungsweg benutzte. Jedenfalls sah ich nie jemanden zur Tür hinein oder zur anderen Tür heraus treten. Und doch hing eines Abends ein großer computergeschriebener Zettel an der Tür mit der Aufschrift: Bitte die Kapelle nicht als Durchgang benutzen! Dafür hatte ich zwar Verständnis aus Sicht eines Gebäudeverwalters. Aber wie steht es mit der "Kirche an sich", deren hohes Anliegen es ist, um Menschen zu werben, sich ihnen zu zeigen, Mitglieder zu gewinnen? Die gleiche Landeskirche, der das Krankenhaus gehört, hat eigens zur Mitgliederwerbung ein universitäres "Institut für Evangelisation" gegründet, mit hoch dotierten Professoren an der Spitze. Die Kirche schreit geradezu nach Steuerzahlern. Sollte sie nicht jede Gelegenheit wahr nehmen, den kirchenfernen Leuten ein wenig von sich zu zeigen und sei es die Atmosphäre einer Kapelle, durch die dieser oder jener beim Durchgehen vielleicht ein wenig auf die Kirche neugierig werden könnte?
Sommern8 - 1. Jun, 19:26

Altarme

War die Stimmungh in der Kapelle nicht gerade deshalb so angenehm, weil sie gewissermaßen im toten Winkel lag, ein Altarm im Strom des Krankenhausbetriebs?

anne.c - 2. Jun, 14:31

Altarme

Die Kapelle liegt im Zentrum, in der Mitte zwischen rechtem und linken Flügel und zwischen oben und unten. Die Stimmung inder Kapelle war ein bisschen wegen der religiösen Ausstrahlung, mehr jedoch wegen ihrer Altertümlichkeit angenehm. Es ist aber erstaunlich, wie die Betreiber es schaffen, dem Raum eine altarmähnliche Position zu verleihen.

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