Mittwoch, 7. Mai 2014

Kriegertafeln in Kirchen Teil III (siehe 25.+29.1. 2014)

Das Phänomen der Kriegstafeln, die vermutlich oft bleibende Zeugnisse der Tätigkeit einstiger Kriegervereine sind, hat einige interessante Aspekte. Über die Tafeln wird öffentlich nicht geredet. Nie habe ich in einer kirchlichen Zeitschrift etwa gelesen: "Am Sonntag findet ein Gottesdienst zur Aufstellung einer Tafel für die Gefallenen des zweiten Weltkriegs in unserer Gemeinde statt". Nichtsdestotrotz entdeckt man an verschiedensten Stellen Deutschlands in Kirchen Tafeln für die Gefallenen des zweiten Weltkriegs. Mögen sie im Westen schon immer dort gehangen haben, auf dem Gebiet der DDR wurden sie garantiert erst nach der Wende angebracht.

Diese Tafeln versuche ich in Einklang mit der öffentlichen Ächtung jeglichen Krieges von Seiten prominenter und führender Vertreter der Kirche zu bringen. Sei es Friedrich Schorlemmer mit dem Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen oder Margot Käßmann mit ihrem "Nichts ist gut in Afghanistan", dem Ratsvorsitzender Schneider vorbehaltlos zustimmte. Es gibt einen Friedensbeauftragten der evangelischen Kirche namens Renke Brahms, der negiert, dass es überhaupt gerechte Kriege gibt, auch den Kampf der Alliierten im 2. Weltkrieg will er nicht dazu zählen, denn: "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein".

Und trotzdem legt man Wert darauf, dass Tafeln mit den Namen von gefallenen Soldaten in Kirchen angebracht sind und bleiben. Es gibt sogar eine beliebte Bibelstelle, die gern auf solchen Tafeln verwendet wird, nämlich den Sendungsauftrag Jesu an seine Jünger vor seinem Tod: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ und damit wird die Kriegskunst zur direkten Nachfolge Jesu erhoben. Bei jedem Pastor, der einer von so friedensbewegten Führern geleiteten Kirche angehört, müsste sich beim ständigen Anblick so einer Tafel alles dagegen sträuben und er müsste ein gewaltiges Problem mit seiner Kirche bekommen.

Die Diskrepanz zwischen Friedensbewegtheit und Kriegsgedenken einerseits und der Tatsache, dass Kriegertafeln kein öffentliches Problem der Kirche zu sein scheinen andererseits, mag mehrere Gründe haben. Es kann ein Ausdruck einer schizophrenen Geisteshaltung oder aber auch einer völlig beliebigen Haltung sein, wonach es doch egal ist, was in unserer Kirche hängt. Wenn man die Tafeln thematisierte, könnte man vielleicht Leute verärgern. Ich vermute aber, dass die friedensbewegte Haltung der Kirche erst am 8. Mai 1945 entstanden ist, und dass alles, was vorher geschah durchaus mit einer Glorifizierung von Menschen verbunden ist, die - gewollt oder ungewollt - ihr "Leben ließen für ihre Freunde".

Mittwoch, 30. April 2014

Kriminalfilme

nennt man in der Regel einfach Krimis. In meiner Sprache aber heißen sie "Leichen". Diese Bezeichnung passt auf die Vorausschauen abendlicher Krimis im Fernsehen. In diesen 30-Sec-Trailern werden immer besonders grausige Szenen gezeigt, tote Menschen in möglichst entstellten Posen. Manchmal gibt es mehrere Krimivorschauen hintereinander: Leichen über Leichen. Aus etwas anderem scheinen Krimis im Wesentlichen nicht zu bestehen. Diese Vorausschauen nehmen mir jedes mal definitiv alle Lust, den Krimi auch noch anzuschauen. Als ich darüber nachdachte, lief kurz vor einer Sendung, die ich sehen wollte, der Schluss eines Krimis von Henning Mankell mit seinem bieder dreinschauenden Kommissar Wallander. So einen Krimi nenne ich ironisch: Das Produkt der kranken Phantasie eines Humanisten aus dem Norden. Es kam, was sein musste: Zwei Männer gingen hin und her, Kinder waren in der Nähe. Schließlich kam eine Kolonne von Militärfahrzeugen. Auf einmal hörte manSchreie, und man sah dann hinter einem gewaltigen Panzer einen in zwei Teile gefahrenen Blutklumpen. Das sollte wohl einer der Männer gewesen sein. Wer solche Bilder unter die Menschen bringt, muss eine reichlich perverse Phantasie haben, auch wenn er sonst, wie man hört, ein Wohltäter Afrikas ist, ein Freund der Palästinenser und ein Verächter Israels.

Warum sehen Menschen solche Filme, warum werden sie aus der hoch moralischen Anstalt ARD gesendet? Man könnte wohl sagen: Das ist ja nur ein Krimi, das hat doch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Immerhin dringen diese Produkte der Phantasie von Henning Mankell oder von wem auch immer in die Köpfe der Menschen ein. Ich frage mich auch, wie solche Bilder mit der ständig zitierten und allgegenwärtig hoch gehobenen "Würde des Menschen" zu vereinbaren sind? Der Film ist zwar Phantasie, die Leiche ist ein Produkt der Phantasie, aber die Figuren in Filmen stehen immer für den "Menschen an sich". Wer den zerfahrenen Blutklumpen sieht, sieht was aus einem Menschen werden könnte. Werden Filme dieser Art häufig gezeigt, weil es den Fernsehmachern gefällt, oder weil sie dem Publikum gefallen oder weil die Fernsehmacher denken, so etwas gefällt dem Publikum?

Ich kann diese Krimis nur mühsam mit der in Fernsehsendungen, insbesondere in Diskussionssendungen gezeigten Moralität vereinbaren. In Talksendungen wird meistens nicht geklatscht, wenn jemand originelle Ansichten oder schlagkräftige Argumente hat, sondern wenn etwas gesagt wird, was sich besonders moralisch anhört. Nun sind Krimischauer zwar nicht identisch mit Zuhörern von Talk-Sendungen. Aber das Fernsehpublikum in seiner Gesamtheit weist schon eine merkwürdige Diskrepanz in seiner Vorliebe für blutrünstige Krimis und sich moralisch gebende Talksendungen auf.

Sonntag, 20. April 2014

Die Matthäuspassion.

Zu ihrer Aufführung sind wir sehr weit ins Land gefahren. Vor Jahrzehnten hatte ich sie selbst schon einmal mitgesungen. So dass es mir jetzt, in den fast drei Stunden der Aufführung, nicht langweilig wurde. Der Dirigent erschien mir nicht als der über allen Dingen stehende Orchesterleiter, sondern als Teil des Geschehens. Fast könnte man sagen: Er war die Matthäuspassion. Aber auch der Chor und die Interpreten waren das, was sie sangen. Die blutrünstige Menge, die zart und tief empfindende Christenheit. Der Evangelist erschien mir wie ein Einpeitscher. Er stand nicht vor dem Chor, wie es meistens üblich ist. Vielleicht war es den räumlichen Gegebenheiten geschuldet, vielleicht war es ein regieartiger Einfall. Er sang aus der Mitte, aus dem Chor und Orchester heraus. Hart und böse kommentierte und erzählte er. Insgesamt war es eine hoch musikalische und zugleich ausdrucksvolle Aufführung.

Gerade weil der Inhalt so überzeugend dargebracht wurde, kann man sie auch als erschreckend bezeichnen. "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" - schrie die Menge, und der Zuhörer weiß, dass es eine jüdische Menge sein soll. Ich habe tatsächlich schon einmal die Aussage gehört, der Holocaust wäre die Erfüllung jener Ansage, jedenfalls könnte man es so interpretieren. Also, die Juden hätten bei der Forderung nach der Kreuzigung Jesu ihre Vernichtung selbst prophezeit und sozusagen billigend in Kauf genommen. Derjenige, der das sagte, war entsetzt über den Holocaust, aber er konnte in dieser "schlüssigen" Feststellung eine Erklärung finden.

Sonntag, 13. April 2014

In der Bibelstunde

Winzige Szene in einer evangelischen Bibelstunde: Die Geschichte, wie Josef ins Ägyptenland verkauft wird und dort in eine hohe Position aufsteigt, wird besprochen. Josef managt die Bekämpfung der Hungersnot indem er jahrelang Getreidevorräte anlegt und in der Notzeit Getreide an die Hungernden verkauft. "Was - er lässt sich das Getreide bezahlen? Ach ja, der Jude hat es so mit dem Geld".

Die Bemerkung wird ignoriert. Vielleicht will man den alten Herrn nicht bloß stellen. Leider fallen Bemerkungen jener Art immer wieder, so wie einzelne Tropfen. Man bemerkt sie nicht, wundert sich nur, dass man auf einmal nass ist.

Man hätte dem alten Herrn sagen können, dass es selbstverständlich ist, dass man mit Reserven, die man mit einem großen Organisationsaufwand angelegt hat, wirtschaftlich umgehen muss, um weiterhin wirtschaften zu können. Es mussten große Lager angelegt werden, das überschüssige Getreide, die Vorratskammern und die Transporte mussten bezahlt werden. Und selbst wenn ein Teil des Getreides billig oder umsonst an Arme verteilt worden wäre, warum hätte man an die Fremden aus dem Nachbarland, seien sie arm oder reich, das kostbare Getreide umsonst ausgeben sollen?

Woher hat ein harmloser Bibelstundenbesucher, der wahrscheinlich nie einen Juden gekannt hat und der damit aufgewachsen ist, dass das Wort Jude tabu war (denn er hat die Nazizeit nur als Kind erlebt, und danach schwieg man einige Jahrzehnte über Juden), eine Vorstellung, wie es mit den Juden und dem Geld steht? Wo kann er die Erfahrung gewonnen haben, wie Juden mit Geld umgehen? Warum wird so eine Bemerkung allgemein toleriert, obwohl die Konsequenzen, die Juden auch und nicht zuletzt infolge der Verurteilung der angeblich schädlichen jüdischen Beziehung zum Geld zu tragen hatten, auch von Seiten der Kirche, hinreichend bekannt sind.

Sonntag, 6. April 2014

Gibt es nicht überall Schizophrenes?

Im Kleinen wie im Großen? Im Kleinen sieht es so aus: Ein Pfarrer predigt in einer Gemeinde in der Passionszeit: Sollte man es nicht einmal ausprobieren, für eine gewisse Zeit auf etwas zu verzichten? Man kann dadurch etwas gewinnen, wovon man vorher gar nichts gewusst hat. Vorsichtshalber gibt er keine Ratschläge, worum es sich beim Verzicht handeln könnte. Ein üppiges Essen kann es jedenfalls nicht sein, denn unmittelbar nach der Predigt zum Verzicht lädt er für nächste Woche zum Festessen für die Gemeindehelfer ein. Bei dieser Art von Beliebigkeit kann ich mir vorstellen, dass man auch einmal auf den Verzicht verzichten könnte, und man gewönne vielleicht auch etwas Neues für sich?

In einem Ort werden jährlich große Fotoveranstaltungen durchgeführt. Schönste Naturfotos in Großformat stehen auf Plätzen, in Galerien, Zelten. Oft verbunden mit dem Hinweis, die Natur doch bitte zu schätzen, zu erhalten, zu pflegen zu bewahren. Auch manchmal mit dem Hinweis, dass dieses oder jene fotografierte Tier durch den Klimawandel vor dem Aussterben bedroht sei. Im gleichen Ort werden Laserlichtschauen veranstaltet zu denen (angeblich oder tatsächlich) zehntausend Menschen z.T. von weit her angefahren kommen, um diesem energiereichen Spektakel zuzuschauen.

In den Nachrichten wird über den Klimawandel berichtet. Wie Temperaturen sich erhöhen, Unwetter zunehmen, der Meeresspiegel steigt. Was man dagegen tun kann, mit welchen Mitteln man den CO-2-Ausstoß reduzieren könnte. Unmittelbar darauf kommt in den Nachrichten: die Piloten streiken, es gibt 4000 Flüge weniger. Besser kann man doch nicht den CO-2-Ausstoß senken. Warum jubelt man nicht, sondern beklagt den Streik? Ich weiß, Nachrichten sind neutral, sie sollen keine Wertungen bringen (wenn man sich doch nur daran halten und nicht mittels lobender oder abwertender Attribute durchaus oft Nachrichten werten würde!). Aber auch kein Kommentator bejubelte die Einsparung des CO-2-Ausstoßes oder wäre sogar auf die Idee gekommen, dass insgesamt viele Flüge nicht nötig wären oder durch die Besteuerung des Kerosins unattraktiver gemacht würden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschheit ernsthaft an den Klimawandel, bzw. an schlimme Auswirkungen des Klimawandels glaubt, so lange Kerosin für Flugzeuge subventioniert wird, so lange es die Formel 1 gibt und so lange es Massengroßveranstaltungen gibt.

Sonntag, 30. März 2014

Wie war es im Krieg so langweilig!

Es stimmt, es muss eine langweilige Zeit für die deutschen Mädchen, die in den böhmischen Gebirgen lebten, gewesen sein. Die jungen Männer waren im Krieg, die zurückgebliebenen Frauen lebten unter alten Männern und sehnten sich nach Abwechslung. Krieg spielte sich überall ab, nur nicht bei ihnen. Es war wirklich langweilig, sie konnten nicht einmal reisen.

So erzählte es uns vor Frau T. Warum habe ich nur die liebe, gutartig Frau T. dazu ausersehen, sie als Beispiel zu nehmen für die einäugige, ganz auf sich bezogene Art eines Teils der Deutschen, wenn sie sich mit der Vergangenheit beschäftigen? Sie ist sehr redselig, und ihre Gedanken sind, je älter sie ist desto mehr, mit den vergangenen Zeiten beschäftigt. Und es ist ihr Schicksal eine vertriebene Sudentendeutsche zu sein. Es ist ein Schicksal, das sich von dem anderer Flüchtlinge des 2. Weltkriegs sehr unterscheidet. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen, die nach einer meist schrecklichen Flucht glücklich waren, aus dem Inferno herausgekommen zu sein, hat es die Sudetendeutschen ganz anders getroffen: sie wurden aus ihrer Idylle hart und plötzlich herausgerissen, in der sie einige Jahre die Herrenmenschen hatten spielen dürfen, danach ängstlich und von ihrer Umgebung nicht geliebt, doch gehofft hatten, mit einem "blauen Auge" davon gekommen zu sein und ihr gemächliches Leben weiter führen zu können. Und nun entpuppten sich ihre Nachbarn genau als die bösartigen Vertreiber, raffgierig und hartherzig, wie sie selbst es vor einigen Jahren gewesen waren, als man Tschechen und deutsche Sozialdemokraten aus den Sudentengebieten vertrieb und die Juden zum Abschlachten in Viehwaggons verfrachtete. Das haben natürlich die Kinder, die jungen Mädchen, nur vom Weiten wahrgenommen, es betraf sie ja auch nicht, aber selbst Frau T. konnte nicht verschweigen, dass sie etwas davon mitbekommen hat.

Ich habe viel Verständnis für Frau T.: Ich habe Verständnis dafür, dass ein Mensch an erster Stelle und vor allen Dingen das wahrnimmt, was er selbst erlebt. Ich habe auch Verständnis dafür, dass ein Mensch in einer Zeit, in der andere Menschen schlimmsten Grausamkeiten ausgesetzt waren, wenn er Glück hatte, ein zufriedenes oder eben auch langweiliges Leben hat führen können. Man könnte wohl gar nicht leben, wenn man alles Schreckliche, was gerade geschieht, im Auge hat. Aber jeder Mensch wird erwachsen und erhält einen Überblick über das, was in seiner Lebenszeit geschehen ist. Ich erwarte von einem "erwachsenen" Menschen, dass er eines Tages weiß, in welchen Zusammenhängen sein Leben gestanden hat, und dass er sich sein Urteil danach bildet.

Zwei Aussprüche von Frau T. kann ich nicht vergessen, sie erscheinen mir sehr aussagekräftig: Das ist der Bericht, wie sie als junges Mädchen nach dem Krieg von den Tschechen ihrer Umgebung interniert war. Man gab ihnen kein Wasser zum Waschen, sondern ihre Bewacher sagten, sie können sich ja in der Elbe waschen. Dass sich darüber die jungen Mädchen empörten, die niemanden etwas Böses getan hatten, kann ich verstehen, jedoch kann ich nie die Schlussfolgerung von Frau T. verstehen: "In diesem Moment begriff ich, dass es nicht nur gute Menschen auf der Welt gibt.!" Und wenn sie es wirklich erst in diesem Moment begriffen hätte, vielleicht war sie ja so naiv und blauäugig und hat die ganze Kriegszeit nichts Böses wahrnehmen können, weil es sie nicht begreifen und nicht wahrnehmen wollte! Aber so etwas 50 Jahre später mit der gleichen Empörung zu erzählen, wo sie wirklich alles hat erfahren können, was nur zu erfahren möglich ist …….!

Bei unserer gemeinsamen Reise nach Israel ergab es sich, dass gerade unsere israelische Reiseleiterin auch eine "vertriebene Sudetendeutsche" war, aber eine der anderen Art: Als jüdisches Kind war es ihr noch 1938 gelungen, mit ihren Eltern das Land zu verlassen. Frau T. war sehr mitfühlend, wie sie es immer ist (wirklich!): "Da haben sie aber Glück gehabt, dass sie rechtzeitig fliehen konnten!" Beide haben das gleiche Land verlassen müssen, für die eine sollte es ein Glück sein, für die andere das Unglück ihres Lebens, das sie nie verwinden kann. Subjektiv ist es wahr: hätte unsere spätere Reiseleiterin nicht das Glück gehabt, mit ihren Eltern geflohen zu sein, hätte man das kleine Mädchen in einer Gaskammer umkommen lassen. Frau T. hatte dagegen das Unglück, aus einem wohlbehüteten Elternhaus in eine ungewisse Zukunft verstoßen worden zu sein. Dieser Ausspruch setzt voraus, dass sie es als verinnerlichte und nicht in Frage zu stellende Tatsache ansieht, dass man die Juden umgebracht hat. Sollte man nicht an erster Stelle das Unrecht wahrnehmen, das die Voraussetzung für das "Glück der Flucht" war?

Freitag, 21. März 2014

Außer der allgemein üblichen Lesart

kann man die Vorgänge auf der Krim auch unter anderen Gesichtpunkten sehen.

Zum Beispiel so: Der machtbewusste Putin muss mit ansehen, wie die EU und in ihrem Gefolge die Nato ihre Fühler, ohne ihn im Geringsten mit einzubeziehen, in seine unmittelbare Nachbarschaft ausstreckt. Die Ukraine und Russland sind durch gemeinsame Geschichte und Kultur sowie die Tatsache, dass die Bevölkerungen hier wie dort vielschichtig "vermischt" sind, eng miteinander verflochten. Ganz abgesehen davon, dass die Existenz der Ukraine von den russischen Erdgaslieferungen und der Kooperation mit der russischen Industrie abhängt, ohne die der sowieso drohende Bankrott unabwendbar wäre. Als Putin erkannte, wie unberechenbar die Politik der Ukraine wurde, und dass sich bereits Stimmen regten, die die Ukraine in der Nato sehen wollen, müssen bei ihm die Alarmglocken geläutet haben.

Im Zusammenhang mit der Krim hört man die absurdesten Vergleiche: Das sei wie der Anschluss des Sudetenlandes 1938 oder die Invasion in die Tschechoslowakei 1968. Das könne der Beginn einer fortschreitenden Invasion in alle Gebiete des ehemaligen Ostblocks sein. Warum können die Meinungsmacher - als die ich insbesondere die Medien, aber auch die Politiker sehe - ihre Aufmerksamkeit nicht dem Fall widmen, wie er tatsächlich eingetreten ist? Und warum verkünden sie vage Vermutungen als wären sie unumstößliche Realität? Warum wurde sehr selten die Krim als Teil der russischen Geschichte und Kultur erwähnt? Ebenso selten wurde die ominöse "Schenkung" der Krim durch Chrustschow - immerhin einem Ukrainer - an das Volk der Ukraine vor 60 Jahren erwähnt. Diese Schenkung sollte doch einmal völkerrechtlich überprüft werden! Eine Volksbefragung gab es damals jedenfalls nicht.

Wenn ein so großes Land und militärisches starkes Land seinen wichtigsten Marine-Seehafen auf der Krim hat, muss ihm das Näherkommen der Nato in die direkte Nachbarschaft dieses Hafens nicht nur als Provokation, sondern auch als Gefahr erscheinen. Was der laufende Pachtvertrag für den Hafen wert ist, wenn die Nato erst einmal auf der Krim etabliert ist, das hat Putin bei der ständigen Osterweiterung der Nato erfahren. So kann ich mir kaum vorstellen, dass Putin direkt neben seiner Flottille ein paar Nato-Raketen, sozusagen als Schutz und Bedrohung stehen haben wollte. Ein Machtpolitiker, der einen wichtigen Bestandteil seiner Macht, nämlich seine Seeflotte, einfach aufs Spiel setzt, kann seine Macht auch gleich aufgeben.

Man muss Putin nicht mögen und man kann mit vielen seinen Handlungen nicht einverstanden sein. Aber man versteht doch vieles besser, wenn man versucht, sich in Putins und Russlands Lage hinein zu versetzen, so wie es auch die Pflicht eines jeden Außenpolitikers ist, anstatt nach Belieben sein eigenes düsteres Bild zu zeichnen.

Freitag, 14. März 2014

Die 10 Gebote

Immer wieder kann ich es nicht lassen und gehe zu Veranstaltungen und Vorträgen, bei denen mich der Inhalt weniger interessiert, als das was der Vortragende daraus macht. So besuchte ich einen Vortrag über die 10 Gebote, der in einem kirchlichen Kulturzentrum gehalten wurde. Ich versuche möglichst derartige Vorträge so wahrzunehmen, als wüsste ich nichts von der Materie und hörte das Thema zum ersten Mal.

Es war ein Pfarrerehepaar, das die Veranstaltung vorbereitet hatte. Etwa 40 Zuhörer waren erschienen - eine ansehnliche Zahl für eine kleine Stadt. Zuerst wurden das geschichtliche Umfeld der altisraelischen Wüstenwanderung geschildert - Moses auf dem Berg Sinai, der Tanz um das Goldene Kalb, das Zerbrechen und der erneute Empfang der Gesetzestafeln. Dann wurden in aller Kürze die auch heute noch weitgehend bekannten Gebote vorgestellt. Der Dekalog als Richtschnur des menschlichen Lebens, aber auch als Wegweiser zur Freiheit und zur eigenen Urteilskraft. Danach wurde die Sache etwas komplizierter. In Gruppen sollten die Zuhörer ein Dilemma besprechen, das im Schicksal eines Mannes bestand, der aus Liebe zu seiner krebskranken Frau in eine Apotheke einbricht, weil er das hoch wirksame, aber gerade erst entwickelte und deshalb unmenschlich teure Krebsmedikament nicht bezahlen kann und auch nicht auf Kredit vom Apotheker bekommt. Das Mitgefühl für den armen Einbrecher war groß, und ihm wurde bescheinigt, dass er aus Liebe gehandelt habe. Ganz geklärt wurde die Sache nicht, die Geschichte lief auf die Feststellung zu, dass Liebe das Höchste sei, und dass Liebe über den Geboten stehe und diese auch außer Kraft setzen könne. Als dann auch noch der Apostel Paulus mit seinen Lobpreis der Liebe zitiert wurde, verklärten sich viele Augen, und die Versammlung war eigentlich damit zur allgemeinen Zufriedenheit geschlossen.

Wenn alle einer Meinung sind, reizt es einige, die Leute ein wenig in Verwirrung zu bringen, und so meldete sich eine Frau und sagte, es würde sie ganz und gar nicht zufrieden stellen. Die Gebote seien doch wenigstens etwas Konkretes, denn die könne man einhalten oder auch nicht bzw. sich mit ihnen auseinandersetzen. Die Liebe sei als Begriff etwas Schwammiges, in jede Richtung hin Auslegbares, und man könne damit die größten Verbrechen rechtfertigen. Das wäre dann eben keine Liebe, wurde geantwortet, denn wenn man liebe, dann wisse man automatisch was das Richtige sei. In Sachen Liebe könne man nichts Falsches tun. Die Kritikerin bekam es gerade noch fertig zu erklären, dass man dann den größten Teil der Weltliteratur einstampfen müsse, aber wie es immer ist, wenn es spannend wird - der Abend wurde beendet, und die Frau, welche die Liebe als Richtschnur des Lebens in Frage stellte, verstummte, wohl um die Liebesfähigkeit der Gemeinde nicht allzu sehr auf die Probe zu stellen.

Später dachte ich darüber nach, wie es möglich ist, dass eine ganze Religionsgemeinschaft sich die Liebe zu ihrem am höchsten verehrungswürdigen Gut erkoren hat. Gleichzeitig wird diese Liebe in eine mit Beamten bestückte Institution gepresst mit Pfarrerdienstgesetz, unzähligen Paragraphen, Beamtenbesoldung und Pensionsregelungen. Das scheint mir der Liebe ähnlich zuträglich, wie der Befehl: Sei spontan! (des von mir verehrten Paul Watzlawick). Aber die Liebe ist in jede Richtung auslegbar, und so wird wohl ein jeder seine Art finden, wie er die Liebe mit dem Beamtensold unter einen Hut bringen kann.

Im Luftreich des Traums

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