Fortsetzung vom 14.1.2014
Mit der Feststellung, dass Sharon polarisiert habe, führt Teichmann den Zuhörer auf eine falsche Spur. Polarisiert hat Sharon durchaus, aber innerhalb der israelischen Bevölkerung. Die Beschreibung, dass er "in Israel an vielen Stellen als ein Held verehrt würde, während er bei den Palästinensern verhasst war", lässt die Vorstellung von einem homogenen Israel, das den Kriegshelden verehrt und den Palästinensern, die verständlicherweise diesen Kriegshelden hassen, aufkommen. Dass Sharon beim Deutschlandfunk als nichts anderes als ein Kriegstreiber gesehen wird, geht aus der im Kommentar erstellten Definition hervor, er sei der "Stärkere, der sich rücksichtslos mit militärischer Gewalt durchsetzt".
Das ist eine mehr als grob verzerrende Darstellung, sowohl des Charakters Sharons, als auch des Verlaufs der Kriege in Israel. Dem Zuhörer wird die Vorstellung vermittelt, dass Kriege in Israel durch solch rücksichtslose Kriegstreiber ausgelöst wurden, die noch nichts von der "neuen Politik für eine andere Zeit" wussten und wissen wollten. In Wirklichkeit war der Jom Kippur Krieg jedoch ein reiner Überraschungsangriff der syrischen und ägyptischen Armeen auf Israel, der "stärkeren Armeen, die sich rücksichtslos mit militärischer Gewalt" hatten durchsetzen wollen, also nach "alten Denkmustern" handelten. Dank Sharons Eingreifen, das in der Tat entgegen dem Befehl seiner Vorgesetzten erfolgte, wurde Israel maßgeblich durch Sharon vor der Vernichtung bewahrt, denn den Willen, Israel zu vernichten, haben arabische Führer immer wieder kund getan und tun es bis heute. Wie die syrische Armee heute mit ihren Gegnern umgeht, erleben wir Tag für Tag, und Herr Teichmann nimmt keine Notiz davon - hier merkt man leider wenig von neuen "Denkmustern".
Wenn man es genau betrachtet, diese Charakteristika: "Rücksichtslosigkeit ist ein Teil des Spiels" und "der Stärkere setzt sich mit militärischer Gewalt durch", die angeblich das Wichtigste sind, was über Sharon zu sagen ist, dann waren das genau die Strategien, derer sich die deutsche Armee im zweiten Weltkrieg stets bediente - in welchen Maß, darüber weiß jedermann Bescheid. Mir scheint es, dass die deutsche Medienlandschaft von der der DLF ein repräsentativer Teil ist, ihren Konsumenten immer wieder den Gefallen tut, die eigene Geschichte von der eigenen Schuld rein zu waschen, indem sie die deutsche Eigenschaften aus der Vergangenheit denen zuschiebt, die damals unter den Deutschen am meisten gelitten haben, den Juden, die in ihren Gesamtheit und über die geographischen Grenzen des Landes hinaus, den jüdischen Staat Israel korporativ bilden.
Abschließend soll eine kleine, selbst erlebte Anekdote, bei der es ausgerechnet um Sharon ging, aufschlüsseln, welche Wirkung eine solche Art von Dauerberieselung letztlich an den Tag bringt: Bei einem harmlosen Kaffeetrinken fing ein netter Mensch plötzlich an, furchtbar auf Sharon zu schimpfen, es war noch zu Sharons aktiver politischer Zeit. "Der ist wie Hitler!", war seine Schlussfolgerung. Ich fragte, ob Sharon auch Gaskammern errichtet hat, in denen er Menschen zu Tausenden ermordet. Die prompte Antwort war: "Er würde es gerne, wenn er es nur könnte!" Aha, dachte ich - so funktioniert es also!
anne.c - 17. Jan, 23:00
In den letzten Jahren kam es immer einmal vor, dass mir der Gedanke durch den Kopf schoss: "Lebt Ariel Sharon eigentlich noch?" und weiter: "Das kann ja gar nicht sein, dass er nach den zwei Schlaganfällen immer noch im Koma liegt! Aber wenn er gestorben wäre, hätte man es doch gehört?"
Nun ist er, nachdem er acht Jahre lang im Wachkoma gelegen hat, gestorben. Man könnte sich Gedanken machen, was es bedeutet, wenn ein Mensch im Koma liegt - dass er da ist und auch wieder nicht da ist. Ob sein Geist noch über allem schwebt, ob er das, was seine Familie ihm erzählt, mitbekommt? Ob es von öffentlicher Bedeutung war, dass Sharon am Leben und im Verborgenen anwesend war? Sicher ist, dass erst die Tatsache seines endgültigen Todes öffentliche Aufregung, Bestürzung, Gedenken und Trauer hervor gerufen hat. Schwer kann ich beurteilen, ob die Aufregung in Israel genauso groß war wie in Deutschland. In den Nachrichten und Kommentaren hier wurde diesem Tod viel Aufmerksamkeit gewidmet. Ähnlich große Aufmerksamkeit widmete ich den Nachrichten und Kommentaren selbst, da ja hinter diesen immer verborgene Botschaften heraus zu hören und zu lesen sind.
Der Grundton der Berichterstattung lautete, dass Sharon ein Mann war, der polarisierte, der einen großen Einfluss in und auf Israel hatte, der einer der letzten "Gründerväter" der Nation war. Von seinen "Taten" wurden immer wieder drei erwähnt - seine Passivität während der Massaker von Sabra und Shatila (wobei diese Passivität oft so überhöht geschildert wurde, dass es den Zuhörenden so erschien, als wäre er für diese Massaker verantwortlich), sein "Gang auf den Tempelberg", der - so zumindest der Anschein - die zweite Intifada ausgelöst habe und die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen, die auf seine Veranlassung und durch seinen Willen erfolgte. Immer blieb für den Zuhörer eine Diskrepanz zwischen der Sharon zugedachten großen Rolle für die Nation und seinen geschilderten "Taten". Wahrscheinlich liegt das daran, dass seine wirklich großen Taten für sein Volk fast immer unterschlagen wurden, z. B. seine überragende Rolle bei der überraschenden Wende zugunsten Israels im Jom-Kippur-Krieg 1973, die wahrscheinlich die Existenz Israels bewahrte.
Der Kommentar von Torsten Teichmann im DLF am 12.01. in der Abendberichterstattung erscheint mir so aussagekräftig für das Bild, das die Kommentare übermitteln, dass ich ihn kurz schildern möchte:
Teichmann gab zuerst bekannt, dass Sharon polarisierte: In Israel wird er an vielen Stellen als ein Held verehrt, bei den Palästinensern ist er verhasst, weil er als "Vater der Siedlungen" gilt". Seine Entscheidungen waren nicht immer richtig (ohne nähere Angaben). Die Zusammenfassung von Sharons Verhaltensweisen wurde brav aufgeschlüsselt:
1. Der Stärkere setzt sich durch militärische Gewalt durch und 2. Rücksichtslosigkeit ist ein Teil des Spiels.
Weiterhin erwähnte Teichmann Sabra und Shatila, "wofür ihm nie der Prozess gemacht wurde", und den Gang auf den Tempelberg, der Stärke hätte demonstrieren sollen. Die Räumung der Siedlungen von Gaza wären nur eine scheinbare Ausnahme seines Verhaltens, denn die bezweckten nur die Stabilisierung der Macht im Westjordanland.
Das Resümee des Kommentars war: Israel solle seine Denkmuster überprüfen und das Land brauche eine neue Politik für eine andere Zeit.
(Fortsetzung folgt)
anne.c - 14. Jan, 17:54
Wie allgemein bekannt ist, hatte der frühere Formel-I-Fahrer Michael Schuhmacher am 29.12. einen schweren Ski-Unfall und schwebt immer noch in Lebensgefahr. Auf Grund des hohen Bekanntheitsgrades von Schuhmacher, ist es verständlich, dass in den Nachrichten dieses Tages ausgiebig darüber berichtet wurde. Wenn aber zwei Tage später, am Silvester die Berichterstattung über Michael Schuhmacher mit dem Inhalt, dass sich an Schuhmachers Zustand nichts geändert habe, in der Tagesschau um 20 Uhr weiterhin an erste Stelle gesetzt wurde, dann kann mit der Wertung und Gewichtung, dessen was den Zuschauern mitzuteilen ist, etwas nicht stimmen. Minutenlang wurde über den Gesundheitsbefund berichtet, die Unglücksstelle wurde noch einmal gezeigt, es gab sogar eine Sonderschaltung nach Grenoble, nachdem man schon vorher die Ärzte in Grenoble gezeigt bekam. In den Tagen hatten sich zwei Bombenanschläge in Wolgograd ereignet, es gab viele Tote. Doch jedes Thema schien unwichtig genug zu sein und musste zwei Tage lang zugunsten Michael Schuhmachers an die hintere Stelle in den Nachrichten gerückt werden. Am 3. Januar wurde die Geburtstagsberichterstattung über den verunglückten Rennfahrer auch wieder sehr ausführlich, dann aber wenigstens an die letzte Stelle der Nachrichten gerückt.
Gegen Michael Schuhmacher habe ich nichts einzuwenden und Berichte über seinen Unfall können wegen mir stundenlang gesendet werden - allerdings in den dafür vorgesehenen Sendungen "Explosiv" oder "Brisant". Wenn man jeden Tag die Nachrichten schaut, es bleibt einem letztlich nichts anderes übrig, so kann man den Eindruck gewinnen, dass die Nachrichtensender bereits jegliches Gefühl dafür verloren haben, was in der Welt wichtig ist.
anne.c - 4. Jan, 11:45
Wenn einem zum festlichen Anlass kein passendes Geschenk einfällt, bleiben noch immer die Heftchen mit Ansammlungen von erbaulichen Gedanken, und an den Gedanken ist ja meistens auch nichts auszusetzen. Man hat sie vielleicht zu oft gelesen, manches erscheint ausgeleiert und es schient mir, dass jeder irgendwann zum ersten Mal auf diesen und jenen Gedanken stößt, und auf diese Weise kann so ein Heft kann durchaus Anstoß für Erkenntnis sein. Also, grundsätzlich finde ich „erbauliche Gedanken“, wenn sie nicht gar zu platt sind, nicht schlecht, weil sie den Leuten helfen, irgendwie mit dem Leben, mit sich selbst und den Menschen zurecht zu kommen. Seltsam, dass sie mich dann oft doch stören, diese Heftchen. Mir scheint, dass sie in das ausarten, was man Folklore nennt. Folklore ist etwas, was vom „Ursprünglichen“ herkommt und auf das „Ursprüngliche“ hinweisen soll, aber sie ist immer auch in Gefahr ist, ins Gegenteil vom Ursprünglichen, in den Kitsch auszuarten.
So ist es mit den erbaulichen Gedanken in den Heftchen auch. Ich halte sie für Folklore. Sie können den Menschen helfen, sich auf Wesentliches zu besinnen. Die Gefahr, dass sie zu Kitsch werden ist aber immer da. Oft halten sie dann den Menschen ab, sich eigene Gedanken zu machen. Sie helfen nicht, sondern sie verschleiern. Es reicht, sich zu erbauen, und damit bleibt dann das Denken ausgesetzt.
anne.c - 27. Dez, 12:14
Es ist keine rührselige Geschichte über Maria und Josef - nein, in dieser Geschichte heißen die Protagonisten Mirjam und Jussuf, ein junges palästinensisches Paar. Auch ihnen wurde ein Kind geboren. Nicht etwa im Stall, sondern im Niemandsland innerhalb der israelischen Sperranlagen soll es zur Welt gekommen sein. So wurde es jedenfalls mit dem Unterton moralischer Entrüstung in der Kirchenzeitung kolportiert, und diese Geschichte ist mit Sicherheit ein miserabler journalistischer Fake. Die Zeitung war auch nicht im Stande, irgendwelche glaubhaften Belege für die Story aufzubieten.
Dass sehr viele palästinensische Babies in israelischen Krankenhäusern behandelt werden, wenn ihr Leben in Gefahr und ein Krankenhaus in den palästinensischen Gebieten oder in Gaza zu einer Behandlung nicht in der Lage ist, darüber hätte die Kirchenzeitung durchaus einmal berichten können. Sogar das Enkelkind von Ismayil Haniya, einem der Führer der palästinensischen Hamas, die sich die Vernichtung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat, wurde im November in einem israelischen Krankenhaus behandelt. Nirgends hier in Deutschland konnte ich darüber lesen - obwohl solche Geschichte durchaus mit der biblischen Botschaft etwas gemeinsam hat.
Nachdem also die Mär von Yussuf und Mirjam im Niemandsland zu lesen war, schrieb ich an die Zeitung und erinnerte sie daran, dass es ja in unserem Land auch 28 Jahre lang Mauer samt Sperranlagen gegeben habe und die Zeitung damals durchaus Gelegenheit gehabt hätte, wahre tragische Geschichten über Eltern und Kinder im Zusammenhang mit den deutsch-deutschen Grenzanlagen zu schreiben, was sie aber wohlweislich unterlassen hatte. Und wenn sie Mauern in anderen Ländern anprangern wollten, so mögen sie bitte eine Schamfrist von 28 Jahren einhalten. Meine Zuschrift wurde abgedruckt, aber nur zur Hälfte. Alles was zum Verständnis meines Leserbriefs nötig war, wurde "aus Platzgründen" weggelassen.
Danach wurde mir noch eine kleine Auseinandersetzung mit dem Chefredakteur beschert, der sofort wusste, wer ich bin, nämlich ein "Philoisraelitist", was die Kehrseite "des Antisemitismusses" (es sind seine Wortschöpfungen) sei - die Juden würden so etwas nicht mögen. Auch hätte ihm noch nie ein Rabbiner antisemitische Tendenzen unterstellt - die ich dem guten Mann allerdings mit keinem Wort angehängt hatte.
So gibt es zum Thema Weihnachten doch immer wieder Geschichten aus dem wahren Leben, die nicht unbedingt in besinnlichen Weihnachtsstunden vorgelesen werden und eben deshalb wirklich weihnachtlich sind.
anne.c - 18. Dez, 21:30
In unserer Nähe gab es kürzlich in Anwesenheit von Loretta Walz eine Vorstellung ihres Films und des gleichnamigen Buchs "Die Frauen von Ravensbrück". Getreu meinem Motto, man soll diesen Dingen nicht hinterher laufen, aber wenn man ihnen begegnet, soll man sich ihnen stellen und alles anschauen und anhören, denn die Menschen, die es damals erleiden mussten, haben es verdient!, sah ich mir den Film an, nahm an der anschließenden Diskussion mit der Filmemacherin Loretta Walz teil und kaufte mir das Buch. Und das Buch hat mich dann eine ganze Weile beschäftigt.
Vor drei Jahren stand ich ganz allein auf dem leeren Lagerplatz von Ravensbrück und empfand es als gut, dass das Hauptgelände weitestgehend leer war. Was dort geschah, ist heute nicht nachvollziehbar, und in so einem Fall finde ich es besser, dass ein leerer Platz den Raum für eigene Gedanken lässt. Ich schrieb damals, am 30. September 2011 einen Blogeintrag über meine Gedanken in dem Lager, und im Zusammenspiel mit diesem Buch ergibt sich ein, wenn auch im negativen Sinn, lebendiges Bild.
Das Buch gibt anhand der Schilderungen einer ganzen Reihe von ehemaligen Insassinnen eine umfassende Vorstellung vom Leben, Leiden und Sterben in diesem Frauenkonzentrationslager. Die Kapitel sind thematisch geordnet, und in jedem Kapitel gibt es einige Hauptakteurinnen, ehemalige Häftlingsfrauen, die zum Thema des Kapitels abwechselnd aus ihrer Erinnerung berichten. Die Autorin gibt dazu behutsam erklärende Anmerkungen. Wie Loretta Walz erzählte, war es ihr sehr wichtig, den Lesern die gesamte Persönlichkeit der Frauen vor Augen zu führen und sie nicht auf die Rolle der Leidenden zu reduzieren. Die Frauen schildern auch, wie sie mit den Folgen und mit den Erinnerungen an diese Zeit weiter gelebt haben und welche Auswirkungen das für ihr Familienleben hatte.
Das gefiel mir besonders an dem Buch: dass durch die Schilderungen bewusst gemacht wird, was für "normale", schöne und lebendige Frauen es waren, aus denen die unbarmherzige deutsche KZ-Maschinerie diese "Elendsgestalten" gemacht hat, die oft in den Filmen über die Lager zu sehen sind und zu welch beeindruckenden Persönlichkeiten sie dann später werden konnten, wenn sie das Glück hatten zu überleben und gesund zu werden. Aber auch das Überleben und die Befreiung sind mit einem hohen Preis bezahlt worden, denn fast alle kamen schwer mit dem "normalen" Leben zurecht, weil das gesamte Leben vom Aufenthalt im KZ überschattet wurde.
Mir fiel dabei ein, welche Ängste der Italiener Primo Levi, der ein Jahr lang in Auschwitz zubringen musste, mehrmals äußerte: er träumte, er sei nach Hause gekommen, möchte erzählen, was in Auschwitz geschah, und niemand wolle ihm zuhören. So stelle ich mir vor, dass viele der Frauen ihre Erlebnisse in Ravensbrück auch jahrzehntelang mit sich trugen, und dass es eine weitere Befreiung für sie gewesen sein muss, auf so viel Interesse und Einfühlungsvermögen gestoßen zu sein, und dass sie die Dinge aus einem größeren Abstand noch einmal berichten konnten. Für den Leser ist das Buch ebenfalls ein Gewinn, ihm wird vor Augen geführt, was ein Mensch ist, was Menschen imstande sind anderen Menschen anzutun, und wie man sich mit der Bürde solch schlimmer Erlebnisse auseinandersetzen kann.
anne.c - 13. Dez, 12:14
Ein kleiner roter Gegenstand, der in dem Buch von Götz Aly erwähnt wird ließ für mich die Zeit um 1968 wieder lebendig werden. Damals war ich Schülerin, lebte in der DDR, hatte aber oft Gelegenheit, mit westdeutschen Jugendlichen zusammen zu kommen, sei es mit meinen zahlreichen Verwandten oder auf Treffen kirchlicher Jugendgruppen. Wenn wir bei solchen Treffen zusammen kamen, wurde ausgiebig diskutiert. Die westdeutschen Jugendlichen, eingehüllt in Wolken von Zigarettenrauch, konnten eloquent und selbstbewusst reden und argumentieren. Darum bewunderte und beneidete ich sie. Im Gegensatz zu mir konnten sie sich alle Informationen beschaffen, sie konnten gebildet und fortschrittlich sein. Im Westen spielte sich in meinen Augen das wahre Leben ab, während wir unwissend waren und in der Schule nur mit ödem Marxismus-Quatsch gequält wurden.
Eines Tages, ich weiß gar nicht wie, gelangte besagter "kleiner roter Gegenstand" in meine Hand, nämlich die "Mao-Bibel", die bei den "Fortschrittlichen" und "Revolutionären" hoch im Kurs war. Das hielt ich für einen Witz, konnte es nicht glauben und bis jetzt habe ich es noch nicht verinnerlicht, dass die fortschrittlichen Jugendlichen diesen Müll - anders kann man es nicht nennen - ernst nahmen. Der Inhalt der "Mao-Bibel" bestand aus dümmsten Parolen, kommunistischen Floskeln, dagegen hatte jener "Quatsch", den wir im Marxismus Unterricht lernten, immerhin bestimmte Strukturen und einen logischen Aufbau.
Götz Aly hält ein Resümee auf die so genannte 68-er Zeit und versucht die Ursachen des Denkens dieser bewegten Jugend zu ergründen. Dazu untersucht er als Historiker die Quellen, derer sich die Jugendlichen bedienten und erwähnt mehrmals, dass er selbst zu den 68-ern gehörte und in einige ihrer Aktionen verwickelt war. Man wird den Verdacht nicht los, er möchte damit Kritikern vorbeugen, die ihn der Mitläuferschaft bezichtigen könnten. In Anbetracht der starken Nähe des Verfassers zu den Protagonisten hätten einige aussagekräftige Anekdoten diese Zeit besser illustrieren und das Buch lebendiger machen können. Es ist als wissenschaftliche Arbeit geschrieben mit vielen Fußnoten und kommt dem Leser etwas trocken vor.
Nichtsdestotrotz sind Alys Betrachtungen und Schlussfolgerungen und seine Umgehensweise mit den geschichtlichen Gegebenheiten außerordentlich interessant und gut nachvollziehbar. Sein Fazit ist, dass diejenigen, die als die 68-er in Erscheinung traten, ihr Denken direkt von ihren nationalsozialistischen Vätern, gegen die sie angeblich revoltierten, übernommen haben. Hass auf die USA - (Konkretisiert in der Formel USA-SS-SA) als den ehemaligen Kriegsgegner und Sieger, Hass auf Juden und den jüdischen Staat, der die vom deutschen Morden übrig gebliebenen Juden aufgenommen hat, waren stark ausgeprägt. Die Methoden und Vorgehensweisen der 68-er in ihrem so genannten Kampf waren diktatorisch, rücksichtslos und oft primitiv. So wie es einst die Nazis und so wie es die Autokraten in den kommunistischen Ländern zu tun pflegten. Das ist kein Widerspruch, denn in ihrem Wesen haben Kommunismus und Nationalsozialismus trotz und gerade wegen ihrer Gegnerschaft vieles an Gemeinsamkeiten.
Dass die Studentenrevolte ins Leere lief und nach ihrem Höhepunkt mit den Morden der RAF endete, ist der Widerstandsfähigkeit eines pluralistischen und demokratischen Staats zu verdanken, trotz aller Mängel, die er zu Tage trägt. Immerhin bewirkten die Revolten der 68-er zumindest in einem gewissen Maße (es hatte auch andere Ursachen) eine Lockerung und Liberalisierung der verkrusteten und in vieler Hinsicht erstarrten westdeutschen Gesellschaft. Die Protagonisten von 1968 spalteten sich. Einige wenige gerieten an den Rand der Gesellschaft, die meisten wurden zu Kultur- und Leistungsträgern, bauten diese Gesellschaft weiter auf und nannten ihr Tun „Marsch durch die Institutionen“.
Jedenfalls ist es lohnend, das Buch von Götz Aly ungeachtet seiner gewissen Trockenheit zu lesen, allein schon um die gesellschaftlichen Erscheinungen von heute besser zu verstehen
anne.c - 6. Dez, 17:08
Eines Tages, ich trat gerade aus der Haustür, standen meine Schulfreundin Monika mit ihrem Mann Horst vor mir. Sie waren für ein verlängertes Wochenende in diese Gegend gefahren, und waren nun zu einem Überraschungsbesuch zu mir gekommen. Ich hatte Zeit, und so machten wir uns ein schönes Plauderstündchen bei Kaffee und Kuchen. Kinder, Enkelkinder, unsere gemeinsamen Erinnerungen und die Arbeit boten Gesprächsstoff genug. Monika war vor der Wende Volkspolizistin gewesen, ihr Mann Grenzkontrolleur. Nach der Wende war ihr Leben gehörig durcheinander gewirbelt worden, aber sie hatten es geschafft, wieder Fuß zu fassen. In einfachen Berufen, gemäß dem Motto: "Genossen, in die Produktion!" Unzufrieden mit ihrem Leben waren sie keineswegs und die Freuden und Annehmlichkeiten der Gegenwart wussten sie zu schätzen. Nach einer Stunde brachen die beiden wieder auf. Wir umarmten uns und versprachen, uns wieder zu besuchen.
Gerade an dem Tag bekam ich noch einmal unerwarteten Besuch. Diesmal war es meine alte Tante. Sie erzählte mir, dass sie mittags einen Dokumentarfilm über das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen in Phoenix gesehen habe, der sie so bewegt hatte, weil wieder die Erinnerungen an die schreckliche Zeit, als ihr Sohn im Stasi-Gefängnis war, in ihr erwacht waren. Ich erinnerte mich gut, wie wir mit unserer Tante mehrmals zu Rechtsanwalt Schnur gefahren sind, wie wir durch einen Spalt im Zaun des Bezirksgerichts beobachten konnten, wie unser Cousin in Handfesseln zum Gerichtssaal geführt wurde, nachdem uns die Gerichtsangestellte durch fiese Fehlinformationen davon abgehalten hatten, der Verkündung des Gerichtsurteils beizuwohnen - von der Verhandlung war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Und wie meine Tante immer erschüttert von ihren Gefängnisbesuchen nach Hause zurück kehrte.
So hielten wir noch einmal kurz Rückschau auf diese Zeit, und meine Tante sagte: "Das Furchtbarste für mich waren die kalten und reglosen Gesichter der Gefängnisleute. Ich dachte: "Gut, dass sie nicht weiß, dass ich mich heute noch mit einem Menschen aus diesem ehemaligen Staatsbereich herzlich umarmt habe".
anne.c - 29. Nov, 19:35