Samstag, 15. Juni 2013

Eine kleine Episode auf einer Israelreise

Meine erste Israelreise unternahm ich mit einer Reisegruppe. Eine befreundete Pastorin hatte die Reisegruppe zusammen gestellt und leitete sie auch, und so schloss ich mich der Gruppe an. Die Mitreisenden waren mehrere Pfarrerehepaare sowie Mitglieder aus der Gemeinde meiner Freundin. So hatte ich die Gelegenheit, die Gepflogenheiten in einer Reisegruppe kennen zu lernen. Gespannt war ich darauf, welche Einstellung meine christlichen Mitreisenden dem Land Israel und seinen Bewohnern gegenüber hatten. Um es vorweg zu sagen: Es ernüchterte mich ungemein. Viel Sympathie für und großes Interesse an diesem Land waren kaum zu spüren. Ein Erlebnis soll diese meine Empfindungen verdeutlichen:

In Jerusalem wird eine deutsche Reisegruppe sehr bald zu den Einrichtungen der deutschen evangelischen Gemeinde geführt, dem Auguste Viktoria Krankenhaus mit der Himmelfahrtkirche. Hier hielt uns eine Angestellte der deutschen Gemeinde einen Vortrag über die Situation der Christen im Land. Die israelische Reiseführerin verließ diskret den Raum. Sie wusste wohl von ähnlichen Gelegenheiten, welcher Art diese Vorträge sind. Worte wie "unterdrückt" und "Besatzung", rauschten nur so an mir vorbei. Schließlich war es mir zu viel, und ich meldete mich zu einer Frage: "Wenn ich sie höre, klingt das so, als hätte es einmal einen palästinensischen Staat gegeben, den Israel besetzt hat. Ist das so?" Die Vortragende verstand sofort (sie schien die Erkenntnis zu haben: Feind hört mit) und gab zu, dass die Palästinenser einst von Jordanien besetzt waren, "Aber das waren doch wenigstens ihre eigenen Leute!", und dann schloss sie ihren Vortrag schnell in einer sehr unverbindlichen Weise.

Die Pointe dieser Episode war so schön. dass ich sie gern immer wieder erzähle: Nach Ende der Veranstaltung kamen die Pfarrfrauen auf mich zu. Sie wollten mir die Situation, die ich herbei geführt habe, erklären. "Wissen sie, aus diesem Konflikt müssen gerade wir als Deutsche uns ganz heraus halten. Da darf man sich nicht auf die eine oder auf die andere Seite stellen. W i r haben gleich gemerkt, dass sie auf der a n d e r e n Seite stehen!"

Samstag, 8. Juni 2013

Kinder auf die Kanzel!

(Fortsetzung vom 2.6.)

Die Predigt des jungen Felix

Felix spricht in seiner Predigt darüber, in welch schlechten Zustand die Erwachsenen die Welt gebracht haben. Er legt dar, dass er eine Lösung für die Missstände der Welt ausgedacht habe, nämlich das Pflanzen von Bäumen. Er erzählt, dass er eine weltweit vernetzte Kinderorganisation aufgebaut hat, die inzwischen schon viele Millionen Bäume pflanzte . Was er strikt vermeidet, ist jegliches Erklären, wie seine Projekte konkret verwirklicht werden. Ich stellte mir vor, dass 150 Bäume, die jeder einzelne Mensch auf der Welt pflanzen soll, damit die Welt gerettet würde, eine ganz schöne Fläche brauchen. Wer stellt die Fläche zur Verfügung? Oder werden einfach im nächst besten Wald Bäume gepflanzt, da wo der Förster es sowieso vor hat? Was sagen die "Spekulanten", die für Felix die Verkörperung des Bösen sind, dazu, wenn auf Flächen, die z. B. für nachwachsende Rohstoffe vorbehalten sind, nun auf einmal ein Wäldchen wächst? Auch fragte ich mich, warum in meiner näheren Umgebung noch keine Kinder einen Wald gepflanzt haben - jedenfalls habe ich nichts davon gemerkt -, obwohl nach Felixens Vorstellung die Kunde vom Pflanzen der Bäume sich wie ein Lauffeuer um die ganze Erde nach dem Prinzip der Potenzrechnung verbreitet hat: Jeder überzeugt zwei Menschen, diese wiederum zwei andere, und in 32 Monaten sind schon mehr Menschen, als die Erde überhaupt hat, vom Baumpflanzen überzeugt. Das erinnerte mich an die Briefe, die ich als Kind oft bekam. Man sollte an fünf Freunde den Brief weiterleiten, und dem letzten auf der Liste eine Ansichtskarte schicken, und in Kürze hätte ich dann 125 (?) Ansichtskarten. Ich habe sogar einmal eine einzige Ansichtskarte bekommen. In dem Zusammenhang fiel ein bezeichnender Satz, der Felix Denkweise und leider auch diejenige vieler Menschen mit einer simplen Weltanschauung kennzeichnet: Es würde nur 32 Monate dauern, bis 8 Milliarden Menschen überzeugt sind und alle das Gleiche denken.

Felix Idee vom Pflanzen der Bäume fand ich nicht das Bedenkliche an der Kanzelrede. Sondern seine Einteilung der Welt in Gut und Böse und die Forderung nach einem einheitlich-totalitärem Denken. Felix weiß was gut und böse ist, und deshalb sollen wir alle Felix nachfolgen. Da frage ich mich, was Felix mit denen machen würde, die sich weigern, so wie er und die angedachten 8 Milliarden Menschen zu denken.

Er spricht von Kindern, die sich ständig Fragen stellen, warum die Erwachsenen versagen und von Erwachsenen, die "nichts" tun. "Wir Kinder und Jugendliche fragen uns .....", sagt er oft. Es gibt schlimme Banker, für die man sich schämen müsse, Spekulanten, die keine Existenzberechtigung hätten, der "Markt", der es nicht schafft, die Armen aus der Armut zu holen. Die besonderen Feinde wären die "Lobbyisten", was immer man sich darunter vorstellen mag. Dass Felix selbst ein Lobbyist für das Bäumepflanzen ist, schien ihm nicht bewusst zu sein.

Er weiß genau, dass die Märkte nichts taugen, ja er möchte sogar das gesamte "System" verändern. Er weiß noch nicht, ob durch Evolution oder etwa durch Revolution. Als Beispiel, wie durch Ansammlung vieler Einzelner ein neues "System" entstehen kann, führt er ausgerechnet diese Linie auf: Papst Johannes Paul ermutigte - Lech Walesa gründete Solidarnosc - und dann rief Joachim Gauck mit seinen Freunden "Wir sind das Volk!", und schon fiel die Mauer (dass Joachim Gauck auf den fahrenden Zug der "Revolution" sprang und nicht etwa die Losung ´Wir sind das Volk` ausgedacht hat, sei nur am Rande bemerkt). Aber dass nicht Parolen und Kerzen das "System" zu Fall gebracht haben, sondern dass dieses so marode war, dass es in sich zusammen fiel, mag Felix, der gut nachplappern kann, nicht bekannt gewesen sein. Was beim Fall der Mauer eine besonders große Rolle spielte, war übrigens die übermächtige Verlockung der ungeliebten Märkte.

Warum widme ich ausgerechnet dem jungen Felix zwei Beiträge? Weil ich mich in diesem Blog im weiteren Sinne mit der Ideologie befasse. Sie war unser "täglich Brot" in der DDR. Wer sie selbst nicht verinnerlichen wollte, der musste zumindest verinnerlichen, was Ideologie ist und was sie bewirkt. Und dazu gehört auch Indoktrinierung, die ich dem guten Felix unterstellen muss. Dazu gehört auch eine platte Weltsicht, die für komplexe Probleme einfache Lösungen parat hält. Nicht umsonst dachte ich spontan als ich das Bürschchen auf der Kanzel sah: Der sieht wie ein junger Pionier aus, gut geschult im öffentlichen Verkünden von Parolen.

Sonntag, 2. Juni 2013

Kinder auf die Kanzel!

oder: Gedanken während des Endspiels der Champignon League

Es ist ein Ausdruck von Freiheit, etwas nicht mitzumachen, was alle anderen um Einen herum tun. So verweigerte ich mich dem Endspiel der Champignon League. Ganz abseits stehen wollte ich aber nicht. Vor dem Fernseher saß ich ebenfalls. Neugierig war ich darauf, was die anderen Sender zu dieser bedeutungsvollen Zeit senden. So landete ich schnell bei Bayern alpha, dem Sender, den ich als Beispiel dafür ansehe, dass es in den Fernsehsendern nicht um die Quote gehen muss. Bayern alpha sendet oft endlose und knochentrockene Veranstaltungen von evangelischen und katholischen Akademien oder Gespräche mit oft kaum bekannten Menschen, die manchmal auch interessant sind. Dieses mal traute ich meinen Augen kaum: Der Schauplatz war eine Kirche, in der ein junges Bürschchen auf der Kanzel stand, und einer großen Schar Erwachsener eine Predigt hielt. Ein Junge namens Felix (später stellte ich fest, dass er 15 Jahre alt war) erklärte den Erwachsenen, warum er eine Mega-Baumpflanzaktion initiiert hat mit dem Ziel, die Welt zu retten. Er predigte fast eine Stunde lang, und am Ende war ich in einem Zustand, den man nicht anders als "verstört" bezeichnen kann.

Der junge Felix, in seiner Funktion als "Kind" war zur Kanzelrede eingeladen worden, um den "Erwachsenen" darzulegen, warum er schon seit ein paar Jahren Kinder aus aller Welt dazu bringt, eine Unmenge Bäume zu pflanzen mit dem hehren Ziel, die Welt dadurch zu retten. Er erzählte nicht etwa darüber, wo und unter welchen Umständen die Bäume gepflanzt werden, auf welche Weise er mit den Kindern der Welt zusammen arbeitet, wie die Bäume eingegraben, gegossen und gepflegt werden. Mit solchen Lappalien hielt Felix sich nicht auf, sondern ihm ging es nur um das "ganz Große". Die Bäume wurden nur in Millionen, Milliarden, wenn nicht in Billionen gezählt. Er wusste über all die großen Probleme der Welt bestens Bescheid und auch um deren Lösung. Sei es die Finanz- und Schuldenkrise, die Energieversorgung der Erde, Klimawandel. Alles was Felix predigte, hatte ich schon irgendwo gelesen oder gehört. Felix brachte es in einem Duktus vor, als wäre er zu diesen Erkenntnissen aufgrund intensiven Nachdenkens und als allererster Erdenbürger gekommen. Kurzum - er kam mir vor wie ein gründlich indoktriniertes Kind. Seine Methode war, dass er die besorgten, denkenden und handelnden Kinder den gedankenlosen und nicht oder verkehrt handelnden Erwachsenen gegenüber stellte.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 25. Mai 2013

Tod eines Dirigenten

Nun schreibe ich eine der "nebensächlichen Begebenheiten, die ein Charakteristikum einer komplexen Realität" sind auf , damit sie nicht in Vergessenheit gerät:

Eines Tages wurde mehrmals am Vormittag im Deutschlandfunk in den Nachrichten gesendet, dass ein israelischer Dirigent gestorben ist. Seinen Namen hatte ich nie gehört, er gehörte jedenfalls nicht zu den Spitzendirigenten, deren Namen oft genannt werden. Hinzugefügt wurde jedes mal bei der Nachricht: "Er war der erste, der in Israel eine öffentliche Wagner-Aufführung dirigierte, was scharfe Proteste von Holocaustüberlebenden hervorgerufen hat".

In dieser Nachricht, die ich in keinem anderen Sender gehört hatte, steckt viel vom Ungeist des DLF: Sie würdigten den ansonsten nicht übermäßig bekannten Dirigenten als den, der es „wagte“, in Israel Wagner aufzuführen. Da schwingen die „nicht verzeihen wollenden Holocaustüberlebenden“ mit, die Israeli, die unserem großen Wagner nicht die gebührende Ehre zollen wollen, „nur wegen des Holocausts“. Der „Mut“ eines der Ihrigen, der es trotzdem gewagt hat. Und alles in einer Sprache, die sich scheinbar unangreifbar und neutral gebärdet.
Und das alles eben in einem Sender mit dem selbstgewählten Namen Deutschlandfunk.

Montag, 20. Mai 2013

Buchrezension "In Zeiten des abnehmenden Lichts" von Eugen Ruge

"In Zeiten des abnehmenden Lichts" von Eugen Ruge
(Deutscher Buchpreis und Alfred-Döblin-Preis)

Der Roman schildert eine Familiengeschichte im Zeitraum von vier Generationen und spielt in der DDR, teilweise auch in Mexiko. Er scheint viele autobiografische Bezüge aufgenommen zu haben. Ebenso wie Eugen Ruge hat seine Romangestalt Alexander (Sascha) Eltern, die ins Exil in die Sowjetunion gingen und dort auch zeitweise deportiert waren. Er selbst und auch die Hauptperson wurden in der SU geboren. Ebenso reisten beide Ende der 80-er Jahre nach Westdeutschland aus. Die Eltern gehörten der DDR-Nomenklatura an, was keinen Widerspruch zum Arbeitslager in der SU bedeutete. Der Vater Wolfgang Ruge war in der DDR Historiker, ebenso wie Saschas Vater Kurt. Man kann im Roman viel vom Leben der DDR-Führungsschicht erfahren: Wie sie dachten, wie abgehoben sie im Vergleich zur Bevölkerung lebten, aber andererseits auch was für normale Menschen sie waren und wie schwer sie die Veränderungen am Ende der DDR auch nur begreifen konnten.

Der Roman hat einen eigenartigen Aufbau, weil er konsequent und unchronologisch zwischen den Zeitabschnitten und zwischen den Generationen hin und her osziliert. So sind die Handelnden einmal alt, einmal mittelalt, einmal jung und halten sich an verschiedenen Orten auf. Der Protagonist Alexander lebt gegen Ende der Handlung in Mexiko. Er ist krebskrank und möchte den Ort kennen lernen, an dem seine Großeltern (Charlotte und Ehemann Wilhelm) einst im Exil gelebt haben. Der Vater dagegen war im Exil in der SU gewesen und hatte dort seine Frau Irina, eine Russin, kennengelernt und sie mit in die DDR gebracht. Sie selbst holt später ihre alte Mutter nach, als diese sich nicht mehr allein versorgen kann.

Die Handlung: Eigentlich ziemlich "normales Leben": Man nimmt an Familienfesten teil, erlebt die Freundinnen des Sohns, die Geburt der "4. Generation" Marcus, Scheidung, Fremdgehen, Rückerinnerungen und besonders das Altwerden der ersten und zweiten Generation. Die beiden älteren Generationen leben sehr selbstverständlich in der DDR.

Wilhelm und Charlotte halten sich anfangs noch in Mexiko auf, ihr Leben ist ganz auf die Partei ausgerichtet. Sie scheinen sich mit der Partei ganz und gar eins zu fühlen. Ein einziger Tag durchzieht übrigens den gesamten Roman. Es ist der 1. Oktober 1989, Wilhelms 90. Geburtstag, ein Tag, an dem sich die DDR voll in Auflösung befindet, was aber von den Protagonisten nicht zur Kenntnis genommen wird. Dieser Tag wird aus allen möglichen Perspektiven von 6 verschiedenen Personen geschildert. Wilhelm ist schon recht senil, vielleicht stirbt er sogar. Alexander ist gerade auf einer Besuchsreise im Westen geblieben. Diese Tatsache steht über dem gesamten Tag, aber keiner wagt es richtig, darüber zu sprechen.

Die Sprache: Viel wörtliche Rede, viele Gedanken und Erinnerungen, sehr konkret, wenig Reflexionen oder Gedankentheorie. So kann man recht gut am Leben der Personen teil haben. Trotzdem bleiben sie eigenartig uncharakteristisch. Da besagte Zeitsprünge stattfinden, muss man sich sehr hineindenken: Wer ist wer, wie alt, in welcher Situation? Das hat aber auch seinen Reiz. Für meinen Geschmack ist die Sprache manchmal gewollt vulgär. Zu diesem feinsinnigen Mann Eugen Ruge passt die Schilderung mancher groben Sexszenen nicht. Man hat den Eindruck, dass er damit nur zeigen möchte, dass er nicht nur so feinsinnig ist, wie er erscheint. Das wirkt komisch, weil man es ihm nicht abnimmt.

Da der Roman überwiegend aus Sprechpartien und Handlung ohne Reflexion besteht, bleiben manche Vorgänge nicht ganz nachvollziehbar. Ein wenig scheint mir das Buch mit dem "Turm" von Uwe Tellkamp verwandt zu sein, weil dieser Roman die gleiche Zeit und ein ähnliches wenn auch anders gelagertes Milieu, sowie viel DDR-Schilderung beinhaltet.

Sonntag, 12. Mai 2013

Neid

Im Fernsehen sah ich einen Film zum Thema Neid. Es hieß: In Deutschland gäbe es eine richtige Neidkultur. Neid wäre hier besonders verbreitet und man mache sogar Geschäfte, in dem man auf den Neid anspiele. Interessant an dem Film war, dass Neid fast ausschließlich auf materielle Dinge gemünzt wurde. Immerzu war man neidisch auf Wohlstand, auf Autos, auf Luxusreisen. Auch war es interessant, dass Neid hauptsächlich anderen von jenen unterstellt wurde, die sich selbst für besonders beneidenswert hielten. Als ich mir die Gegenstände des Neides ansah, musste ich doch lachen: Anläßlich eines Luxusbanketts standen Joschka Fischer und Udo Walz beieinander, und sahen entrückt dem Gekreische einer völlig aus dem Leim gegangenen amerikanischen Diva zu, und hielten sich für sehr beneidenswert!

In Deutschland wird der Idealismus sehr hoch gehalten, die Leute betonen, dass ihnen bestimmte „Werte“ wichtig seien. Da ist es doch seltsam, dass sich ihre Wünsche und Sehnsüchte einschließlich ihres Neides so sehr auf rein materielle Dinge richten. Einmal las ich, dass in den verschiedenen Kulturkreisen die Menschen für bestimmte Dinge eine Ambivalenz empfinden, dass sie sich in manchem als minderwertig empfinden, was sie zu kompensieren versuchen, indem sie gerade darauf eine besondere Wichtigkeit legen. Mir fiel es in England auf, wo ich mir aus Langeweile beim Warten auf dem Flughafen eine Zeitschrift kaufte. Die war nicht viel anders als die hiesigen Tratschzeitschriften, aber eine viel stärkere Betonung des Sexuellen fiel auf. In verschiedenen Artikeln und Kolumnen betonten Stars bis hin zur letzten Putzfrau ihr erfülltes Sexualleben. Wo die Engländer doch als prüde gelten! So muss das hier mit dem Neid und der Gier auf materielle Güter sein, die vielleicht in der Gesellschaft vorhanden sind. Man versucht sie durch Überbetonung der Moral und des Strebens nach Werten zu verdrängen.

Dienstag, 7. Mai 2013

Und noch einmal Günter Grass

Nicht weil es mich dazu drängt, sondern weil am Sonntag (dem 5. Mai) im Sender Phoenix anschließend an den Presseclub ein einstündiges Interview mit ihm gesendet wurde. Zum ersten Mal bekam ich nun Gelegenheit, GG zuzuhören, wie er über sein Gedicht und seine Meinung zu Israel spricht.

Es ist interessant zu erleben, welche Sprachregelung ein Mensch, der die Nazizeit bewusst und aktiv erlebte, in der Waffen-SS diente und dann zu einem wortgewaltigen Schriftsteller wurde, für den Holocaust findet. "Die von den Deutschen zu verantwortenden Verbrechen", nannte er es. Er informierte die Zuschauer also, dass die von den Deutschen zu verantwortenden Verbrechen eine starke Auswanderung von Juden nach Palästina verursacht haben, was zu Vertreibung und Beraubung der Araber führte. Großes Leid und Unglück sei über die Araber gekommen. Sie seien zu Bürgern zweiter Klasse geworden, was dem Gründungsakt Israels widerspreche. Das müsse man kritisieren, denn damit helfe man Israel. Und er stehe zu Israel, betonte Grass.

Es fielen mir zwei verschiedene ältere Leute ein, die ich in Israel kennen gelernt hatte. Im Gegensatz zu mehreren ihrer Familienangehörigen waren sie als Jugendliche nach Palästina emigriert. Ob Grass die Tatsache der Emigration als ein von Deutschen zu verantwortendes Verbrechen ansieht, sei dahin gestellt. Eher sieht er es aber wohl als ein von Juden an Palästinensern zu verantwortendes Verbrechen an. Bei meinen beiden Bekannten sah ich mir Fotoalben an, die ihre Zeit in Israel dokumentierten. Ich war erstaunt. In den 40-er und 50-er Jahren war das Land, wo ich jetzt üppig blühende Kibbuze erlebte, bestanden von großen Schatten spendenden Bäumen, eine einzige baumlose Wüstenlandschaft gewesen. Das soll ein Verbrechen sein, Land zu kaufen, es unter großen Mühen urbar zu machen, vielen Menschen, selbstverständlich auch Arabern Arbeit zu geben? Ob dieser ältere Jude, der inzwischen immerhin zum Ehrenbürger seiner norddeutschen Geburtsstadt ernannt wurde, jemand ist, der Araber vertrieben hat? Ob es seine Kinder und Enkelkinder sind?

Geht GG etwa von der in seinem Kopf geisternden Unterstellung aus, dass Juden in ein blühendes Land Palästina eingefallen sind, Zerstörung anrichteten, viele "Ureinwohner" vertrieben haben und den Rest jener auf ihrer Scholle Sitzenden zu ihren Sklaven machten? So wie Deutsche es einst in den von ihnen eroberten Gebieten taten.

Interessant wurde es weiterhin, als die Rede auf Europa kam. Und siehe da, ich traute meinen Ohren kaum: Nach Europa werden noch viel mehr Menschen aus aller Welt einwandern, sagte Meister Grass, und das sei gut so. Was für eine Bereicherung erfahren wir durch sie! Ebenso eine Bereicherung, wie dazumal als die Hugenotten, nach Deutschland einwanderten und einen wirtschaftlichen Aufschwung bewirkten.

Über welchen doppelten Maßstab verfügt GG eigentlich? Einwanderung ist grundsätzlich gut, so lange es nicht Juden sind, die da kommen. Einwanderer nach Europa bedeuten Bereicherung und Aufschwung. Jüdische Einwanderer nach Palästina – und was für eine gewaltige Aufbauleistung sie dort vollbracht haben, kann jeder, der es will (ausgenommen allerdings GG), sehen - bedeuten Unglück und Zerstörung. Das doppelte Maß, wonach man Juden so beurteilt (und verurteilt) als seien sie etwas ganz anderes als andere Menschen, ist übrigens ein Zeichen des Antisemitismus.

Mittwoch, 1. Mai 2013

Die Stasi der Anderen

Nichts gegen den Film "Das Leben der Anderen". Man hat bei dem Film die Vorstellung, dass er geradezu für das amerikanische Publikum gedreht wurde, um dessen romantisch-abenteuerliche Vorstellung von der "Stasi" erfüllen zu können und um dann den Oscar verliehen zu bekommen. Aber ich erinnere mich noch, wie eine alte Frau aus unserer Verwandtschaft, die einige wirkliche Begegnungen mit der Stasi erlebt hat, wütend aus dem Kino kam - sie war zu diesem Film eingeladen worden -, und sagte: "So waren die nicht! Ich weiß, wie die von der Stasi waren, solche wie im Film gab es dort nicht!"

Sie selbst hatte viele Jahre zuvor etwas getan, was niemand aus ihrer Umgebung verstehen konnte. Aus Liebe hatte sie von Westdeutschland aus in die DDR geheiratet. Alles wäre zu verstehen gewesen: Aus Liebe zu sterben, aus Liebe Verbrechen zu begehen und wer weiß noch was alles. Aber aus Liebe vom Westen in den Osten zu gehen, das war unbegreiflich. Und doch gab es einige Menschen, die das getan haben. Natürlich wusste man in den 50-ger Jahren nicht, dass die Mauer einmal eine sehr plötzliche und dann dauerhaft harte Trennung von den Freunden und Verwandten bringen würde. So kam es, dass Ende der 60-ger Jahre der Vater dieser Frau sterbenskrank war. Sie wollte ihn unbedingt noch einmal sehen, und bat in schönsten Worten um eine Reiseerlaubnis nach Westdeutschland. Ihre fünf unmündigen Kinder wären doch eine sichere Garantie, dass sie zurückkomme, ihr Vater liege im Sterben, und sie möchte sich von ihm verabschieden. Und dann bekam sie die präzise und wirklich stasigemäße Antwort: "Der stirbt auch ohne Sie".

So war die DDR und so sprachen und handelten ihre Protagonisten! Diese Szene ist nicht bedeutsam, aber sie ist trotzdem wert, festgehalten zu werden, denn sie ist ein Charakteristikum einer Wirklichkeit, die komplexer ist und eben realer ist, als es romantische Filme aufzuzeigen vermögen.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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