Montag, 16. November 2020

Geschichten aus der DDR: Wie die Stasi und ich uns gegenseitig austricksten (Teil 2 Ende)

Die gerichtliche Verurteilung fand in Rostock statt. Es war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Gerichtsverhandlung ohne Publikum stattfindet, die Urteilsverkündung musste aber öffentlich sein. Rechtsanwalt Schnur hatte erwirkt, dass die Mutter bei der Verhandlung anwesend sein darf. Wir anderen Angehörigen wollten zur Urteilsverkündung dabei sein. Die Verhandlung wurde auf den frühen Morgen gelegt, wohl in der Annahme, dass es schwierig wäre, ohne Auto so früh in Rostock zu sein. Wir waren pünktlich zur Stelle, mussten dann aber zur Kenntnis nehmen, dass das Gerichtsgebäude erst ab 10 Uhr für die Öffentlichkeit geöffnet war. Das hieß, wir hatten keine Chance, der Verkündung beizuwohnen, trotz gesetzmäßigem Anspruch.

„Er müsste doch gleich mit dem Transportauto gebracht werden. Komm, wir stellen uns an den Hintereingang“, sagte ich. Auch wenn die Methoden der Stasi sonst sehr ausgeklügelt waren, so war ein Gerichtsgebäude nicht so beschaffen, dass es hermetisch dicht war. Der verrumpelte Hinterhof lag ohne Zaun und Eingangstor offen da (vielleicht waren auch Zaun und Tor da, aber alles stand offen). Der Transporter kam auch sofort, und mein Bruder stieg in Handschellen gefesselt aus. Wir johlten und riefen: „Wir sind da, lass dich nicht klein kriegen“, und schon war er im Gebäude verschwunden. Wir wollten diese Zeremonie wiederholen, wenn er das Gerichtsgebäude wieder verlässt. Der Transporter wartete, jemand versuchte uns zu verscheuchen, was nicht möglich war, da wir auf offener Straße standen. Es fuhr ein weiteres Auto vor, und ich sagte: „Wenn sie ihn jetzt ´rausbringen, könnten wir ihn nicht sehen“, denn das Auto verdeckte genau die Lücke zwischen Tür und Transporter. Wir hörten eine Tür klappen, und uns wurde klar, dass dieses Auto genau zu diesem Zweck dorthin geordert worden war.

Der Transporter machte sich auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis zurück. Da saßen wir am längeren Hebel, denn der Ausgang des Gerichts mündete auf eine vielbefahrene Straße, und um diese Zeit war besonders viel Verkehr. Der Fahrer musste lange warten. Wir trommelten auf das Auto, riefen dem Gefangenen Mut zu und freuten uns über die Nervosität des Fahrers. Bald konnte er um die Ecke biegen, und bald kam auch unsere Mutter aus dem Gerichtsgebäude. Sie erzählte, dass M. wegen „versuchter Republikflucht“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.

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