Donnerstag, 19. November 2015

Europa inszeniert sich

Nach den Anschlägen in Paris fragte ich mich: Woher kommt diese unglaubliche Empathie Frankreich gegenüber? Warum werden ausgerechnet die Morde von Paris als etwas einmaliges, fast als noch nie da gewesenes dargestellt? Nur einige Tage ist es her, dass ein russisches Flugzeug, wahrscheinlich durch eine Bombenexplosion, vom Himmel fiel, wobei mehr als 220 Menschen umkamen. Bei zwei Selbstmordattentaten in Ankara am 10. Oktober starben mehr als 100 Menschen. Was geschieht in Israel täglich? Und wie ergeht es den Menschen im Irak, bei denen die Welt es nicht einmal zur Kenntnis nimmt, wenn sie zu Dutzenden in die Luft gesprengt werden? Nie sah ich Lichtinstallationen mit der irakischen Flagge. Weder die türkische Flagge, geschweige die kurdische Flagge konnte ich nach dem Anschlag in Ankara erblicken. Auch in Afrika passieren solche Untaten fast unbemerkt.

Sicher nimmt man alles schreckliche Geschehen auf der Welt umso mehr wahr, je näher es sich dem eigenen Wohnort ereignet und je eher es einen selbst treffen könnte. Auch der Attraktivitätsfaktor von Paris mag eine Rolle spielen. Weil Paris für so vieles steht, womit sich Europa gern identifizieren möchte, zusammengefasst unter dem Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

So nimmt Europa die Morde zum Anlass zu einer großartigen Selbstinszenierung. Im Wettbewerb um besonders originelle Trauerbekundungen, rückt der Anlass in den Hintergrund. Man sieht (oder hört), dass Stars ihre Videos ins Internet stellen und sich über die Anschläge äußern, und registrieren daraufhin aufmerksam, wie viel „Likes“ der Auftritt erhält. Ist das keine Inszenierung? Auf Kosten der Getöteten? Man wetteifert um besonders moralische Schlussfolgerungen wie: ´Wir werden uns unsere Lebensweise nicht nehmen lassen, diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun!` So ein hoch moralisches Statement kann man allerdings auch als Schwäche oder Gleichgültigkeit interpretieren: Die paar Toten müssen wir eben für unsere Lebensweise in Kauf nehmen! Angeblich hat ein Angehöriger einer in Paris Umgekommenen gesagt: ´Ich hasse nicht, denn wenn ich sie dafür hassen würde, dann hätten sie gesiegt!` Vielleicht wären statt Hass auch Wachsamkeit und gute Geheimdienste, die nicht von der eigenen Bevölkerung beargwöhnt werden, adäquate Mittel gegen Terror...

Sigmar Gabriel postete auf Facebook: „Der falscheste Satz, den man in diesen Tagen sagen kann, lautet: Nach Paris ist alles anders. Nach Paris darf nichts anders sein.“ Dass Politiker ihre eigenen Statements nicht so ernst nehmen, erlebte man prompt in Hannover, wo aus Angst vor einem Terroranschlag doch „anders“ gehandelt und ein großes Fußballspiel abgesagt wurde. Dass ausgerechnet dieses Länderspiel als Demonstration dafür dienen sollte, wie man dem Terror widersteht, ist schon eine traurige Ironie für sich. So kann man beobachten, dass – wenn es darauf ankommt -, der eigene Lebenswille doch stärker ist als moralische Erhöhung und nach außen getragene Inszenierung.

Im Luftreich des Traums

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