Donnerstag, 11. April 2013

In der Ukraine, 1942

Vor einiger Zeit blätterte ich in einem persönlichen Erinnerungsbuch, das die Geschichte des von Tschechen bewohnten polnisch-ukrainischen Dörfchens B. festhielt, dessen Bewohner nach dem Krieg zwangsweise vollständig in die Tschechoslowakei ausgesiedelt worden sind. Einer dieser Ausgesiedelten hatte sich große Mühe gemacht, die Geschichte des Dorfes, in dem auch unsere Verwandte lebten, bis in die kleinsten Details zu erforschen, mit vielen Tabellen, bis hin zu allen Ernteergebnissen.

Dann stieß ich auf das Kapitel "Tragische Schicksale von Zivilisten während des Krieges". Es gab Frauen, die an Typhus gestorben sind, weil sie schmutziges Wasser hatten trinken müssen, oder einen Jungen, der nichts ahnend mit einer Panzerfaust spielte und ums Leben kam. Ein anderer Junge beobachtete beim Kühehüten Soldaten, und als er dann einigen ausgerissenen Kühen hinterher lief, wurde er von diesen deutschen Soldaten von hinten erschossen, denn wer weglläuft, der ist verdächtig.

Dann eine Familie. Ein Ehepaar und die Schwester des Mannes, die mit einem Juden verheiratet gewesen, der bereits tot war. Nun war diese verwitwete Frau zu ihrem Bruder gezogen und versteckte in der Scheune Verwandte ihres Mannes. Nach der Entdeckung hat man an der Frau ein Exempel statuiert. Sie wurde an einen Lastwagen gebunden, der dann losfuhr und die Frau hinter dem fahrenden Wagen durchs Dorf schleifte, auf den ihre gesamte Familie geladen worden war. Vor den Augen der aller Bewohner rund um´s Dorf bis zum Tode. Alles was von Wert war, hat man der Familie geraubt. Alle Erwachsenen getötet. Nur die Kinder der „rein tschechischen“ Familie konnten durch eine beträchtliche Geldsammlung der Dorfbewohner von den Deutschen losgekauft werden.

Darauf war ich beim Lesen nicht vorbereitet gewesen, so konnte ich mich nicht wappnen und so schlug es mich so um, dass ich erst nach einer Weile wieder klar denken konnte. Diese Geschichten kenne ich schon, habe so viel gelesen, dass mich nichts überrascht. Doch urplötzlich dieser konkrete Fall...

Es kommt noch vieles dazu, was damit allem im Zusammenhang zu sehen ist. Jener bayrische Kirchenmusikdirektor, der an meinen Mann schrieb, dass die Juden so lange unversöhnlich bleiben, bis sie wieder einen Holocaust erleiden werden, und überhaupt hätten die Deutschen so viele „Holocausts“ begangen, dass die Juden sich nicht einbilden sollten, sie wären die Einzigen gewesen - das ist einmal eine ungewöhnliche Variante! Und Frau E., die zu der Zeit, als jene tschechische Frau in der Ukraine hinter dem Lastwagen zu Tode geschleift wurde, ein junges Mädchen war und drei Jahre später nach dem Krieg von Tschechen kein Waschwasser bekam und sich dann in der Elbe waschen musste, und dieses sei für sie bis heute das Unbarmherzigste, was sie im Krieg erlebt habe, jedenfalls wiederholt sie es immer wieder. Und die vielen Kirchenleute, deren großes Anliegen es ist, Denkmäler zu Ehren letztlich eben auch dieser Soldaten, die Frauen am Seil hinter Lastwagen schleiften, in den Kirchen aufzustellen und zu bewahren und die beleidigt sind, wenn es auch nur kritisch hinterfragt wird. Das alles ist allgegenwärtig!

In meiner "Sprüchesammlung" ist eine Zeile aus einem Gedicht von Czeslaw Milos:

Der du dem einfachen Menschen Unrecht getan,
und darüber noch lachst,
sei nicht so sicher,
der Dichter merkt es,
du kannst ihn töten,
es kommt ein neuer.


Und das ist eine winzige Verheißung!

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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