Samstag, 18. Februar 2012

Moralkeule (1)

(Wahlweile auch Antisemitismus- und Auschwitzkeule)

In der ZEIT las ich einen Leserbrief, der jenen Ärger zum Inhalt hatte, den die deutsche Politik in Griechenland hervorruft. Dabei benutzte der Verfasser mit großer Selbstverständlichkeit den Ausdruck „Auschwitzkeule“. Ich hätte gern ebenfalls einen Leserbrief mit einer Anmerkung dazu geschrieben, aber ein Leserbrief soll für sich stehen und Zensur anderer Leser daran würde ins Unendliche führen. Bin ich es doch selbst gewohnt, dass wenn gelegent lich eine Leserbreif von mir abdrucken, dass dann in der nächsten Ausgabe ein anderer Leser umso heftiger auf mich reagiert (vielleicht mit der berühmten imaginären Keule?).

Eine Weile dachte ich über die in Deutschland so beliebten Keulen nach. Kreiert hat sie wahrscheinlich der unsägliche Martin Walser, zumindest popularisierte er sie und machte die Deutschen “gefühlt“ (auch so ein seltsamer Ausdruck) zu einem arg geprügelten Volk. Diese Keule ist wirklich eine der abscheulichsten Erfindungen der Deutschen nach 1945.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich an einem frühen Sonntag Nachmittag ins Wohnzimmer einer Bekannten kam, der Fernseher lief, und Martin Walser hielt gerade seine Rede. Bis dahin wusste ich nicht, was der Friedenspreis, geschweige denn wer Martin Walser ist. Aber ich hörte der Rede zu, verstand ihren Inhalt und fand sie so schrecklich und abstoßend, dass ich gleich meinem Mann davon erzählte und sagte: „Da muss doch etwas geschehen!“ Erschreckt hat mich an der Rede am meisten, dass sich fast die ganze die illustre Heerschar der Zuhörenden erhob und frenetisch applaudierte.

Zufällig fuhren wir am Tag darauf ins Ausland, wo noch niemand diese Rede wahrgenommen hatte. Als wir zurückkamen, waren die Diskussion und alle darauf folgenden Peinlichkeiten im vollen Gange. Im Laufe der Zeit ist die „Keule“, die in verschiedenen Variationen erscheint, fast zu einem Alltagswort geworden. Die ursprüngliche Moralkeule verwandelte sich ebenfalls in eine Antisemitismus- bzw. Auschwitzkeule.

Nun überlegte ich, in welcher Weise ich von dieser Keule habe reden hören (insbesondere auch in Leserbriefen und Foren wird sie gern benutzt). Erst einmal: Es ist eine imaginäre Keule, die anderen unterstellt wird. Derjenige, dem der Keulenschlag unterstellt wird, bezichtigt man damit gleichsam der Nötigung und der Erpressung. Der Erpresser nutze seine Überlegenheit aus - sie kann moralisch sein oder aus Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestehen -, um sein Opfer ebenfalls aus moralischen Gründen, mehr jedoch wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe, mundtot zu machen. Als Keulenmensch will offenbar niemand da stehen.

Dann: Demjenigen, der diese Metapher anwendet, ist nicht im Geringsten bewusst, dass sein Verhalten genau dem entspricht, was er seinem Widersacher unterstellt. Er ist sich sicher, dass er selbst über die Deutungshoheit verfügt. Dass der Andere ebenfalls deuten, Logik anwenden und schlussfolgern kann, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Sonst käme er darauf, dass er dieselbe Keule, die er so heftig anprangert, in Wahrheit höchst selbst schwingt: Die Keule der Erpressung und der Mundtodmachung.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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