Sonntag, 12. Februar 2012

Menschenleeres Mecklenburg Vorpommern

Wir unternahmen eine Ausflugsfahrt quer durch Mecklenburg und Vorpommern. Beide Landesteile weisen untereinander so große Unterschiede auf wie etwa Baden und Württemberg, d. h. für die Einheimischen haben sie kaum etwas miteinander gemeinsam, Fremde dagegen müssen sich anstrengen, um die Unterschiede wahrzunehmen und wissen nie genau, in welchem der Landesteile sie sich befinden. Etwas haben Mecklenburg und Vorpommern gemeinsam: Es ist die erschreckende Leere in ihren Kleinstädten. Zu meiner Freundin sagte ich, dass wir gleich durch das wunderschöne Städtchen T. fahren werden. Es ist herrlich gelegen mit einer fast original erhaltenen mittelalterlichen Stadtanlage, die nach der Wende nach einem besonderen Förderprogramm saniert wurde. „Aber es ist ein Jammer, wie es mit den Menschen dort bestellt ist…..“ Meine Schilderungen wurden augenblicklich bestätigt, denn wir fuhren die gut zwei Kilometer lange Stadtdurchfahrt entlang, auch quer über den Markt, an einem Werktag Vormittag, und wir haben nicht einen einzigen Menschen gesehen.

Vor kurzem traf ich auf die 12-jährige Armenierin L. Ich half bei der Betreuung von Kindern, die zu einem Erholungsaufenthalt hierhergekommen waren, und zu denen L. gehörte. Zuvor wurde mir gesagt, dass sie sehr klein wäre, schüchtern und ängstlich und dass sie aus der mecklenburgischen Stadt G. käme. Ich erfuhr dann, dass die Familie seit Langem in Deutschland lebt, alle drei Kinder sind hier geboren. Nun sind sie akut von der Abschiebung bedroht. Warum? Was kam den Behörden in den Sinn? Beide Eltern arbeiten, und die Mutter gibt nebenberuflich noch Klavierstunden. Ich erfuhr, dass die Mutter große Angst hat, und diese scheint sich auf die Kinder zu übertragen. Bei L. war es so, dass der ständige Druck, der auf der Familie lastet, sich auch auf sie übertragen hat. Bei dem ein Jahr jüngeren Bruder ebenso. Ich will nicht behaupten, dass ihre schmächtige Gestalt daher rührt, aber es heißt, dass Wachstum und Lebensumstände oft eng zusammen hängen.

Als wir nach kurzer Zeit ein gutes Verhältnis zueinander gefunden hatten, war L. gar nicht mehr schüchtern. Sie ging aus sich heraus, erzählte über sich und ihre Freundinnen und über die Schule. Bald kam sie auf die drohende Abschiebung zu sprechen. Sie erzählte, dass diese Vorstellung für die Familie ganz schrecklich sei und alle in Angst vor der Abschiebung leben. Sie war nie im Leben in Armenien gewesen und wollte gern dort bleiben, wo sie geboren ist. Dass sie kurz vor der beabsichtigten Abschiebung zu einem Kuraufenthalt geschickt wurde, kam mir so vor, als wenn man einem Delinquenten noch die Henkersmahlzeit verabreicht. Ich stellte mir vor, dass in ihrer Stadt, die wie jede Stadt in der Region um ihre Schulen, Kindergärten, Sportstätten kämpft, bald wieder drei Kinder weniger sein werden.

Die Abschiebung wird wohl nicht dem Buchstaben des Gesetzes widersprechen. Es passt aber nicht zusammen: Die menschenleeren Kleinstädte in Mecklenburg und die Tatsache, dass eine Familie mit drei Kindern, die ihren Lebensunterhalt selbst verdient, in so einem Städtchen nicht mehr leben darf.

Im Luftreich des Traums

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