Mittwoch, 26. Oktober 2011

Soldatenfotos

In meiner Kindheit war ich es gewöhnt, dass in "guten Stuben" zwei Sorten von Fotos die Wände schmückten: Die Hochzeitsfotos der Kinder und Enkel und die Fotos der gefallenen Angehörigen. Manchmal waren diese Soldatenfotos mit einer Trauerschleife oder einem Blumenkranz versehen, in jedem Fall war aber der Angehörige in seiner Uniform abgelichtet. Ich fand es so normal und selbstverständlich, dass ich darüber nie nachgedacht hätte.

Ich wusste: es gab Angehörige, die "gefallen" waren. Diese Tatsache wurde von keinem in Frage gestellt, es wurde nicht weiter darüber gesprochen. Da dieses Schicksal ein Massenschicksal war und auch schon einige Jahre zurück lag, klang dieses "gefallen" nicht so sehr tragisch, nur etwas wehmütig. Wenn in Bezug auf den Krieg etwa von irgendeiner "Schuld" die Rede gewesen wäre, dann sprach man manchmal von den Russen oder dem Feind oder noch Geheimnisvolleren, Unbenannten. Aber solche Sätze, wie ich sie denken würde, etwa: "Mein Angehöriger musste gegen seinen Willen in den Krieg ziehen, dort Dinge tun, die er nie wollte, er ist elend umgekommen, und die, die ihn dazu zwangen, denen geht es heute gut, und sie übernehmen für nichts eine Verantwortung", so etwas hörte ich nie.

Inzwischen sind Kriegerfotos nur noch selten an den Wänden zu sehen. Vielleicht denkt man gerade darum eher darüber nach, wenn man sie noch einmal erblickt. So erging es mir bei einem Besuch, als ich die gefallenen Brüder meiner Gastgeber in Uniform an der Wand sah.

Die für mich entscheidende Frage ist: warum denkt man an die verlorenen Angehörigen, warum trauert man um sie, in dem man sie in ihren Uniformen abgelichtet an die Wand hängt? Wenn ich einen nahe stehenden Menschen als Soldat im Krieg verloren hätte, in diesem Krieg, der brutal und barbarisch die Welt mit Mord überzogen hatte, niemals hätte ich denjenigen in einer Uniform noch mein Leben lang sehen wollen. Warum werden nicht andere Fotos an die Wand gehängt, lebendigere, authentischere? Es scheint mir, als hätten diejenigen, bei denen diese Fotos an den Wänden hängen, diesen Krieg als etwas, was so sein musste, akzeptiert und verinnerlicht. Sie stellen nicht den Krieg in Frage, nicht die Tatsache, dass ihr Angehöriger dazu gezwungen wurde und auch nicht die Tatsache, dass er darin umgekommen ist.

Diese Fotos tun den armen Gefallenen Unrecht. Bis ans Ende ihres abgelichteten Daseins werden sie nur als Soldaten wahrgenommen, sie werden dazu verurteilt, für diesen Krieg dazustehen, sie übernehmen sozusagen einen Teil der Verantwortung, selbst wenn sie möglicherweise den Krieg und das, was sie sahen, erlebten, taten, verabscheut hatten. Sie hätten es verdient, der Nachwelt als die Menschen, die sie tatsächlich gewesen sind, nahe gebracht zu werden!

Die Sache mit den Soldatenfotos ist für mich die Illustration eines Gedankens, der mir in irgendeiner Weise oft im Kopf herumgeht: Warum stellen die Leute das, was gewesen ist, nicht in Frage? Warum kommen sie nicht auf die Idee, dass man auch ganz anders hätte handeln können? Alles was war, "das musste eben so sein". Aber nicht nur das, sie zementieren das, was gewesen ist, in dem sie z.B. diese Kriegerfotos an die Wände hängen. Auf fatale Weise engen sie sich, indem sie die Vergangenheit nur auf eine ganz bestimmte Art sehen können, auch in der Gegenwart ein und machen ein freies Denken und Handeln auch für die Zukunft nicht möglich.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Noch ein Schreiben, diesmal...
12.07.2025 Infos am Morgen im DLF: „Immer wieder verzerrte,...
anne.c - 16. Jul, 17:16
Apartheit im Ökumenischen...
1 .Ein abgeschickter Brief an Bischof a.D. Bedfort-Strohm Herr...
anne.c - 8. Jul, 05:51
Reaktionen nach dem Angriff...
Dieser Beitrag wird ein wenig veraltet wirken, zu rasch...
anne.c - 1. Jul, 22:28
Presseclub
Vor der Fortsetzung der Reaktionen des Angriffs Israel...
anne.c - 24. Jun, 21:21
Reaktionen nach dem Angriff...
Die Reaktionen von offiziellen Medien und Bevölkerung...
anne.c - 21. Jun, 15:11
Nachtrag zu den Stolpersteinen
Vor Kurzem spazierte ich durch die kleine böhmische...
anne.c - 19. Jun, 23:09
Stolpersteine
Das sind diese kleinen quadratischen, messingfarbenen...
anne.c - 5. Jun, 21:28
Die Einschläge kommen...
Bis jetzt waren wir im Bekanntenkreis einigermaßen...
anne.c - 29. Mai, 14:39
Eine Zuschauermail
"Sehr geehrter Herr Prantl, als ich Sie heute bei...
anne.c - 22. Mai, 10:23
Gedenken: 80 Jahre seit...
In unserer Nachbarstadt fand eine große Veranstaltung...
anne.c - 16. Mai, 14:33

Links

Suche

 

Status

Online seit 5087 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 16. Jul, 17:18

Disclaimer

Entsprechend dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12.05.1998 gilt für alle Links und Kommentare auf diesem Blog: Ich distanziere mich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller verlinkten Seitenadressen und aller Kommentare, mache mir diese Inhalte nicht zu eigen und übernehme für sie keinerlei Haftung.

Impressum

Anne Cejp
Birkenstr. 13
18374 Zingst