Geschichten aus der DDR

Aufnahme in die Organisation der „Thälmann Pioniere“ (Teil 1)

Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Mutter mit einem 10-jährigen Mädchen an der Hand, das einen tieftraurigen Gesichtsausdruck hatte. Es war im September 1988. Sie waren gemeinsam auf den Schulhof der Schule des Kindes gekommen, um bei der Aufnahme seiner Klasse in die Organisation der „Thälmann-Pioniere“ dabei zu sein. Leider war es nicht die gesamte Klasse, die von den „Jungpionieren“ zu „Thälmann Pionieren“ aufsteigen sollte, sondern es war die gesamte Klasse minus ein Kind, eben jenes Mädchens. Nie im Leben würde sie so einer Zeremonie beiwohnen, hatte die Mutter gesagt, aber das Mädchen war brav. „Wir müssen davor noch ein Lied mit der Klasse proben, ich muss dabei sein, das hat die Lehrerin mir extra noch mal gesagt“.

In der DDR pflegte man Persönliches und Politisches unlösbar miteinander verknüpfen, denn das Politische war privat und das Private war Politisch, wie man es interessanterweise auch von linken westdeutschen Gruppierungen erfahren hat. So hatte man das Ritual der Aufnahme der Klasse in die Organisation der „Thälmann-Pioniere“ mit einer regulären Elternversammlung verquickt. Zu Beginn der Elternversammlung sollten die Kinder für die Eltern ein Programm darbieten, wobei das „Nichtpionier“-Mädchen eine Solopartie singen sollte. So wurde ihm eingeschärft, dass es vor Beginn der gesamten Veranstaltung noch einmal extra proben müsse. Danach würden alle Jungpioniere, also die gesamte Klasse minus das eine Mädchen in die Organisation der „Thälmann-Pioniere“ aufgenommen werden.

„Ach, wir gehen einfach nicht zur Chorprobe, sondern sind erst kurz vor der Elternversammlung da“, sagte leichtfertig die Mutter. Aber das Kind war pflichtbewusst. Es bestand auf der Teilnahme an der Chorprobe und war dadurch gezwungen, der anschließenden Zeremonie seiner Klassenkameraden beizuwohnen. Es war vielleicht das einzige mal, dass das Kind sich als Außenseiter empfand, weil es nicht zu den Pionieren gehörte. Damals, ein Jahr vor Ende der DDR war es nicht so wie in früheren Zeiten, dass man als „Nicht-Pionier“ stigmatisiert war. Im Gegenteil, es hörte manchmal den Ausspruch: „Du hast es gut, du musst da nicht hingehen!“. Es waren Erwachsene, die eine Stigmatisierung herbei reden wollten: „Sie machen ihr Kind zur Außenseiterin!“, wurde die Mutter angesprochen. Die Mutter, Ignorantin die sie war, hatte die Einstellung: zur Außenseiter macht man sich nicht selbst, zum Außenseiter kann man durch andere gemacht werden“.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Nach dem iranischen Angriff
Wie viele andere Menschen, haben wir den iranischen...
anne.c - 17. Apr, 17:39
Lüge und Wahrheit
Gern höre ich den Schweizer Sender „Kontrafunk“, der...
anne.c - 12. Apr, 12:59
Ein schönes Erlebnis
Wieder befand ich mich 2 ½ Tage mit meinem gut sichtbaren...
anne.c - 6. Apr, 19:42
Warum? – Die ewige Frage
„Es wird keine Geisel befreien, wenn Kinder derzeit...
anne.c - 29. Mär, 10:16
„The Zone of Interest“
Schon 2012 schrieb ich https://luftreich.twoday.n et/20120722/...
anne.c - 23. Mär, 13:40
Erlebnisse mit Israel-Fahne
Die Erlebnisse, die man selbst hat, sind immer interessanter...
anne.c - 16. Mär, 21:49
Nachbetrachtungen zum...
In dem Buch „Jahrhundert der Wölfe“ von Nadeshda Mandelstam...
anne.c - 7. Mär, 21:19
Arye Shalicar und die...
Jeden Abend hören wir den Podcast von Arye Shalicar....
anne.c - 26. Feb, 20:43
Als unredigierte Kommentare...
Als unredigierte Kommentare im Internet können solche...
nömix - 19. Feb, 12:10
Leserbrief in Zeitungen
Der 7. Oktober 2013 war ein Schock. Nicht weniger schockierend...
anne.c - 17. Feb, 17:59

Links

Suche

 

Status

Online seit 4629 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 18. Apr, 15:24

Disclaimer

Entsprechend dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 12.05.1998 gilt für alle Links und Kommentare auf diesem Blog: Ich distanziere mich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller verlinkten Seitenadressen und aller Kommentare, mache mir diese Inhalte nicht zu eigen und übernehme für sie keinerlei Haftung.

Impressum

Anne Cejp
Birkenstr. 13
18374 Zingst