Bemerkenswert

Dieses Wort benutze ich nicht allzu oft. Doch die Stunde mit dem 8-jährigen Nachbarsenkel Kalle könnte ich mit diesem Begriff bezeichnen. Schon im vorigen Jahr war dieser Junge zu mir gekommen und webte auf einem Kinderwebstuhl „das längste zusammenhängende Stück“, das je ein Kind bei mir gewebt hat, nämlich 4,20 m lang. Ich hatte ihn als kindlich, hoch intelligent und humorvoll in Erinnerung und willigte gern ein, als er sich wünschte, in diesen Ferien nun in gleicher Breite in gleichen Schussfarben eine Verlängerung die möglichst nicht erkennbar ans erste Stück genäht werden soll, zu weben. Die Umstände drum herum wären eine Geschichte für sich, ich beschränke mich auf das, was ich als „atemberaubend“ empfand.

Wir hatten uns auf „täglich eine Stunde“ geeinigt, was er gewissenhaft einhielt. Er sprach wie viele Jungen in diesem Alter fast ununterbrochen und konnte sich dabei recht gut auf seine Arbeit konzentrieren. Er erzählte unter anderem, dass sein Großvati gesagt hätte, Fernsehen mache dumm, aber das stimmte nach Auffasung des Jungen nicht. Denn er und seine Brüder schauen immer „Galileo“ und daraus wird man schlau. Abgesehen davon, dass er sehr intelligente „Nebenbemerkungen“ machte - ich bekomme sie kaum noch zusammen -, fing er dann zu erzählen an, wie er: "Fritz gestern mit Erlaubnis von dessen Vater über Hitler und Stalin aufgeklärt hat". Es begann damit, dass diese kleinen Burschen sich darüber unterhielten, dass es noch viel Schlimmeres geben könne, als das was im „Herz“ möglich ist (ich fragte ungläubig: Wie meinst du das?, und er zeigte auf seine Brust), und dann hatte Kalle dem Cousin erklärt: Das Schlimmste, was es je auf der Welt gegeben hätte, sei ´Hitler´ gewesen, aber seit vorvorgestern (er war gerade mit seinen Eltern aus Lettland zurück gekommen) weiß er, dass es noch einen gegeben habe, der fast ebenso schlimm gewesen sei, nämlich Stalin. Ich befürchtete, dass er sich Wissen auf „Galileo“ angeeignet hätte - was auch immer das sein möge - und fragte ihn danach, aber er sagte, er habe das von verschiedenen Seiten erfahren. Und dann äußerte er seine Verbitterung darüber, dass Stalin wohl an Altersschwäche gestorben sei, Hitler dagegen habe sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Diese Vorstellung fand er noch einigermaßen erträglich. Danach ging es zum Glück mit eifrigen Betrachtungen über Web-Dauer pro cm und Minute usw. weiter. Pünktlich um 7 Uhr als ich ihm anbot noch einige Minuten weiter zu machen, weil wir uns zu sehr verplaudert hatten und nicht alles geschafft war, was er sich vorgenommen hatte, eilte er davon, weil sein Cousin auf ihn wartet. Ich war zu nichts mehr fähig, außer um das aufzuschreiben.

Und ich dachte. ´Auf dass so viel „Herz“ und Intelligenz nicht in die falschen Hände geraten und er bitte eine gute Grundlage dafür finden möge!´. Und ich war beeindruckt davon, wie das Denken "daran" noch über Generationen die Menschen - so oder so – in Atem hält.

Geschrieben am 19.8.2016
Gewidmet Henryk Broder zum 70. Geburtstag am 20.8.2016

Nach kurzer Diskussion habe ich meine ursprüngliche Überschrift berichtigt. Dass Jungen in diesem Alter Gesprächsthemen und -inhalte haben, von denen wir Erwachsenen nichts ahnen, weiß ich aus langjähriger Arbeit mit Kindern. Man sollte sie bemerken, und bemerkenswert sind sie auf jeden Fall.

Im Luftreich des Traums

gegen Ideologien

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